WM-Tagebuch aus Katar - Erster Advent in Katars Venedig

So 27.11.22 | 18:48 Uhr
  13
Die Villaggio Mall in Doha mit venezianischen Gondeln (Bild: rbb/Tabea Kunze)
Bild: rbb/Tabea Kunze

Der erste Advent im glühenden Doha. rbb-Sportreporterin Tabea Kunze zieht es in die Kälte und berichtet im rbb|24-WM-Tagebuch vom sonntäglichen Leben in einer von Katars Malls zwischen "Hayya, Hayya" und venezianischen Gondeln.

"Doha, 33 Grad, sonnig" zeigt mir mein Handy an diesem ersten Adventssonntag 2022. Ich bekomme Fotos von angezündeten ersten Kerzen und besinnlich leuchtenden Sternen aus Deutschland. Es fühlt sich an, als befände ich mich in einem Parallel-Universum.

Über die Autorin

Tabea Kunze (Bild: rbb/Tabea Kunze)
rbb/Tabea Kunze

Tabea Kunze ist Teil der rbb-Sportredaktion und berichtet für alle ARD-Radioprogramme von der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar.

Für rbb|24 schreibt sie gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen regelmäßige Tagebuch-Einträge vom Turnier in Doha.

Statt Mütze und Schal wähle ich Kappe und Sonnenbrille, als ich die Straße betrete, muss ich trotzdem die Augen zusammenkneifen, so hell scheint die Sonne auf die sandfarbenen Wohnhäuser um mich herum. Nach dem zwanzigminütigen Spaziergang zur Metro freue ich mich fast auf Neonlicht und Klimaanlagen-Gebläse in der futuristischen Station.

Auf dem Weg zur "Villaggio Mall"

Bei der WM ist es mein Job, Gespräche mit Radiosendern in ganz Deutschland zu führen und damit ich weiß, worüber ich spreche, versuche ich mir zwischen meinen Schichten so viel wie möglich selbst anzuschauen. Immer wieder habe ich in meiner Vorbereitung gelesen: "Das Leben der wohlhabenden Katarer findet in Malls statt." Ist das wirklich so? Ich will es mir anschauen.

An der Endhaltestelle der goldenen Metrolinie (grün und rot gibt es auch) folge ich Fans in himmelblau-weißen Argentinien-Trikots die Rolltreppe hinauf – ich liege richtig, auch sie haben das Ziel: "Villaggio Mall".

Raus aus der Station, wieder rein in die gleißend helle Sonne. Ich stehe auf einem Parkplatz (schneeweiße SUVs sind in Katar nach meinem Eindruck das Auto der Wahl, Sprit ist billig, Klimaschutz eher kein Thema), rechts liegt das Khalifa International Stadium (eines der beiden, das für diese WM nicht komplett neu gebaut wurde). Hinter dem Parkplatz erscheint ein flaches, aber dafür umso breiteres Gebäude-Ensemble in Pastellfarben. Es sieht aus wie eine Freizeitpark-Kulisse. Ich muss richtig sein!

Familien mit großen blauen Einkaufswagen schieben sich mir entgegen zu ihren Autos. Einmal um die Ecke eröffnet sich mir der Eingang zur Mall.

Ein bisschen Venedig

Mich empfängt das typische Klimaanlagen-Gebläse. Nach ein paar Metern kann ich dem Reflex nicht widerstehen, mein Handy aus der Tasche zu holen: So etwas habe ich noch nie gesehen. Die gewölbte Decke ist mit einem hellblauen Himmel mit weißen Wölkchen bemalt, die Fassaden der Geschäfte sind einer venezianischen Prachtstraße nachempfunden – und ja, es gibt ein künstlich angelegtes Kanalsystem. Romantisch veranlagte Mall-Besucher lassen sich von südasiatischen Gondolieri (oben rotes Hütchen, unten ausgetretene Sneaker) in schwarz lackierten Gondeln auf türkisfarbenem Wasser an den Schaufenstern vorbeischippern.

Gestört wird die klebrigsüße Atmosphäre vom offiziellen WM-Song "Hayya, Hayya", dessen poppig-stumpfer Refrain in Dauerschleife durch das Einkaufszentrum schallt. Trotzdem wird der Gondelservice gut genutzt.

Nur siebzig Meter weiter lockt eine Eisbahn inklusive Tribüne für die erschöpften Eltern zum fröhlichen Rundendrehen. Bis auf zwei kleine Kinder ist das Eis allerdings verlassen. Es ist aber auch Sonntag, im muslimischen Katar ein normaler Werktag.

Durch den penetranten Musikteppich höre ich vergnügte Schreie – und ja, gleich neben einem quietschbunten Spielzeugladen sehe ich den Eingang zu einem Indoor-Freizeitpark: mit Achterbahn, Wildwasserbahn und neongrellen Riesenrad. Fällt das jetzt noch unter Einkaufszentrum?

Der Duft der WM

Fotos machen jedenfalls nur die Menschen, die als internationale Fußball-Fans erkennbar sein, Familien in traditionellen katarischen Gewändern schlendern mit eher gleichmütigen Gesichtsausdrücken an den Fahrgeschäften vorbei zum "Foodcourt", um sich mit Pizza oder Donuts zu stärken.

Neben der dauerhaften Musik-Beschallung sollen Girlanden mit bunten Flaggen wohl für so etwas wie WM-Stimmung sorgen. An einem Stand wird offizielles WM-Parfüm angeboten, in einer goldenen Flasche mit der Aufschrift "Copa Mundial". Groß ist die Nachfrage nach dem süß-schweren Duft nicht.

Ein schales Gefühl zum Abschied

Was mir auch hier auffällt, ist, dass die Menschen, die an den Ständen oder in den Geschäften arbeiten, fast alle südostasiatisch aussehen. Sie kassieren freundlich, bedienen und verpacken Einkäufe an den Supermarktkassen – letzteres eine Sache, die mir ziemlich unangenehm ist. Doch ich merke, dass das hier anscheinend dazu gehört - als ich versuche, meine Milch und mein Müsli selbst einzupacken, ernte ich fragende Blicke. Die Gegensätzlichkeit - der grelle übertriebene Konsumtempel auf der einen und die zurückhaltenden, fast stummen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf der anderen Seite - hinterlässt bei mir ein schales Gefühl. "Hayya, Hayya" dröhnt weiter aus den Lautsprechern.

Ich schlängle mich an einer Gruppe Fans aus Marokko vorbei aus der Mall hinaus. Gleißendes Licht auf dem Parkplatz, die Milch muss schnell in den Kühlschrank. Irgendwie unwirklich, was sich hinter den pastellfarbenen Mauern abspielt. Mitten im Wüstenstaat ein klimatisiertes Disneyland. Die Menschen im Land (Touristen und Einheimische), die Zeit und Geld dafür haben, lassen sich tatsächlich berieseln und shoppen vor einer Kitsch-Kulisse. Die würde allerdings zusammenfallen ohne die tausenden Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Heimat verlassen, getrieben von der Hoffnung auf einen gut bezahlten Job. Ich hoffe sehr, dass sich ihre Situation durch die WM spürbar verbessert hat, dass Reformen auch wirklich umgesetzt werden.

Sendung: rbb24, 27.11.2022, 21:45 Uhr

13 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 13.

    Das muss eine Sportreporterin machen? Wenn es doch auf der ganzen Welt ein Netz von „Regionalstationen“ von ard und zdf gibt. Deren Mitarbeiter das ganze Jahr vor Ort sind?

  2. 12.

    Zur Berichterstattung gehört es auch dazu, mit Fans oder Katarern in Kontakt zu kommen. Tabea Kunze schildert ihre Eindrücke, die sie dabei gesammelt hat. Das wäre ja wohl etwas schwierig, wenn man sich nicht mal unter Menschen mischt.

  3. 11.

    Wenn Sportreporter Zeit haben ein Tagebuch zu schreiben über Themen außerhalb des Sports, dann scheinen wohl die öffentlich rechtlichen Sender zu viele Mitarbeiter vor Ort zu haben.

  4. 10.

    Guter Kommentar. Obendrein finde ich diesen Artikel sehr angemessen und detailliert geschildert. Danke.

  5. 9.

    Ja genau, irgendwelche angeblich scheinheiligen Journalisten wenden das Bild über Katar zu 180 Grad.
    Die in schönster Vollkommenheit komplett korrupte WM Vergabe, die 15.000 toten Arbeiter, die totale Diktatur des Emirs... Nebensächlichkeiten bei Ihnen?

  6. 8.

    Die Ausstrahlung solcher Viertel gegenüber dem Original ist ja schon etwas unterschiedlich:
    Das Original hat ästhetisch die höchste "Wirkmächtigkeit", darum, weil es Original ist.
    Dann gibt es Adaptionen, also den Versuch, Bauten hervorragender Ästhetik einem anderen Stadtraum anzunähern, ohne den Bau 1 : 1 nachzubilden, eine stadtbezogene Variation sozusagen.
    Und dann gäbe es Disneyland, das wahllose Zusammenstellen vermeintlich oder tatsächlich baulicher Höhepunkte, nur der bloßen, billigen Schau wegen.

    Den hier gezeigten Fall würde ich irgendwo zwischen 2) und 3) fassen, denn eine Adaption ist es irgendwie schon, doch der katarischen Bautradition entsprechen sie in geringem Maße, einen sonstigen Bezug zum Stadtraum gibt es auch nicht.

  7. 7.

    Habe ich da PROVINZ gelesen? Der rrb ist der HAUPTstadtsender.... und ne, die Frau Kunze fährt nicht für Südbrandenburg dort hin, Zitat (lesen bildet...): "Tabea Kunze ist Teil der rbb-Sportredaktion und berichtet für alle (!) ARD-Radioprogramme von der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar."

  8. 6.

    Bin ich ganz Ihrer Meinung. Alle Medien lassen sich über das „böse“ Katar aus. Aber alle Journalisten fahren da hin …
    Das Geld scheint doch nicht so zu stinken, scheinheilig!

  9. 5.

    All dass was hier lese.....habe ich schon vorher gewusst. Es ist Katar und damit "Alles" gesagt.

  10. 4.

    Schönes Foto ... Wüstenschiffe auf dem Wasser

    ... und Kamele in Booten ;-).

  11. 3.

    Alles in Las Vegas abgeguckt ;-)

  12. 2.

    Mir ist ja schon "das Schloss" in Steglitz zu kitschig und künstlich - aber DAS toppt ja alles.... ! Ne, echt, Katar und Co (also auch Dubai und so) ist einfach nix für mich. Das ist wie gefärbte Haare, Gel-Nägel und gemachte.. äh, ne, ne lass ma...

  13. 1.

    Hat die Ober- ARD nicht genug Reporter da unten? Muss jetzt auch noch jeder Provinzsender auf unsere Kosten da jemanden hinschicken? Und gerade der rbb hat es ja nötig.....

Nächster Artikel