Geldentwertung - Wie die Berliner den heißen Hyperinflations-Sommer 1923 verbrachten

So 16.07.23 | 07:46 Uhr | Von Harald Asel
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Archivbild:Badebetrieb im Strandbad Wannsee um 1925.(Quelle:picture alliance/AKG Berlin)
Audio: rbb24 Inforadio | Heute minus 100 | Podcast von Matthias Schirmer und Harald Asel | Bild: picture alliance/AKG Berlin

36 Grad im Schatten – auch vor 100 Jahren hat die Stadt im Juli geglüht. Während Berlinerinnen und Berliner nach preiswerter Ablenkung im Inflationsjahr suchen, wird die Stadt zum Eldorado für ausländische Touristen. Von Harald Asel

Kaum haben die Schulferien im Juli 1923 begonnen, rollt auch schon eine Hitzewelle über die Region. "Für Berlin war gestern wieder einer der heißesten Tage in dieser Tropensonnenperiode – deren Dauer man lieber nicht verrufen soll" schreibt Mitte des Monats der "Vorwärts", die Zeitung der Sozialdemokratie. Und weiter: "Wolken rollten sich zusammen, es wurde drohend und duster. Dann rollten sie sich wieder auseinander und die sengende Heiterkeit des blauen Himmels strahlte seine 36 Grad im Schatten wieder– notabene eine Temperatur wie sie Berlin seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat."

Erst Tage später werden Gewitter deutliche Abkühlung bringen. Kein Wunder, dass die gleiche Zeitung auch von zwei Hitzetoten, zwei Waldbränden und acht in Freibädern ertrunkenen Badegästen berichtet.

Der Geldwert schmilzt wie Butter in der Sonne

Viele Berlinerinnen und Berliner haben kein Geld, um ans Meer oder in kühlere Regionen der Mittelgebirge zu fahren. Schon gar nicht in diesem Sommer der Hyperinflation. Der dramatische Verfall der deutschen Währung lässt sich am besten am Dollarkurs festmachen: Im Januar 1923 bekommt man an den Wechselstuben am Bahnhof Zoo 7.260 Mark für einen einzige Dollar, im Juni schon das Zehnfache.

Leidtragende der Geldentwertung sind nicht nur die Arbeiter oder sozial Benachteiligten, sondern auch Menschen der Mittelschicht, die vor dem Krieg gerade erst das großbürgerliche Reisen für sich entdeckt hatten. Beamte bekommen zu Monatsbeginn ihr festes Gehalt, das schnellstens in Lebensmittel und andere Notwendigkeiten eingetauscht werden muss, ehe die Preise wieder steigen. Freiberufler, etwa Ärzte, die auf Rechnung arbeiten, wissen, dass ihre Kunden erst dann bezahlen, wenn die Summe lächerlich geworden ist. Leidtragende sind auch die Rentner, die nebenher arbeiten müssen. Profiteure der Geldentwertung sind diejenigen, die Schulden haben, denn die verflüchtigen sich. Unverändert ist wenigstens der Preis bei den öffentlichen Personenwaagen: 20 Pfennige muss man in den Geldschlitz werfen, um das Gewicht zu messen. Aber wer hat noch zwei Groschen Hartgeld?

Archivbild:Tanzcafé im Schwedern-Pavillon in Berlin-Wannsee um 1925.(Quelle:picture alliance / akg-images)Tanzcafé im Schwedern-Pavillon in Berlin-Wannsee

"Täglich Prunkfeste, Gelage, Maskeraden, Bälle, Redouten"

Was machen die Berlinerinnen und Berliner? Sie bleiben in der Stadt und schauen den Touristen beim Flanieren zu. Die meisten von denen kommen in diesem Sommer aus anderen Teilen Deutschlands. Aber in der Fremdenverkehrsstatistik stehen auch die Amerikaner ganz oben. Es gilt: Wer Devisen hat, ist König. In seiner Kulturgeschichte der Weimarer Republik "Höhenrausch" beschreibt der Publizist Harald Jähner das so: "Ausländer, die sich zu Hause höchstens eine Zweizimmerwohnung am Stadtrand leisten konnten, wurden mit der Ankunft am Berliner Anhalter Bahnhof zu Milliardären und mieteten im Hotel Excelsior ganze Zimmerfluchten. Die Zeitungen überschlugen sich mit drastischen Darstellungen ihres Wonnelebens, 'täglich Prunkfeste, Gelage, Maskeraden, Bälle, Redouten', auf denen die mitgebrachten Damen ihre billig erworbenen Perlen und Pelze spazieren trügen.'"
Für die Mehrzahl der Menschen in Berlin wirkt ein solches Auftreten wie blanker Hohn: Ausländer werfen mit Geld nur so um sich. Und der Deutsche steht dienernd daneben. Ein Sinnbild für die verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg und von vielen empfunden als eine Art "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln", wie Jähner schreibt.

Ferienprogramme für die Kinder

Es liegt aber nicht nur am Geld, wenn viele diesen Sommer über in der Stadt bleiben. Zwar ist bezahlter Urlaub inzwischen auch für Arbeiterinnen und Arbeiter mit Tarifvertrag vorgesehen. Das hatten die Gewerkschaften neben dem Achtstundentag nach und nach durchgesetzt. Aber meist handelt es sich nur um drei bis höchstens sieben Tage. Diesen Urlaubsanspruch lassen sich viele lieber auszahlen. Die Folge: Die Eltern arbeiten, die Heranwachsenden sind auf sich gestellt.

Wie gut, dass das Jugendamt der Stadt Berlin gerade ein besonderes Programm aufgelegt hat. Wir würden das heute "Kinderferienpass" nennen. Auf kommunalen staatlich subventionierten "Außenspielplätzen" gibt es Freizeitangebote, die von pädagogischem Personal betreut werden. Aber auch das ist nicht umsonst. So lässt das Jugendamt der Stadt mitteilen: "Die Kinderbeiträge während der Ferien werden infolge der fortschreitenden Geldentwertung vom Montag, den 16. Juli ab erhöht: Für die ersten Kinder einer Familie Tageskarten zu 1000 M. Für die zweiten Kinder 800 M. Die Kinder erhalten morgens Kaffee, mittags warmes Essen und nachmittags zwei Stück Gebäck von je 75 g." Damit ist wenigstens die Verpflegung tagsüber gesichert."

Aber selbst im reichen Berliner Westen schlägt der Verband für Körperkultur Alarm. Seiner Tageskolonie "Wilmersdorfer Kinder im Sportluftbad Eichkamp" droht die Pleite, weil die zugesagten staatlichen Subventionen, wenn sie denn endlich eintreffen, kaum noch etwas wert sind. Ein Kilo Roggenbrot kostet im April 474 Mark, im Juni 1428 Mark, im Juli bereits 3465 Mark. Im Oktober werden es 1, 743 Billionen sein.

Man planscht lieber wild

Bleibt für alle Generationen als Mittel gegen die sommerliche Langeweile quer durch die Milieus: das Baden. Im Kaiserreich badeten Männer und Frauen züchtig getrennt. Doch inzwischen hat sich das Familienbad durchgesetzt. Daher gilt: Auch Männer müssen eine anständige Badebekleidung tragen. Der letzte Schrei in den 1920er-Jahren: gestreifte Ganzkörperbadeanzüge, zum Teil aus wasserabweisender Wolle.

Archivbild:"Sonntagsfreuden des Grossstaedters in der freien Natur". Camping am Ufer des Wannsees. Foto, um 1923.(Quelle:picture alliance/akg-images)
Postkartenmotiv: "Sonntagsfreuden des Grossstädters in der freien Natur". um 1923.Bild: picture alliance/akg-images

Die Badegäste treffen sich am Fluss, an den vielen innerstädtischen Seen, oder draußen am Wannsee. Das heutige Strandbad gibt es allerdings 1923 noch nicht. Es wird erst im Jahr darauf in städtischer Regie von einem privaten Betreiber übernommen und ausgebaut. Die offiziellen Badestellen kosten Eintritt. Den wollen sich viele Berlinerinnen und Berliner sparen und planschen eben wild, wo es gerade geht. Das Gemeindeblatt der Stadt Berlin warnt: "Das eigene Interesse der Erholungssuchenden lässt es angebracht erscheinen, den geordneten Badebetrieb einer Badeanstalt dem wilden Baden vorzuziehen. Wenn auch der anfangs flache Strand der freien Badestellen in verlockender weise zum Baden einladet, so fällt doch die Sohle der Gewässer oftmals plötzlich ab, ist morastig mit Schlingpflanzen und Weidengestrüpp bewachsen: und wird dadurch auch dem geübten Schwimmer gefährlich."

Eine Reichsbanknote über Fünf Billionen Mark vom November 1923 und andere Banknoten über 20 Milliarden Mark, 500 Milliatrden Mark u.a vornehmlich 1923 von der Deutschen Reichsbank ausgegeben, aufgenommen am 22.10.2011.(Quelle:picture alliance/dpa/A.Engelhardt)
Banknoten der Deutschen Reichsbank Bild: picture alliance/dpa/A.Engelhardt

Doch nicht nur beim wilden Baden ertrinken in diesem Sommer viele Abkühlungshungrige. Wirklich schwimmen können Anfang der 1920er-Jahre nämlich nur die Wenigsten. Im Gemeindeblatt wird daher neben Leihbadehosen auch ein "Schwimmunterricht für Erwachsene" inseriert. Kostenpunkt im Juli 1923: 20.000 Mark.

Sendung: rbb24 Inforadio, 26.06.2023, Podcastserie "Heute minus 100"

Beitrag von Harald Asel

23 Kommentare

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  1. 23.

    Da haben Sie natürlich recht, bin auch kein Freund der unnötig aufgesetzten Photobearbeitung.

  2. 22.

    Ist doch nicht gruselig. So war das damals im dicht besiedelten Berlin. Die paar freien Stunden oder Tage wurden meist im Grünen verbracht, das man mit Fahrrad oder paar Stationen S-Bahn erreichen konnte. Für lange Fahrtzeiten weiter weg war die Freizeit der schuftenden Menschen viel zu kurz. Ja und dann noch: Diese Zeit in unserer Erinnerung aus Fotos und Filmen ist halt nur schwarz weiß. Gut, dass hier Originale und keine mit Software nachcolorierten Bilder verwendet wurden.

  3. 21.

    Irgendwie finde ich so alte Fotos wie hier verwendet unter der Kopfzeile,
    merkwürdigerweise immer etwas gruselig. Vielleicht ein individuelles Problem.
    Dennoch interessant zu erfahren, wie man zur damaligen Zeit mit der Hitze umging.
    Guter Artikel!

  4. 20.

    Schon bei der Bildung hapert es in der Tat. Viele können Wetter nicht von Klima unterscheiden. Dabei ist eigentlich bekannt, dass es früher im Sommer an deutlich weniger Tagen heißes Wetter gab als aktuell. Das ist aber ein Symptom des Wandels des Klimas.
    https://www.rbb24.de/panorama/thema/2019/klimawandel/beitraege/klimawandel-berlin-brandenburg-zukunft-szenario-2100.html

  5. 18.

    Sie sind nicht nur wehleidig geworden, der Egoismus und die Intoleranz nehmen auch stetig zu.

  6. 17.

    Stimmt, etwas Ähnliches höre ich auch von dieser Generation. Allerdings ist das ein typisch deutsches Gejammer. Von Verwandten aus anderen europäischen Ländern werde ich oft gefragt, was bei uns nicht mehr stimme. Deutsche seien wehleidig geworden. Mit der heutigen Generation hätte der Aufbau nach dem Krieg nicht geklappt.

  7. 16.

    Den Klimawandel haben Sie doch ins Spiel gebracht und suggerieren damit das diesbezüglich nichts stimmt. Dann beantworten Sie doch einfach ob Sie zu den Klimawandelleugnern gehören oder wenigstens was Ihre Einlassung dazu sollte.

  8. 15.

    Teichert hat recht. Diese Fokussierung auf den Klimawandel ist schädlicher als alles andere. Gestern war es heiss, heute schon nicht mehr. Wir müssen endlich die echten Probleme in den Griff bekommen. Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur und die hohen Kosten. Wir haben wirtschaftliche Probleme in Deutschland. Unsere Energiekosten sind zu hoch, die Steuern und Abgaben sind zu hoch.

  9. 14.

    @Karin B.: Nein, nicht gut geschrieben. Teichert ist zu empfehlen, sich zu informieren. Niemand sagt, dass es diese hohen Temperaturen früher nicht gab in Berlin. Darum geht es in der Diskussion um den Klimawandel gar nicht. Die Dauer macht's und die Erhöhung der Durchschnittstemperatur. Ein oder zwei Grad haben erhebliche Auswirkungen!

  10. 13.

    Vielen Dank für den tollen Artikel der mich sehr berührt und mich an meine Grosseltern erinnert!

  11. 12.

    Ein fettes Hoch auf die Macher dieses Artikels und des Podcasts! Da sieht man mal, dass der RBB noch richtig gute Dinge darstellen kann, wenn man sich auf Wichtiges konzentriert.


    Danke dafür und ein hörbar und lesbares Muss als Weiterempfehlung an Alle!

  12. 11.

    Gut geschrieben. Auch unsere Eltern (87/93 J.) erzählen oft von damals und wie sie die Zeit erlebt haben. Das Gejammere von heute können sie deshalb oft nicht nachvollziehen.

  13. 10.

    Antwort auf Thomas
    Na meine Vorfahren sind umgesiedelt damals weil es in Dresden kaum möglich war seine Familie zu versorgen.
    Wie gesagt wir leben heute sehr zufrieden in Berlin und wissen es zu schätzen.
    Berlin ist toll und lebenswert.
    Mehr Freibäder oder zumindest im jeden Bezirk wäre schön.

  14. 9.

    Wirklich guter Artikel mit einem Manko.
    Die Hyperinflation war die Folge von Nationalismus und dem daraus folgendem Krieg.
    Haben wir daraus gelernt? Na ja, eine Partei jedenfalls nicht.
    Wie zu erwarten auch gleich die ersten Kommentare mit Bezug zum Klimawandel.
    Aus Fakten Schlüsse ziehen ist eben nicht jedem gegeben.

  15. 8.

    Guter Artikel, stimmt!
    Der erste Satz Ihres Kommentars jedoch...nichts verstanden.
    Die Temperatur Aufzeichnungen der letzten 100 Jahre belegen doch eindeutig was los ist.
    Die Ursachen sind auch bekannt. Geleugnet von der AfD und Aluhutträgern.
    Ob Sie sich dazu zählen können nur Sie selbst beantworten.

  16. 7.

    Schon vor 100 Jahren 36 Grad im Schatten? War das leichter oder schwerer zu ertragen als heute?
    Die Stadt hatte damals eine wesentlich kleinere Ausdehnung als heute und hat sich vermutlich nachts durch kühle Luft aus dem Umland schneller wieder abgekühlt. Großflächige Versiegelungen insbesondere mit Asphalt, wo sich die Luft schnell mal auf 50-60°C aufheizt, gab es damals nicht. Der Temperatur-Unterschied von alten Kopfsteinpflasterstraßen und Asphaltstraßen ist deutlich zu spüren. Massive Ziegelbauten sorgten vermutlich für einen guten Temperaturausgleich zwischen Tag und Nacht.
    In der dichtbesiedelten Innenstadt wird für Straßenbäume eher weniger Platz gewesen sein.
    Das heutige Gefühl einer "Backofenhitze" kenne ich von früher allerdings nicht, gut - 1923 war ich noch nicht auf der Welt.
    Glücklicherweise bewegt sich die aktuelle Inflation in einem erträglicheren Bereich als damals...

  17. 5.

    Danke Herr Asel für diese Artikel.

  18. 4.

    Danke Herr Asel und dem RBB. Soviel interessante gut geschriebene Geschichte habe ich schon lange nicht gelesen.

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