Hauptstadtderby | Analyse - Union hebelt Herthas rechte Seite aus

Die sportlichen Verhältnisse in der Hauptstadt bleiben klar. Der 1. FC Union gewann zum Bundesliga-Auftakt hochverdient gegen Hertha BSC. Auch weil Trainer Urs Fischer sein Team eine Schwachstelle in Herthas Abwehr angreifen ließ. Von Till Oppermann
Ketwurst mit Schultheiß-Bier, am S-Bahnhof Ostkreuz trafen sich schon um 11 Uhr Ost und West. Es ging freundlich zu. Anders als in den vergangenen Jahren verhinderte der Spielplan, dass sich die Spannung zwischen dem 1. FC Union und Hertha BSC schon Wochen vor dem Ortsderby aufbauen konnte.
Und tatsächlich fühlte sich das Duell um die Stadtmeisterschaft am Samstag anders an als vorherige Begegnungen. Hatte es beim ersten Erstligaduell im Herbst 2019 noch Leuchtraketen der Hertha-Fans und einen Platzsturm der Unioner gegeben, beließen es die Kurven heute bei einigen Rauchtöpfen. Nachdem die Hertha-Ultras ihren Spielern im April nach der Heimniederlage gegen Union noch die Trikots abgenommen hatten, verabschiedeten sie ihre Mannschaft am Samstag mit warmem Applaus.
Hertha verliert verdient
Der neue Trainer Sandro Schwarz freute sich: "Die Fans haben nach dem Spiel überragend reagiert." Sportlich hatten die Spieler das wahrlich nicht verdient. Union gewann die Partie hochverdient mit 3:1 und traf während der 90 Minuten in der Alten Försterei selten auf echte Gegenwehr der Herthaner. Für seine Mannschaft hatte Schwarz dementsprechend kein Lob übrig. Der Kern sei es, sich gegenseitig zu helfen und sich zu unterstützen, erklärte er, aber: "So kritisch und ehrlich müssen wir sein: Das haben wir heute nicht gezeigt."
Hertha verlor verdient, dass illustrieren Statistiken wie 19:7 Torschüsse, 113,4 zu 108,9 gelaufene Kilometer und 53 zu 47 Prozent gewonnene Zweikämpfe – jeweils für Union. Mit dem vierten Derbysieg in Serie sorgten die Köpenicker bei der Frage um die sportliche Vorherrschaft in der Stadt endgültig für klare Verhältnisse.
Fischer erkennt Schwäche
Trotz der Aufbruchstimmung rund um die Wahl des neuen Vereinspräsidenten Kay Bernstein und drei Neuzugängen in der Startelf erinnerte Herthas Leistung erschreckend an die Vorsaison, als eine verunsicherte und schlecht eingespielte Mannschaft über Monate dem Abstieg entgegentaumelte.
"Hertha macht es besser als in der Saison vorher", beschwichtigte Union-Kapitän Christopher Trimmel nach der Partie, aber trotzdem gelang es dem Trainerteam um Urs Fischer, auf Herthas Seite eine klare Schwäche auszumachen. Schon in den ersten Minuten spielte Unions Dreierkette mit Paul Jaeckel, Robin Knoche und dem Neuzugang Diogo Leite immer wieder Diagonalbälle hinter Herthas neuen Rechtsverteidiger Jonjoe Kenny.
Herthas rechte Seite war anfällig
Auch im Kurzpassspiel versuchten es die Eisernen wiederholt über Herthas rechte Seite. Unions Julian Ryerson, der als Schienenspieler auf der linken Seite spielte, zog wiederholt mit einfachen Körpertäuschungen an Kenny vorbei in die Mitte und hatte den Ball auf seinem starken Fuß. Nur eine Flugeinlage von Hertha-Keeper Christensen verhinderte in der 26. Minute nach einem Ryerson Fernschuss das 1:0 für die Gastgeber.
Dass Union sieben Minuten später über diese Seite zur Führung kam, war folglich keine Überraschung. Der ebenso schnelle wie kreative Sheraldo Becker brach auf dem linken Flügel durch und servierte seinem Sturmpartner Jordan Siebatcheu mit seinem schwachen Fuß eine butterweiche Flanke, die der US-Boy zu seinem ersten Bundesligator ins Netz köpfte.
Herthas Probleme liegen tiefer
Kenny machte keine gute Figur, aber es wäre unfair, ihm allein anzukreiden, dass Union kurz nach dem Seitenwechsel erneut über seine Seite zum Tor kam. Denn bevor Janik Haberer Becker in der 50. Minute mit einem feinen Lupfer das 2:0 auflegte, verpassten es vor ihm auch Herthas Vorbereitungs-Gewinner Dodi Lukebakio und Routinier Kevin-Prince Boateng ihre Gegenspieler zu stellen.
Grundsätzlich scheinen die Probleme der Alten Dame weiterhin schwerwiegendere zu sein als nur eine überforderte rechte Abwehrseite. "Uns haben hier Qualität und Intensität gefehlt, wir waren nicht so da, wie es gefordert gewesen wäre - das war nicht gut genug", analysierte Torhüter Oliver Christensen. Damit traf er den Nagel auf den Kopf.

Ein Fünkchen Hoffnung für Hertha
Spätestens nach Beckers 2:0 war das Spiel entschieden. Als dann auch noch Robin Knoche per Kopf das 3:0 erzielte, hätte man sich für die Herthaner gewünscht, dass eine Regel aus dem Boxen angewendet wird. Denn in dieser Sportart werden Kämpfe, bei denen sich ein Teilnehmer nicht mehr wehren kann, abgebrochen. Schiedsrichter Marco Fritz hielt sich an die FIFA-Regeln und ließ die letzten 30 Minuten spielen, in denen Union die Partie verwaltete.
"Wenn du drei bekommst und hoch hinten liegst, ist es nicht einfach, gegen die Wand zu rennen", entschuldigte sich Hertha-Kapitän Marvin Plattenhardt. Man müsse positiv bleiben, ergänzte Lukebakio. Sein Ehrentreffer kurz vor Schluss könnte den Herthanern wenigstens etwas Hoffnung für die kommenden Partien geben. Gemeinsam mit den eingewechselten Neuzugängen Wilfried Kanga und Chidera Ejuke deutete Hertha an, dass in dieser Saison mehr Tempo im Kader steckt als im Vorjahr. Den Fans wird jeder Strohhalm recht sein, der sie vor einer weiteren Saison im Absteigsstrudel rettet.
Sendung: rbb24 Inforadio, 06.08.2022, 20:15 Uhr