Interview | Angriffe auf Klinikpersonal - "Es ist sehr wichtig, dass wir 24 Stunden Security haben"

Fr 19.08.22 | 10:13 Uhr | Von Sylvia Tiegs
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Das Vivantes-Klinikum am Friedrichshain in Berlin (Quelle: dpa / Bildagentur-online / Joko).
Video: rbb24 Abendschau | 18.08.2022 | Norbert Siegmund | Bild: Bildagentur-online

Ärzte, Pflegekräfte und Rettungssanitäter werden in oder vor Berliner Kliniken immer wieder angepöbelt, bedroht oder verletzt. Regelmäßig muss die Polizei anrücken. Der Leiter einer Rettungsstelle erzählt im Interview, wie sich das anfühlt.

rbb: Herr Dr. Kellner, wie oft haben Sie Übergriffe auf das Personal Ihrer Rettungsstelle erlebt?

Philipp Kellner: Wir erleben es in der Notaufnahme relativ häufig, dass sich Aggression anstaut. Wenn dann noch Alkohol, Drogen oder psychische Erkrankungen dazu kommen oder vielleicht auch die Patienten von uns etwas erwarten, was wir nicht leisten können - dann kann so eine Aggression und auch mal in körperliche Gewalt übergehen. Und das sind schon Erlebnisse, die wir regelmäßig bei uns sehen.

Das passiert aber auch außerhalb der Klinik, im Rettungsdienst, wo wir als Notärzte teilnehmen. Da kommt es regelmäßig vor, dass man an Einsatzstellen nicht in Ruhe arbeiten kann. Dort stehen unbeteiligte Menschen um einen herum, fangen an, mit ihren Handykameras zu filmen, Fotos zu machen, geben Ratschläge, sind laut oder ähnliches. Ich erinnere mich an ein Ereignis, als wir auf dem U-Bahnsteig eine Frau reanimieren mussten und unter Polizeischutz dann tatsächlich dort die Einsatzstelle verlassen mussten, weil wir unser Handwerk nicht erledigen konnten. Weil wir durch Neugierige und Besserwisser tatsächlich bedrängt wurden.

In der Notaufnahme dagegen trifft es hauptsächlich die Pflegekräfte. Die sind näher dran am Patienten, und die sind dann leider häufig der Blitzableiter für angestaute Aggressivität.

Zur Person

Dr. Philipp Kellner, seit 2015 Chef der Rettungsstelle im Vivantes F'hain, 18.08.2022 (Quelle: rbb).
rbb

Philipp Kellner ist seit 2015 Chef der Rettungsstelle im Vivantes-Klinikum am Friedrichshain. Der Mediziner hat außerdem etwa 10.000 Rettungseinsätze im Notarztwagen absolviert.

Was geht Ihnen in solchen Situationen wie auf dem U-Bahnhof durch den Kopf?

Man ist erstmal verdattert und denkt sich: Ich will hier meine Arbeit machen und den Patienten ordentlich versorgen, ihm die bestmöglichen Chancen geben. Und dann kommen irgendwelche Leute daher, die überhaupt nicht den Ernst der Lage begreifen und einen daran hindern wollen. Das finde ich erschreckend und auch zutiefst beschämend, dass man teilweise mit solchen Mitmenschen zu tun hat.

Wie genau sehen Übergriffe in der Notaufnahme auf das Personal aus?

Es geht los mit verbaler Gewalt, mit Beleidigungen und Bedrohungen. Das geht dann aber auch tatsächlich bis hin zu körperlicher Gewalt, die dazu führt, dass die Mitarbeiter Verletzungen davontragen. Sei es eine Gehirnerschütterung, weil man einen Schlag an den Kopf bekommen hat. Oder sei es, dass einem ins Gesicht gespuckt wird. Da sind viele Facetten dabei.

Weil uns dieses Problem bei Vivantes bewusst ist, haben wir eine Art Meldesystem etabliert. Das heißt, dass alle Aggressions-Ereignisse standardisiert erfasst werden. Und wir machen auch regelmäßige Deeskalations-Trainings und Schulungen für die Mitarbeiter, um aus solchen Situationen wieder rauszukommen.

Durch Gefährdungs- und Belastungsanalysen in den Rettungsstellen gucken wir, wie man noch mehr Sicherheit schaffen kann - durch Schutzräume oder Alarm-Taster in der Rettungsstelle. Ein sehr wichtiger Baustein in unserem Sicherheitskonzept ist, dass wir 24 Stunden Security haben, die an der Vordertür stehen und in der Rettungsstelle patrouillieren - und so zum einen Aggression vermeiden, und zum anderen dann auch schnell helfen können, wenn es zu eskalieren droht.

Wer verübt denn diese Übergriffe, und warum?

Das sind zum einen Menschen, die mit der Versorgung unzufrieden sind. Dann gibt es die Fälle von Alkohol, Drogen und psychischen Erkrankungen, wo man auch sagen kann: Der Mensch ist jetzt nicht Herr seiner Sinne. Da kann man keine böse Absicht unterstellen.

Aber es gibt dann tatsächlich auch eine Gruppe von Menschen, die mit Absicht Unruhe stiften. Und dann entwickelt sich schon eine gewisse Wut bei uns, weil man einfach nicht in der Lage ist, seinen Job zu machen. Weil meine Mitarbeiter täglich zur Arbeit kommen, um Menschen zu helfen. Und wenn sie dann dabei noch beschimpft oder daran gehindert werden, dann ist es natürlich total unzufriedenstellend.

Es aber kein Phänomen, was bei uns in der Notaufnahme nur auftritt, sondern das sehen wir in allen Notaufnahmen in Deutschland. Wir haben hier im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain wahrscheinlich die größte Notaufnahme von Berlin. Das bedeutet, dass bei uns natürlich auch viele Fälle auftreten - und es auch in Bezug auf die Polizeieinsätze nicht verwunderlich ist, dass bei uns die meisten registrierten Einsätze sind.

Es gibt keine niedergelassenen Ärzte, die in ausreichendem Umfang Notfallversorgung anbieten, die in Pflegeheime gehen, die auch außerhalb der Regelarbeitszeit zur Verfügung stehen.

Hat sich hierbei etwas verändert im Laufe der Jahre?

Ich habe schon den Eindruck, dass die Gewalt zunimmt. Zum einen fallen Hemmungen, und es ist die Bereitschaft auch nicht mehr da, aufeinander Rücksicht zu nehmen.

Und zum anderen werden die Menschen auch, was die Notfallversorgung anbelangt, so ein bisschen alleingelassen und wissen nicht: Wo sollen sie eigentlich hingehen in der Stadt? Es gibt keine niedergelassenen Ärzte, die in ausreichendem Umfang Notfallversorgung anbieten, die in Pflegeheime gehen, die auch außerhalb der Regelarbeitszeit zur Verfügung stehen. Und dementsprechend trifft sich dann diese Patientenklientel bei uns. Und dann ist es vorprogrammiert, dass sie bei uns nicht das bekommen, was sie sich erhoffen und das frustriert. Das können wir natürlich nachvollziehen.

Würde mehr Personal in der Rettungsstelle helfen?

Das Geschehen hat viele Ursachen. Der Fachkräftemangel ist zwar auch auf den Rettungsstellen angekommen. Aber das Geschäft in der Notaufnahme ist durch das schwankende Patientenaufkommen ja nicht wirklich vorhersehbar. Das heißt, es gibt immer unplanbare Spitzenzeiten, wo viele Patienten neu eintreten. Das kann man in der Personalplanung nicht so berücksichtigen.

Das heißt, es wird immer Situationen geben, wo die Anzahl an Patienten so hoch ist, dass die vorhandenen Mitarbeiter sich nicht in dem Umfang um die Menschen kümmern können, um vielleicht schon früh Aggression zu erkennen und deeskalierend eingreifen zu können. Es wäre eine viel zu einfache Rechnung zu sagen: mehr Personal, weniger Gewalt in Notaufnahmen.

Die Rettungsstelle des Vivantes-Klinikums in Berlin-Friedrichshain am 18.08.2022 (Quelle: rbb).Die Rettungsstelle im Vivantes-Klinikum.

Aber wie kann das System verbessert werden?

Das ist eine komplexe Frage. Man muss sich die Frage stellen, ob die Notfallversorgung in den Notaufnahmen überhaupt richtig finanziert ist. Dazu gehört auch die Security. Die Kosten dafür tragen wir als Krankenhaus allein. Und es scheint in Berlin nicht die ausreichenden Strukturen und auch nicht den zeitlichen Rahmen zu geben, dass die Menschen sich woanders behandeln lassen können. Sondern sie strömen in die Notaufnahmen. Das muss geändert werden. Es muss eine bessere Abstimmung geben zwischen den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern, und die Politik muss die Strukturen, die die Krankenhäuser vorhalten, refinanzieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Norbert Siegmund und Sylvia Tiegs, rbb24 Abendschau und rbb24 Inforadio

Sendung: rbb24 Abendschau, 18.08.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Sylvia Tiegs

24 Kommentare

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  1. 24.

    Es ging um die Frage von @sententia - 19.08.2022 - 19:55Uhr
    "... Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die nach der Ursache und ob man da gesellschaftlich gegensteuern kann? ..."

    Darauf war meine Antwort mit den Füßen auf dem S-Bahnsitz nur ein Beispiel.

    @Tilda: "... Nun ist das aber so eine Frage, ob es mir überhaupt zusteht, mir völlig Fremde zu maßregeln. Die konnte ich mir bislang immer mit einem Nein beantworten. Ich wechsle den Waggon und gut. :) ..."
    Zwischen "maßregeln" und einem "Hinweis" besteht für mich schon ein Unterschied.
    Bringt es uns im Zusammenleben weiter, wegzuschauen?

  2. 23.

    Und dann gibt es noch Bestrebungen, noch mehr Drogen freizugeben. Dann werden solche Störungen der Hilfskräfte weiter zunehmen, weil die Konsumenten "nicht mehr Herr ihrer Sinne" sind, wie es der Vivantes-Mann treffend beschrieben hat.

  3. 22.

    Da finde ich laut und ewig telefonierende Poser, Handymusik auf Lautsprecher Hörende, Musiker mit ihren Verstärkern, die Geld erspielen möchten sowie alkohol- und urindurchtränkte Mitmenschen, welche eine ganze Sitzbank beschlafen, wesentlich schlimmer. Da sind hoch gelegte Quanten der sowieso gegen alles und jeden rebellierenden Pubertiere vergleichsweise harmlos.

    Nun ist das aber so eine Frage, ob es mir überhaupt zusteht, mir völlig Fremde zu maßregeln. Die konnte ich mir bislang immer mit einem Nein beantworten. Ich wechsle den Waggon und gut. :)

  4. 21.

    Ich finde es beschämend, dass Menschen die anderen in Not helfen wollen beleidigt, bespuckt oder sogar angegriffen werden.

  5. 19.
    Antwort auf [Tom] vom 19.08.2022 um 20:26

    Ich würde aber behaupten, dass es bis auf diese "Chaostage" bei der Mehrheit noch Respekt vor Amtspersonen gab, nicht 30 auf 3 andere einprügelten, nicht ein Messer gezogen wurde, wenn man darauf hinwies, die Schuhe in der Sbahn vom Sitz zu nehmen usw. usw.

  6. 18.

    "... Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die nach der Ursache und ob man da gesellschaftlich gegensteuern kann? ..."
    Ich glaube, dies fragen sich sehr, sehr viele Menschen in unserer Gesellschaft.

    M.E. muss die Polizeipräsenz verstärkt werden (schlimm, dass ich das sagen muss, wollte nie in einem Polizeistaat leben) und nicht nur mit Du-Du-Finger, sondern "hart" durchgreifen.

    Zum anderen muss die Justiz schneller und wirksamer arbeiten/urteilen.
    Richterin Heisig (leider nicht mehr unter uns) hatte m.E. genau den richtigen Ansatz:
    Jugendliche zeitnah für "ihre Taten" zur Verantwortung ziehen.

    Und drittens: Hinweise/"Zurechtweisung" untereinander
    Leider traue ich mich aber auch immer weniger z.B. Jugendliche in der SBahn auf ihr "unflätiges" Verhalten hinzuweisen.

  7. 17.

    "Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die nach der Ursache und ob man da gesellschaftlich gegensteuern kann?" Ganz ehrlich: bei mir schwindet die Hoffnung, dass man da gesellschaftlich noch etwas erreichen kann.
    Schlimm finde ich auch den Text "wo Drogen und Alkohol im Spiel sind, darf man den Leuten das nicht ankreiden (sinngemäß) - wann und wie soll sich denn was ändern?

  8. 16.

    Anti-Aggressions- und Deeskalationstraining brauchen die Täter, nicht die Opfer.

  9. 15.

    Mir fällt da gerade der Wunsch der Grünen zur Legalisierung diverser Drogen ein. Dürfte dann noch "lustiger" werden. Ansonsten zieht sich dieses Phänomen leider durch alle Bereiche des Lebens. Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Das Ganze ist auch nicht auf einzelne Personengruppen beschränkt, äussert sich nur manchmal unterschiedlich. Und nein, früher war manches anders. Die Masse an Security überall gab es nicht, man kam in jedes Bezirksamt und auch in jede Polizeistation. Security in Krankenhäusern und Freibädern, wo endet das? Security in Schulen? Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die nach der Ursache und ob man da gesellschaftlich gegensteuern kann?

  10. 14.

    Nein, "früher" hatte man Respekt , ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass man Ärzte, Polizei oder Rettungsdienste angegriffen hätte. Leider greift es immer mehr um sich, seinen "Willen" um jeden Preis, notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Dann spielen vielleicht noch Sprachbarrieren eine Rolle (nein, ich bin kein Rassist!) und schon entsteht aus einem Missverständnis ein handfester Streit.
    Und die Klientel, die durch Alkohol oder Drogen nicht zurechnungsfähig ist, hat ja sowieso ihre eigenen oder gar keine Regeln.

  11. 13.

    Haben Sie denn direkt vor Ort einen Mitarbeiter um Abhilfe gebeten? Manchmal hilft reden, in vielen Kulturen ist es scheinbar üblich, dass die gesamte Bagage zum Krankenbesuch anrückt, die Menschen kennen es nicht anders, haben sich wahrscheinlich gewundert, dass die Zimmernachbarn so wenig Besuch hatten.

  12. 12.

    Das hat nichts mit Rassismus zu tun.
    Selbst bei meinen Eltern, welche zu unterschieichen Zeiten in unterschieichen Krankenhäusern lagen erlebt.
    Die Genesung der anderen Patienten wird durch ganztägige, z.T. laute und viele Besuche nicht gerade gefördert

  13. 11.

    Wo ist unser geliebtes Heimatland gelandet ?
    Krankenhäuser, Schwimmbäder oder auch Schulen , wat iss los.

  14. 10.

    ".. Latenter Rassismus in der Gesellschaft ist übrigens Teil der Ursache ..."
    Aha, wenn man es nicht gut findet, dass eine Großfamilie zum Krankenbesuch kommt oder sich 60 Bekannte vor einem KH versammeln, darf man dies nicht äußern und wird in die "Rassisten-Ecke einsortiert"?
    So soll unsere Gesellschaft miteinander leben?

  15. 9.

    Wo ist in den Beiträgen nur ein Hauch von Rassismus zu erkennen? Wenn dann findet der in deinem Kopf statt.

  16. 8.

    Latenter Rassismus in der Gesellschaft ist übrigens Teil der Ursache, @Günther und Max.

  17. 7.

    War das früher tatsächlich auch schon immer so?

  18. 6.

    Sie könnten aber auch dafür sorgen, daß derjenige gar nicht erst hineinkommt. Das sollte das Krankenhaus auch versuchen, Das verursacht aber wieder Kosten, die an anderer Stelle besser angelegt wären.

  19. 5.

    "Aber es gibt dann tatsächlich auch eine Gruppe von Menschen, die mit Absicht Unruhe stiften."

    Als ich im Krankenhaus lag, kamen täglich ca. 20 Besucher zu einem Migranten und hielten sich stundenlang im Zimer auf. Sie besichtigten die anderen Patienten, deren Krankenblätter und die Kleiderschränke. Als ich eine Behandlung im Zimmer bekommen sollte, hat die Besucher endlich eine Krankenschwester herausgebeten. Warum habendie Krankenhäuse eine derartige Besucherregelung ?

  20. 4.

    Wenn jemand mein Haus trotz Aufforderung nicht verlässt, ist das Hausfriedensbruch. Für die Beseitigung dieser Person und weitere Verfolgung dieser Straftat ist nur und ausschließlich die Polizei zuständig und kein Wachschutz!

  21. 3.

    Sie müssen das Hausrecht auch durchsetzen können, das geht nur mit Security an der Tür. Wenn plötzlich 60 Leute auftauchen, reicht ein 'Bitte gehen Sie wieder!' schon lange nicht mehr aus.

  22. 2.

    Es kann nicht sein, dass ein Patient seine ganze Verwandtschaft als Begleitung mitbringt. Hier sind die Kliniken gefordert, rigoros von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und ein sofortiges Verlassen des Geländes zu verlangen!

  23. 1.

    Die Dystopie ist längst Gegenwart. Es wird aufgerüstet, anstatt gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern. Wohin führt das noch, wenn nicht endlich gegengesteuert wird?

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