Spielanalyse von Hertha gegen Mainz - Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Sa 17.09.22 | 11:03 Uhr | Von Marc Schwitzky
  3
Hertha-Spieler Lucas Tousart (vorn) jubelt nach einem Treffer gegen Mainz 05. (Quelle: imago-images/Matthias Koch)
Audio: Antenne Brandenburg | 17.09.22 | Detlev Lindner | Bild: imago-images/Matthias Koch

In allerletzter Sekunde kassiert Hertha BSC in Mainz den bitteren Ausgleichstreffer. Das 1:1 war das Resultat des Verfallens in alte Muster. Dabei zeigten die Berliner im ersten Durchgang noch ihr neues Gesicht. Von Marc Schwitzky

"Ich bin gespannt, wer von uns als erstes gesperrt wird“ – mit diesen Worten verabschiedet Mainz-Trainer Bo Svensson seinen Kollegen und Freund Sandro Schwarz nach dem Spiel. Zuvor witzelt Herthas Trainer, dass Svensson mit den gelben Karten gegen sich aufpassen solle. Die letzten Worte auf der Pressekonferenz zeigen ganz gut, wie emotional Schwarz und Svensson an der Seitenlinie agieren – und wie stark sie auch ihre Mannschaften emotionalisieren.

Und so verwundert es nicht, dass die Begegnung zwischen dem 1. FSV Mainz 05 und Hertha BSC von Beginn an eine auffällig hitzige ist. Zwölf zu zehn Fouls, drei zu fünf gelbe Karten, unzählige Zweikämpfe und Spielunterbrechungen – "es war mehr ein Ringkampf" fasst Schwarz am Ende des Abends zusammen. Es ist die erste Rückkehr des 43-Jährigen an seine alte Wirkungsstätte, wo er Spieler, Jugend- und letztendlich Cheftrainer war. Von 1995 bis 2004 und von 2013 bis 2019 arbeitet er beim Verein seiner Heimatstadt. Ein Spiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit – auch für Hertha selbst.

Eine ungewohnte Rolle

Der Ringkampf-Vergleich von Herthas Übungsleiter bezieht sich vor allem auf die zweiten 45 Minuten. Im ersten Durchgang begegnen sich Hertha und Mainz zwar ebenfalls mit einer hohen Intensität, die Berliner aber können ihre Spielidee noch deutlich klarer umsetzen. Schwarz vertraut erneut auf sein mittlerweile gewohntes 4-3-3, für den mit einem Infekt fehlenden Suat Serdar wählt er mit Jean-Paul Boetius den logischen Ersatz – ein Tausch von Ex-Mainzern.

Wer glaubt, Mainz würde das Spiel als Heimmannschaft in die eigene Hand nehmen, sieht sich getäuscht. Die 05er ziehen sich von Beginn an auffällig stark zurück, Hertha wird der Ball und damit die Spielkontrolle überlassen. In der laufenden Saison befinden sich die Blau-Weißen erst einmal – im Spiel gegen den FC Augsburg – in der Situation, selbst das Spiel machen und Lösungen aus dem eigenen Ballbesitz heraus finden zu müssen. Damals tut sich die "alte Dame“ schwer damit, nicht selbst durch Umschaltaktionen Gefahr entwickeln zu können.

Auch am Freitagabend ist den Berlinern anzusehen, dass das Ballbesitzspiel noch längst nicht ausgereift ist. Es fehlen noch die klaren Abläufe, um Tempo zu entwickeln und damit den Gegner ins Wanken zu bringen. Ein großer Vorwurf lässt sich in Hinblick auf die kurze Zeit, die Schwarz in Berlin wirkt, daraus jedoch nicht stricken. Schließlich ist das Ballbesitzspiel die wohl schwerste Disziplin im Fußball.

Hertha verdient sich die Führung über den Kampf

Nein, bereits die erste Halbzeit des Freitagabendspiels ist nicht vergnügungssteuerpflichtig – ein klassischer Fall von: Die einen wollen, und die anderen können nicht. Hertha fehlt es an Passschärfe, um selbst Tempo und damit Tiefe zu entwickeln. Flanken nützen auch kaum etwas, wenn Mittelstürmer Wilfried Kanga von gleich drei Mainzer Innenverteidigern gedeckt wird. Zudem doppelt Mainz die Außenbahnen diszipliniert, um Herthas Individualisten, Chidera Ejuke und Dodi Lukebakio, nicht ins Spiel kommen zu lassen.

Hertha hingegen versteht es gut, nicht ungeduldig und damit unkonzentriert zu werden. Sobald ein eigener Angriffsversuch fehlschlägt und Mainz sich der Chance erwähnt, ins geliebte Konterspiel umschalten zu können, hält Hertha mit äußerst giftigem Zweikampfverhalten dagegen. Das Gegenpressing, es sitzt im ersten Durchgang, sodass Hertha trotz geringer Torgefahr stets das Heft des Handelns in der eigenen Hand hat. War es in den vergangenen Jahren oftmals der Fall, dass Hertha von der Aggressivität und Intensität des Gegners "aufgefressen“ wurde, sind die Berliner mittlerweile eines der ligaweit besseren Teams in Bezug auf die Grundtugenden dieses Sports. "Wir hatten lange Zeit Probleme mit der Aggressivität des Gegners“, gibt Mainz‘ Sportdirektor Martin Schmidt nach dem Spiel zu. Worte, die seit der Hochphase der ersten Amtszeit von Pal Dardai nicht mehr gefallen sind.

In der 30. Minute belohnt sich der Hauptstadtklub für seinen wachen und engagierten Auftritt. Wieder zeigt sich Hertha hellwach, gewinnt den Ball gleich zweimal hintereinander in der gegnerischen Hälfte. Linksaußen Ejuke kommt am Strafraumrand ins geliebte Dribbeln, seine anschließende Chip-Flanke findet den Kopfs des mitgelaufenen Lucas Tousart. Der französische Mittelfeldspieler ist in den letzten Wochen immer öfter in Abschlusssituationen innerhalb des Sechszehners gekommen, Trainer Schwarz ist die Strafraumbesetzung sehr wichtig. Ein durchaus einstudiertes Tor also, mit dem sich Tousart für seine bislang herausragende Saison belohnt. Hertha bringt die Führung souverän in die Halbzeitpause, in der 41. Minute hätte Ejuke sogar beinahe das 2:0 erzielt, doch Mainz-Keeper Robin Zentner hält dessen Schlenzer mit einer starken Parade.

Hertha im zweiten Abschnitt zu passiv

Für viele Zuschauer wird es bis dahin eine völlig normale Bundesliga-Partie sein. Der Unterschied zur letzten Saison und damit die positiven Erkenntnisse liegen bei Hertha in den Nuancen. Eine souveräne Abwehrleistung ohne Patzer, den Gegner in puncto Aggressivität und Intensität übertrumpfen und durch individuelle Qualität auf den Flügeln in Führung gehen – allesamt Eigenschaften, die 2021/22 noch keineswegs ausmachten, vielmehr gehörten sie sogar zu den klaren Schwächen der Berliner.

Im zweiten Durchgang ist die Hoffnung, dass die Mainzer aufgrund des Rückstands mehr für das eigene Spiel machen und damit eher ins Risiko gehen müssen, sodass sich Hertha auf seine Kerndisziplin – das Umschaltspiel – konzentrieren kann. Doch so kommt es nicht. Mainz kommt mit einer gänzlich anderen Körpersprache aus der Kabine und überrascht die Gäste damit regelrecht. Hertha kann nicht wie im ersten Durchgang mit ebenso hoher Körperlichkeit und Griffigkeit antworten, stattdessen verfällt die Mannschaft in eine lähmende Passivität, aus der sie sich für den Rest der Begegnung nicht mehr lösen kann. Die 90. Minute, sie beginnt für Hertha gefühlt direkt nach dem Wiederanpfiff. "Vielleicht waren wir nach der Pause zu nervös. Wir haben zu wenig mitgespielt, stattdessen nur lange Pässe geschlagen“, so Boetius nach dem Spiel. Tatsächlich kann Hertha keinerlei Entlastung entwickeln, auch wenn die erste Mainzer Druckphase ohne konkrete Torchance für die Heimmannschaft endet. Durch clevere Fouls und eine gut agierende Abwehrreihe lässt Hertha wenig zu, Torhüter Oliver Christensen bleibt lange ungeprüft.

Doch spätestens ab der 65. Minute beginnt der Berliner Überlebenskampf: Viele gelbe Karten, Zweikämpfe, nur noch lange, unkontrollierte Klärungen – Kampf frisst Spielkultur. Die Einwechslungen von Schwarz, die in den letzten Spielen oftmals positiv aufs Spiel einwirkten, verpuffen regelrecht. Da die Bälle nicht gehalten werden, kommt Hertha zu keiner einzigen Ruhephase. Hertha wird die zweite Halbzeit ohne eigenen Torschuss beenden. Zwar ist den Berlinern die Widerstands- und Leidensfähigkeit nicht abzusprechen, doch um die Führung so über die Zeit zu bringen, fehlt es schlichtweg an Souveränität. Mainz kommt zu keinen klaren Torchancen – bis es eben doch passiert. In der allerletzten Minute des so unendlich wirkenden Spiels kann Hertha den Ball im Strafraum nicht klären, sodass Anthony Caci zum Abschluss kommt und das 1:1 erzielt. Direkt danach ertönt der Schlusspfiff, in den Gesichtern der Hertha-Spieler ist die Enttäuschung in Großbuchstaben abzulesen.

Der Weg stimmt, doch Hertha stolpert noch zu oft

Der Ausgleichstreffer, er ist so bitter wie folgerichtig. Während im ersten Durchgang wieder viel von der Philosophie eines Sandro Schwarz zu erkennen ist, verfällt Hertha nach dem Wiederanpfiff in alte Muster. "Wir hatten nicht mehr diese ständige Aktivität, diesen Druck auf den Ball, sodass Mainz durch lange Bälle in ihr wuchtiges Spiel gefunden haben“, merkt Schwarz nach Abpfiff an. Die Angst zu verlieren ist größer als der Mut, weiter nach vorne zu spielen und an die eigenen Stärken zu glauben. Das zarte Pflänzchen des Umbruchs ist noch zu empfindlich, es fehlen Erfolgserlebnisse in Form von Siegen, um ein Spiel über 90 Minuten mit großem Selbstverständnis zu spielen.

Das 1:1 in Mainz verrät daher viel über den aktuellen Entwicklungsstand der "alten Dame“. In bislang jeder Partie außer dem Stadtderby gegen Union Berlin hat Hertha viel von dem umgesetzt, was sich Trainer Schwarz vorstellt. In jeder dieser Begegnungen haben die Berliner die Chance auf mindestens einen, wenn nicht sogar drei Punkte. Die Mannschaft befindet sich nach sieben Ligaspielen unter dem neuen Coach jedoch noch nicht an dem Punkt, ein Spiel über die volle Lauflänge an sich zu reißen. Das Endergebnis sind viele gute Vorstellungen, jedoch auch viele liegen gelassene Punkte. Der Weg stimmt, doch Hertha stolpert noch zu oft.

Sendung: Inforadio, 17.09.22, 09:00 Uhr

Beitrag von Marc Schwitzky

3 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 2.

    Schwitzky...

  2. 1.

    Und wieder kurz vor Schluss den Gegentreffer und lediglich einen Punkt erhalten. Vielleicht sagt auch mal einer der Mannschaft dass das Spiel nicht nach 90 Minuten endet und alle Aktivitäten einzustellen sind, sondern endet erst wenn der Schiri das Spiel abpfeift.

Nächster Artikel