Erinnerung an koloniale Verbrechen - Wie geht es mit dem Neuköllner "Hererostein" weiter?

Fr 12.01.24 | 08:17 Uhr | Von Oliver Noffke
  7
Der sogenannte "Hererostein" auf dem Friedhof am Columbiadamm in Berlin-Neukölln (Quelle: rbb24/Oliver Noffke)
Bild: rbb24/Oliver Noffke

Vor 120 Jahren führte das Kaiserreich einen Vernichtungskrieg im heutigen Namibia. In Neukölln erinnert ein Stein an gefallene Deutsche. Die Zehntausenden ermordeten Herero und Nama werden nicht erwähnt. Das soll sich ändern. Von Oliver Noffke

Schon der Name sei falsch, sagt Israel Kaunatjike. "Das ist gar kein Hererostein. Das ist ein Stein, der die kaiserliche Schutztruppe ehrt." Kaunatjike ist Herero, seit 1970 lebt er in Berlin. Fast ebenso lang setzt er sich für ein würdiges Gedenken an jenen Krieg ein, mit dem das Deutsche Reich seine Bevölkerungsgruppe und die der Nama vernichten wollte.

In der Hauptstadt erinnert einzig ein zentnerschwerer Findling an die deutsche Besatzung im heutigen Namibia: der sogenannte "Hererostein" auf dem Friedhof am Columbiadamm in Neukölln. Er ist sieben Freiwilligen gewidmet, die zwischen 1904 und 1907 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika gefallen sind. In dieser Zeit verübte die Schutztruppe, also der militärische Arm der Kolonialmacht, grausame Verbrechen.

Vertreibung, Diskriminierung, Gewalt

Seit der Gründung der Kolonie im Jahr 1884 hatte das Kaiserreich seinen Einfluss mit Gewalt ausgeweitet. Für Siedlungen, Bergbau und insbesondere für Farmen wurde Land beschlagnahmt. Die Herero etwa, die traditionell von der Viehzucht lebten, verloren den Zugang zu Weidegründen, Konflikte mit bewaffneten Farmern häuften sich. Selbst schwere Verbrechen an ihnen wie Mord oder Vergewaltigung wurden äußerst nachlässig verfolgt, wenn die Täter Weiße waren. Durch rassistische Gesetze und Verordnungen waren die Einheimischen zudem struktureller Diskriminierung ausgesetzt.

Am 12. Januar 1904 schlugen die Herero angeführt von Samuel Maharero zurück. Sie umzingelten den Ort Okahandja, kappten die Telegraphenverbindung nach Windhuk und zerstörten eine Eisenbahnbrücke. "Der 12. Januar 1904 ist ein ganz wichtiger Tag für uns", sagt Israel Kauntajike. "Der Aufstand der Herero ist für uns eine Heldentat, das ist ein Befreiungskrieg gegen die deutsche Besatzung." Um den Widerstand zu ersticken, wurde die Schutztruppe mit Tausenden Marinesoldaten verstärkt. Über Monate gab es Gefechte.

Als Wendepunkt gilt die Schlacht am Waterberg. Im August versammelten sich Tausende Herero-Kämpfer mit ihren Familien an einem Plateau. Um die 60.000 sollen es insgesamt gewesen sein, dazu ihre Viehherden. Die Truppen des Kaisers kreisten sie ein und versuchten die Schlinge zuzuziehen. Ein Bruchteil der Herero konnte sich in die wasserlose Omaheke retten. Woraufhin die Schutztruppe die Wüste abriegelte – ein sicheres Todesurteil. Im Laufe des Kriegs wurden die Nama, die sich ebenfalls gegen die Besatzungsmacht zur Wehr setzten, auf ähnliche Weise verfolgt und getötet.

Schätzungsweise 100.000 Menschen wurden von deutschen Truppen ermordet, sind im Wüstensand verdurstet oder in Konzentrationslagern verendet. Viele Historiker:innen sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Sie beziehen sich dabei unter anderem auf zwei Proklamationen des deutschen Kommandeurs Lothar von Trotha an die beiden Völker, die Vernichtungsbefehlen gleichkommen. Seit dem Frühjahr 2021 spricht auch das Auswärtige Amt von einem Genozid.

Von all dem erzählt der Stein in Neukölln nichts.

Kränze und rote Farbe

Ursprünglich befand sich der hüfthohe Findling auf dem Gelände einer Kaserne an der Urbanstraße, die vor einhundert Jahren aufgelöst wurde. 1973 ließen Veteranenvereine ihn auf den Friedhof am Columbiadamm umsetzen und erweitern. Das Emblem des Verbands Deutscher Afrika-Korps wurde eingraviert; ein Verein, der von Wehrmachtssoldaten gegründet wurde, die in Nordafrika gekämpft hatten.

Der Berliner Herero-Aktivist Israel Kaunatjike (Quelle: rbb24/Oliver Noffke)

Ihm wurde ein kleinerer Stein hinzugestellt, der deutschen Soldaten gewidmet war, die während der beiden Weltkriege in Afrika gefallen sind. Das Ensemble war lange als "Afrikastein" bekannt. Heute steht der Findling wieder allein. Der Kleinere wurde 2005 gestohlen und ist seither verschollen.

Seit Jahrzehnten gibt es Proteste von Bürgerinitiativen. Sie kritisieren, dass der Gedenkstein Täter als Helden bezeichnet und zu den Opfern schweigt. Statt koloniales Unrecht zu verdeutlichen, biete er einen Ort, an dem Nationalisten und Rechtsextreme Kränze niederlegen, so die Gegner. Mehrfach kippten Unbekannte rote Farbe auf den Granit.

Mit guten Absichten verschlimmbessert

"Mir ist es wichtig, dass Neukölln der Verantwortung gerecht wird, die mit so einem Gedenkstein einhergeht, der bis zum heutigen Tag Täter des Völkermordes an den Herero und Nama ehrt." Tjado Stemmermann sitzt für Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Auf seinen Antrag wurde vor einem Jahr beschlossen, dass die Stelle auf dem Friedhof umgestaltet werden soll [berlin.de/ba-neukoelln].

"Der Stein ist aus meiner Sicht da fehl am Platz und gehört eher ins Museum." Bereits 2009 hatte die Neuköllner BVV den Ort schon einmal umgestaltet, beziehungsweise "verschlimmbessert", sagt Stemmermann.

Vor dem Stein liegt seitdem eine Marmorplatte mit dem Umriss Namibias. Es wird an die Opfer von Gewalt während des Bestehens der Kolonie gedacht, "insbesondere des Kolonialkrieges von 1904 – 1907". Aber weder Herero noch Nama werden erwähnt, auch von Unrecht oder Völkermord ist keine Rede. Stattdessen ein Zitat von Wilhelm von Humboldt. "Was hat Humboldt mit uns zu tun?", fragt Israel Kaunatjike.

Zudem findet wenig Gegenliebe, dass die Platte am Fuße des dominierenden Felsbrockens platziert wurde. Liegt Schnee oder Laub, verschwindet sie. "Deshalb war es aus meiner Sicht an der Zeit, das Gedenken ins 21. Jahrhundert zu bringen", sagt Stemmermann, "und das kann nur mit der Entfernung dieses Steins geschehen."

Versenken? Nach Spandau?

Matthias Henkel ist Leiter des Museums Neukölln und im Bezirksamt unter anderem für Erinnerungskultur zuständig. Er kann sich vorstellen, dass der Stein versetzt wird, zum Beispiel in die Zitadelle Spandau. "Dort gibt es eine Ausstellung, in der viele, ich sage jetzt mal, aus der Zeit gefallene Denkmale aufbewahrt werden." In der Zitadelle ist unter anderem der übergroße Kopf einer Lenin-Statue zu sehen, die auf dem heutigen Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain stand. Festlegen möchte sich Henkel aber nicht.

Seit 50 Jahren protestieren wir gegen diesen Stein. Es wird Zeit, dass er verschwindet.

Israel Kaunatjike

Aktuell finden im Museum Neukölln regelmäßig Diskussionsveranstaltungen in der Sache statt. "Wir wollen die Stimmungen, Ideen und berechtigte Bedürfnisse einfangen", sagt Henkel, "und fragen: Wie können wir gemeinsam eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu den kolonialen Verbrechen entwickeln?" Ein Besucher habe vorgeschlagen, den Stein einfach zu versenken. Er verstehe, sagt Henkel, das Leute fragen, ob ein städtischer Friedhof die richtige Stelle für diesen Stein ist? "Das ist ja nur der Ort, den die Geschichte bislang dafür vorgesehen hat." Wirklich entschieden worden, sei darüber schließlich nie.

Bis Juli zeigt das Museum die Installation einer namibischen Künstlerin. Geisterhafte, weiße Masken, die aus rotem Sand herausragen, "Buried Memories" - begrabene Erinnerungen. So lange die Ausstellung läuft soll das Museum die Ideen bündeln. Daraus soll das Bezirksamt einen Vorschlag zur Umgestaltung formulieren und der BVV vorlegen. Für den 31. Januar ist die nächste Diskussionsrunde angesetzt.

Berlin brauche ein Mahnmal, das sich mit den Verbrechen in den deutschen Kolonien auseinandersetzt, findet Israel Kaunatjike. "Wir haben keinen Gedenkort wie die Opfer des Nationalsozialismus, die Juden oder die Sinti und Roma", sagt Kaunatjike. "Dass an Kolonialismus, an die Kriege und den Sklavenhandel nicht erinnert wird, ist eigentlich ein Skandal."

"Ein zentraler Gedenk– und Informationsort für die Opfer des Kolonialismus auch in Deutschland wäre aus Sicht des Auswärtigen Amts zu begrüßen", heißt es auf Anfrage von rbb|24. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und die Berliner Landesregierung müssten dies realisieren. So lange ein solches Mahnmal nicht existiert, bleibt der Friedhof am Columbiadamm wohl der einzige Ort, der an den Krieg in Namibia erinnert.

Israel Kaunatjike findet, dass künftig eine Tafel erklären könnte, wie der Findling an diese Stelle kam - so lange er versetzt wird. "Seit 50 Jahren protestieren wir gegen diesen Stein", so Kaunatjike. "Es wird Zeit, dass er verschwindet."

Beitrag von Oliver Noffke

7 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 7.

    Ich denke wir,brauchen weniger Mahnmale als Aufklärung und Wissensvermittlung über geschichtliche Zusammenhänge.Zu meiner Schulzeit waren die kolonialen Verbrechen des deutschen Kaiserreiches und der Kampf der Hereros durchaus Thema im Geschichtsunterricht und es gab durchaus keine Heroisierung der deutschen Kolonialisten. Diesen Stein sollte man tatsächlich in der Versenkung verschwinden lassen.Den Hereros sollte man dafür einen besonderen Platz im Museum im Schloss einräumen .

  2. 6.

    Ich sehe am Nachbau des Berliner Schlossbaus nichts Martialisches, vielmehr vom Fassadenschmuck den Bauten entlang der Straße "Unter den Linden" Verwandtes. Wer die "Linden" wieder hergestellt hat - wie das nach dem Krieg ausnahmslos alle Architekten gleich aller Coleur befürwortet haben - kann ihren Ausgangspunkt schlechterdings nicht außer Acht lassen. Die Trilogie Schloss - Unter den Linden - Brandenburger Tor kann nur um den Preis einer Geschichtsfälschung aufgetrennt werden.

    Bei Friedrich hoch zu Ross sehe ich das schon etwas anders. Ein Halbsockel hätte da auch gereicht, auch zu DDR-Zeiten, um deutlich zu machen, Menschen nicht über Gebühr in die Höhe zu heben. Das wäre ein guter Kompromiss gewesen. Lenin aber hätte mindestens 15 Meter "eingegraben" werden müssen, um das Martialische zu nehmen.

  3. 5.

    Es ist so wichtig, über diese Themen zu berichten und wie die waren Opfer bislang ignoriert wurden.

  4. 4.

    zw.Versuch:Ich stellte die Frage, wo sieht der Interviewte die Grenze zw. Geschichte erklären u. Bilderstürmerei? Denn, wenn der Stein verschwinden soll, die Geschichte, der Anlass, wenn auch aus heutiger Sicht schon fragwürd., was uns aber freuen sollte, dass wir eine umfassendere Sicht darauf haben, bleibt! Ist das nicht:wegschieben, abschieben, verdrängen? Zu diskutieren wäre doch eher, warum man die Erkärungstafel so angebracht hat u. nicht anders?Und würde man der Geschichte nicht mehr Aufmerksamkeit zuwenden, indem man den Stein freihält von Vandalismus u.Schmierereien? Geschichte sollte schon im Öff. Raum sein. Dieser Stein ist da, eigentlich eher unauffällig, u. doch hat er etwas zu erzählen. Wenngleich ich insgesamt die Aufstellung v.irgendwelchen Denkmalen/Stelen nicht zwingend begrüße (Wippe!). Ein sehr schönes-ästhetisches, aber auch sehr beweg.trauriges Denkmal z.Gedenken an die ermord. Sinti u. Roma haben wir! Und das muss bleiben,egal, was da gebaut werden soll o. nicht!

  5. 3.

    "Dominanz beanspruchende Denkmäler sollten verschwinden." Ein schöner Satz.
    Da könnte man doch gut mit dem Stadtschloss-Nachbau der Preußen bzw. Hohenzollern anfangen.
    Im Original ein herausragendes Beispiel und Zeugnis der deutschen Geschichte. Als Repräsentationsort von mächtigen Fürsten, Königen und Kaisern, die ja alle mehr oder weniger Dreck am Stecken hatten. Oder wo ziehen Sie Grenzen?
    Naja, Traditionserhaltung muss eben sein, so oder so.

  6. 2.

    Ich sehe dieses 'gefallene' Denkmal nicht in der Zitadelle Spandau, eher könnte sich das Stadtmuseum Berlin im Sinne der Geschichte Berlins dem annehmen und im Rahmen der Dekoloniale bearbeiten.

  7. 1.

    Für Verbrechen und für Umstände, die heute glücklicherweise völlig anders gesehen werden als seinerzeit, gibt es eine ganze Bandbreite des Umgangs. Keine einzige davon ist m. E. pauschal richtig oder pauschal falsch.

    Dominanz beanspruchende Denkmäler sollten von den entsprechenden Stellen verschwinden - deshalb war der Abbau der fast 20 Meter (!) hohen Lenin-Statue vollkommen richtig, weil eine derartige Überhöhung einer Person in einer Gesellschaft der Gleichen schlichtweg nichts zu tun hat. (Eine Kritik gab es auch schon vorher von Bildhauern). - Andere Steine und Denkmäler sollten kommentiert werden: In der Nähe des Fernbahnhofs Hmb-Dammtor ist der 76er Koloss mit einem Gegendenkmal von Alfred Hrzedlicka kommentiert worden, das Hochhalten des unkritischen Soldatentums findet seine Antwort im Feuersturm.

    Der völlig selbstverständliche Raub der Bodenschätze, die Installierung europäischer Inseln auf anderen Kontinenten mitsamt aller Tötungen braucht eine Thematisierung.

Nächster Artikel