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Video: rbb|24 | Brandenburg aktuell | Michael Scheibe | 23.07.2019 | Quelle: rbb/Brandenburg Aktuell

Neonazi-Opfer Noël Martin wird 60

"Ich existiere weiter"

Nach einer Hetzjagd durch Neonazis hatte Noël Martin am 16. Juni 1996 in Mahlow einen schweren Autounfall – seitdem ist er querschnittsgelähmt. Am Dienstag wird er 60 Jahre alt - und wünscht sich auch heute nichts mehr, als wieder laufen zu können. Von Michael Scheibe

"Man kann einfach gar nichts machen. Du siehst das Leben an dir vorbeiziehen." Noël Martin wurde vor 23 Jahren Opfer eines Anschlags durch Neonazis und ist seitdem querschnittsgelähmt.

Tag und Nacht ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Mit einem Hebekran muss er vom Rollstuhl ins Bett oder auf die Toilette, das ist ein täglicher Kraftakt für ihn und seine Pflegerinnen.

Noël Martin sucht heute noch nach Erklärungen

Ein Foto im Schlafzimmer von Noël Martin in jüngeren Jahren vor dem Anschlag erinnert an bessere Tage. "Ich habe mein Leben in vollen Zügen genossen, ich habe hart gearbeitet, habe viel Spaß gehabt. Was haben sie mir nur weggenommen!", sagt er, und sucht auch heute noch nach Erklärungen. "Ich begreife nicht, wie zwei Jungen so sehr hassen, dass sie Menschen töten oder verletzen – denn sie kannten mich nicht und ich sie auch nicht."

Hetzjagd am Abend des 16. Juni 1996

Mahlow im Landkreis Teltow-Fläming. 1996 arbeitet Noël Martin hier als Verputzer auf Baustellen. Am Abend des 16. Juni halten er und zwei Kollegen mit dem Auto am Bahnhof und werden von Neonazis beschimpft. "Nigger", rufen sie. Nach einer Verfolgungsjagd durch den Ort werfen die Täter einen sechs Kilo schweren Stein in die Frontscheibe von Noël Martins Wagen. Der verreißt das Lenkrad und schleudert gegen einen Baum. Die Täter, zwei junge Männer, werden später zu fünf und acht Jahren Haft verurteilt. Sie sind mittlerweile in Freiheit.

Noël Martin kehrt in seine Heimat Birmingham zurück und wird von seiner Frau Jaqueline gepflegt.

Noël Martin lebt in Birmingham

In Birmingham lebt der gebürtige Jamaikaner Noël Martin noch heute. Im selben Haus, das er mit seiner Frau gekauft hatte. Die starb vor 19 Jahren an Krebs. Seitdem wird er von Pflegekräften rund um die Uhr versorgt. Gesundheitlich geht es ihm nicht gut: Nur wenige Stunden am Tag kann er wegen Druckstellen am Rücken im Rollstuhl sitzen.

"Ich ermutige ihn, dass er auch in dieser Verfassung etwas zu geben hat", sagt Isalyn Brown, die ihn als Krankenschwester pflegt. "Wir können die Uhr nun mal nicht zurückdrehen. Wir müssen ihn ermutigen, dass er lebendig ist und weitermacht."
 

Weitere Infos

Weitere Informationen zu Noel Martin finden Sie hier [externer Link].

Buchtipp

"Nenn es: mein Leben" Eine Autobiographie aufgezeichnet von Robin Vandenberg Herrnfeld, Loeper Literaturverlag 2007

Kraft gibt ihm noch immer die Arbeit seiner Stiftung

Doch das ist nicht einfach für Noël Martin. Vor einigen Jahren wollte er Suizid begehen, doch Freunde hielten ihn davon ab. Kraft gibt ihm noch immer die Arbeit seiner Stiftung, die er nach dem Anschlag zusammen mit seiner Frau gegründet hatte. Es ist eine Stiftung, die Schülerreisen nach Birmingham und Mahlow organisiert und so Vorurteile abbauen will.

"Kinder lernen viel, wenn sie im Ausland sind", erzählt Noël Martin, seine Augenbrauen heben sich, als er das erzählt. Wenn du nur hier bist, dann weißt du nur eine Sache, aber wenn du ins Ausland reist, ändert sich das.

Wünsche zum Geburtstag

Nur noch selten verlässt Noël Martin sein Haus. Und wenn, dann geht es in seinen Garten, wo seine Frau begraben ist. Besuch bekommt er wenig, doch das soll sich nächste Woche ändern. Zum 60. Geburtstag gibt es eine Feier mit karibischer Küche. Was wünscht sich Noël Martin zum Geburtstag?

"Ich nehme jeden Tag wie er kommt", sagt er. "Du musst aufpassen was du dir wünschst. Der größte Wunsch, den ich habe, ist, wieder laufen zu können. Aber das sehe ich nicht." Auf die Frage, ob das Leben weitergeht, antwortet er: "Ja, das Leben geht weiter. Besser gesagt, ich existiere weiter."

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