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Video: rbb|24 | 07.01.2022 | Material: Abendschau | Quelle: dpa/David Inderlied

Berliner Impfkampagne unter Giffey

Sind Menschen mit Migrationsgeschichte wirklich impfskeptischer?

Die Impfkampagne muss mehr in die sozialen Brennpunkte gehen, sagt Berlins Regierende Bürgermeisterin Giffey – und suggeriert, dass vor allem unter Menschen mit Migrationshintergrund Impfskepsis vorherrscht. Doch ist dem so? Von S. Schöbel

Dass sie einmal Bezirksbürgermeisterin von Neukölln war, erwähnt Franziska Giffey gern. Es soll zeigen, dass sie als Regierende Bürgermeisterin von Berlin auch die Realität jenseits des Roten Rathauses kennt, in den Bezirken und vor allem in den sozialen Brennpunkten. Darauf spielte Giffey nun auch an, als sie nach ihrer ersten Senatssitzung über die Ausweitung der Impfkampagne sprach.

Die müsse verstärkt Menschen ansprechen, "die wir bisher auch in deutscher Sprache nicht so gut erreichen". Explizit nannte Giffey neben Neukölln auch den Wedding und die Heerstraße Nord in Spandau, "dort, wo wir große soziale Schwierigkeiten haben". Wen sie damit meinte, machte Giffey ebenfalls klar, wenn auch nicht direkt. "Die Frage der Inanspruchnahme des Impfens ist auch eine integrationspolitische Frage", so die SPD-Politikerin. Manche Menschen bräuchten eine "persönliche Ansprache im direkten Umfeld", am besten durch Vertrauenspersonen. Man habe bereits gute Erfahrung mit Imamen gemacht, schob sie noch hinterher. "Ich weiß genau, über welche Familien wir hier sprechen", so Giffey.

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Auch Drosten spricht von Impfskepsis unter Migranten

Dass Menschen mit Migrationshintergrund seltener zum Impfen gegen das Coronavirus gehen, ist eine Behauptung, die schon länger im Raum steht. So hatte unter anderem der Berliner Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast "Coronavirus Update" gesagt, dass vor allem die "alten, informationsfernen Personen" ungeimpft seien. "Das sind Leute mit Migrationshintergrund. Das sind bildungsferne Leute, die älter sind, die müssen unbedingt geschützt werden." Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte zuletzt erklärt, dass Menschen, die selbst oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind, etwas seltener geimpft seien als Menschen ohne Migrationshintergrund. Grundlage war unter anderem eine Befragung im September und Oktober von über 3.000 Erwachsenen. Diese Datengrundlage hat jedoch einen Haken: Die bundesweite Befragung fand nur auf Deutsch statt. Das RKI will das korrigieren und Ende Januar neue Daten vorlegen.

"Es gibt keine Studie, die Menschen mit Migrationsgeschichte Impfskepsis zuweist", sagt Katarina Niewiedzial, Berlins Integrationsbeauftragte, auf Nachfrage des rbb. Das liege auch an der lückenhaften Datenlage: Bei Impfterminen werde weder die Religionszugehörigkeit noch die ethnische Herkunft abgefragt. Befragungen wiederum würden zeigen, dass Migranten eben nicht mehrheitlich impfskeptisch seien, so Niewiedzial, ganz im Gegenteil. Das belege auch der Blick auf die Straße. "Die Verteilung der Impfgegner:innen in der Bundesrepublik deutet darauf hin, dass nicht die Bundesländer mit dem höchsten Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte betroffen sind, wie Thüringen oder Sachsen."

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Impfquote unter Kindern mit Migrationserfahrung oft höher

Auch Reinickendorfs Amtsarzt Patrick Larscheid kann nicht bestätigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund generell impfskeptischer seien. Solche Mutmaßungen seien "nicht hilfreich", sagte Larscheid dem rbb. Weder Religionszugehörigkeit noch ethnische Herkunft würden beim Impfen abgefragt. Zudem gebe es aus der Praxis, etwa den Standardimpfungen bei Schuleingangsuntersuchungen, andere Erfahrungen. "Wir sehen zum Beispiel bei den Kinderimpfungen, dass gerade in migrantischen Communities die Impfquoten oftmals viel besser sind als bei den Kindern, die in der soundsovielten Generation in Deutschland leben und Eltern haben, die sich auch als Deutsche empfinden."

Gesundheitsexperten anderer Bezirke bestätigten rbb|24 diese Beobachtung. Dass die corona-unabhängige Impfquote unter Kindern mit Migrationshintergrund zuletzt gesunken sei, hänge mit der Vielzahl der Flüchtlinge aus Krisengebieten seit 2015 zusammen: Den Kindern fehlen nach der Flucht oft die notwendigen Impfnachweise, deswegen würden sie häufiger als ungeimpft gezählt.

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Neue Studie in Steglitz-Zehlendorf: Armut ist entscheidend

Das Manko, zu wenig über Impfbefürworter und Impfskeptiker zu wissen, wollte nun der Bezirk Steglitz-Zehlendorf wenigstens ansatzweise beheben. Die Gesundheitsverwaltung hat eine eigene Sozialstudie zur Pandemie durchgeführt. Bald soll sie in einem Fachmagazin veröffentlicht werden, dem rbb liegt das Papier bereits vor. Erstmals wird hier auf Berliner Bezirksebene untersucht, wie die Pandemie verschiedene gesellschaftliche Gruppen betrifft. Ein Expertenteam der Gesundheitsverwaltung schaute sich dafür an, wo in Steglitz-Zehlendorf von März 2020 bis September 2021 Corona-Infektionen festgestellt wurden. Die Ergebnisse verglich das Team mit Sozialstatistiken, die der Bezirk für jeden einzelnen Kiez führt. "Armut geht oft mit einem schlechteren Gesundheitsstatus einher", fasst Gesundheitsstadträtin Carolina Böhm die Studie zusammen. "Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt." Benachteiligte Menschen, die mit wenig Einkommen und auf engstem Raum leben, seien besonders stark von Corona betroffen, haben ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe und sterben häufiger an oder mit Covid19.

Impfbus vor einem muslimischen Gemeindehaus in Berlin | Quelle: picture alliance/dpa | David Inderlied

Als die erste Coronawelle auch durch Steglitz-Zehlendorf schwappte, sei das Virus vor allem durch Winterurlauber in den Bezirk getragen worden. Die höchsten Infektionszahlen gab es demnach im eher dünn besiedelten Westen des Bezirks, wo vor allem Menschen mit höheren Einkommen leben. In den folgenden drei Infektionswellen aber verschob sich das Infektionsgeschehen in den Osten und Südosten des Bezirks. Dort leben besonders viele Menschen, die von Sozialleistungen abhängig sind, in schlecht bezahlten aber dennoch oft systemrelevanten Jobs ohne Homeoffice-Option arbeiten und auf den ÖPNV angewiesen sind. Und ja: Viele von diesen sozial benachteiligten Menschen haben auch einen Migrationshintergrund.

Impfzentrum Messe in Berlin verzeichnet Impf-Rekord

Die deutsche Impfkampagne läuft nun seit einem Jahr. Franzi von Kempis, Leiterin des Malteser-Impfzentrum Messe, sagte, mit gut 4800 Impfungen am 27. Dezember habe das Impfzentrum einen Rekord verzeichnet.

Hohe Impf-Nachfrage in der Thermometersiedlung

Dass sie deswegen auch impfskeptischer sind, lasse sich allerdings nicht belegen. Vielmehr komme es darauf an, die Menschen mit Impfangeboten auch zu erreichen, sagt die Medizinsoziologin Theda Borde von der Alice Salomon Hochschule Berlin. Oft reichten schon Sprachbarrieren, um die Impfung zu erschweren. "Wir wissen, wie schwierig es in Berlin war, die Impftermine für die ersten beiden Impfungen zu bekommen und das dafür neben Deutschkenntnissen auch eine sehr hohe digitale Kompetenz nötig war." Der Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit sei schon lange belegt, so Borde. "Diese Erkenntnisse sind nicht oder nur unzureichend in die Maßnahmen zur Prävention von Covid19 Infektionen eingeflossen."

Wie es gehen kann, hat laut der Studie in Steglitz-Zehlendorf eine Sonderimpfaktion im Mai 2021 in der Thermometersiedlung gezeigt. Der Ausländeranteil liegt hier mit 24 Prozent weit über dem Berliner Durchschnitt. Als zwei Monate später die vierte Infektionswelle heranrollte, stand die Thermometersiedlung bei der Infektionsrate besser da als etwa Dahlem, Krumme Lanke und Zehlendorf. "Das war für uns das großartigste Ergebnis dieser Studie", sagt Böhm. "Dass in der Thermometersiedlung durch diese Impfaktion die vierte Welle wesentlich schwächer ausgefallen ist als in den anderen Bezirksregionen. Die Leute haben das Angebot angenommen."

Sendung: Abendschau, 06.01.2022, 19:30 Uhr

 

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Beitrag von Sebastian Schöbel

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