Urteil am Amtsgericht Tiergarten - Richter verhängt Freizeitstrafe gegen Aktivisten der "Letzten Generation"

Di 30.08.22 | 18:54 Uhr | Von Ulf Morling
Der verurteilte Klimaaktivist Nils R. sitzt mit seinem Anwalt im Gerichtssaal (Bild: rbb/Morling)
Video: rbb24 Abendschau | 30.08.2022 | Bild: rbb/Morling

Im Juni klebt sich ein 20-Jähriger mit seinen Händen auf dem Berliner Stadtring fest. Der Verkehr kommt zum Erliegen. Am Dienstag wird der Mann schließlich verurteilt – als erster Aktivist in rund 200 Strafverfahren wegen Straßenblockaden. Von Ulf Morling

Wegen Nötigung ist Nils R. am Dienstag vom Amtsgericht Tiergarten zu 60 Stunden Freizeitarbeit nach dem Jugendstrafrecht verurteilt worden. Am 29. Juni 2022 habe der 20-Jährige mit sechs weiteren Aktivisten die Berliner Stadtautobahn in Wedding etwa 20 bis 30 Minuten lang blockiert, hieß es im Urteil. Mit Transparenten hatten sich die Mitglieder der Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" auf die Straße gesetzt und mit Sekundenkleber ihre Hände mit dem Asphalt verklebt.

Gegen einen ursprünglichen Strafbefehl wegen Nötigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamten über 450 Euro hatte der Student Widerspruch eingelegt. Im Prozess hatte sich aus Sicht des Jugendrichters der Vorwurf des Widerstands nicht erwiesen. Der 20-jährige Student der Philosophie hatte im Prozess ein Geständnis abgelegt.

"Es tut mir leid, aber wir müssen stören"

Kurz nach 8 Uhr am 29. Juni hatten die Aktivisten der Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" im Wedding die A100 blockiert. In ihrer Pressemitteilung schrieben die Aktivisten unter anderem "Diesmal blockieren die Bürgerinnen und Bürger direkt auf der A100, um auf die Lebensbedrohlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen." Schon kurz nach dem Festkleben auf den drei Spuren der Autobahnabfahrt hatten sich im Berufsverkehr Staus gebildet.

Autofahrer, die zur Arbeit fuhren, Lkw, Versorgungsfahrzeuge steckten fest. Nils R. erklärte dazu in seinem Prozess: "Es tut mir leid, dass wir stören müssen, aber wir müssen stören." Noch viel mehr leid tue es ihm, dass die Bundesregierung nicht unserer Lage entsprechend handele, sagte er in Richtung von Jugendrichter Günter Räcke. Nils R. erklärte, dass immer zwei der Teilnehmer solcher Aktionen sich nicht auf der Straße festklebten, um in Notfällen Fahrzeuge immer passieren lassen zu können.

Am Tattag seien es darüber hinaus nur ein paar Minuten gewesen, während der die Autos am Weiterfahren gehindert gewesen wären. Auf dem Twitteraccount der Gruppierung schrieb ein durch die Aktion erzürnter Berliner: "... wer nix weiß und auch nix ist, der wird Klimaaktivist ... In Frankreich würde man euch von der Straße unter ruppen". Zwei "Gefällt mir"- Herzen sind unter dem Tweet zu sehen.

Moralisch-rechtliche Diskussion um Mittel des Widerstands

Stundenlang diskutierte im Laufe der Verhandlung Jugendrichter Räcke mit der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger des Angeklagten über das Recht, auf Missstände hinzuweisen mit Straßenblockaden, die oft mehrere Stunden dauern könnten. Was sei denn wichtiger, fragte der Richter: das Grundrecht auf Fortbewegung der Autofahrer oder das Recht der Letzten Generation, alle Möglichkeiten zu nutzen, um auf das Überlebensproblem der Erde hinzuweisen und sich einzusetzen im Sinne des Überlebens der Erde?

Könne man die Rechte eines anderen einfach verletzen, nur weil man glaube, das Richtige zu tun? Etwa 30 Zuhörer, viele von ihnen Klimaaktivisten, ein Dutzend Journalisten hörten der angeregten Diskussion der Prozessbeteiligten über die Zukunft unseres Planeten zu. Der 20-jährige angeklagte Philosophiestudent aus Leipzig nahm ab und zu Stellung, um sich und das Anliegen der "Letzten Generation" zu erklären: "Selbst einfache Forderungen wie ein Tempolimit werden nicht umgesetzt, obwohl wir eigentlich die Notbremse ziehen müssten!", sagte er und berichtete, wie sein Leben in "angenehmer Ignoranz" sich jäh geändert habe, als er "begann, sich doch mal intensiv mit dem Klima zu beschäftigen." So sei er zur "Letzten Generation" gekommen.

"Letzte Generation" seit 2022 mit Autobahnblockaden in Berlin aktiv

Die Aktionen der Umweltschutzgruppierung begannen 2021 mit Aktionen des gewaltfreien zivilen Ungehorsams wie Hungerstreiks, um Lebensmittelverschwendung anzuprangern. Am 24. Januar dieses Jahres blockierten Aktivisten der Umweltschutzguppierung dann erstmals in Berlin Autobahnausfahrten der A103 und A114. Allein bis März 2022 hatte die Berliner Polizei 44 Aktionen aufgelöst. Seitdem kleben sich die Mitglieder der Gruppe regelmäßig mit ihren Händen auf viel befahrenen Straßen deutscher Großstädte wie Berlin fest, aber auch Hafenzufahrten wie in Hamburg werden blockiert.

Inzwischen ist die Gruppe auch in anderen Ländern Europas aktiv. Aus Schweden meldeten die Aktivisten in einer Presseerklärung am 29. August, dass sich zwei 30- bzw. 40-jährige deutsche "Unterstützer der Letzten Generation" dort immer noch in Untersuchungshaft befänden. Bei einer friedlichen Sitzblockade zum Thema Sumpfgebiete hätten die beiden Aktivisten "von der schwedischen Regierung (gefordert), den Torfabbau zu verbieten und die für das Klima so wichtigen Sumpfgebiete wiederherzustellen." Gegen den 40-jährigen Beschuldigten sei jetzt Anklage erhoben worden und dem Vater zweier Kinder drohten bis zu vier Jahren Haft, "weil er nicht bereit ist, die Zerstörung unserer Lebensgrundlangen hinzunehmen."

Verurteilung wegen Nötigung

Verteidiger Lukas Theune beantragt kurz vor dem Urteilsspruch gegen Nils R., den Leiter des Klimainstituts in Potsdam als Sachverständigen zu laden. Er soll berichten, wie viele Opfer die Klimakatastrophe schon heute weltweit gefordert hat bei Stürmen, Trockenheit und auch Jahrhunderthochwassern wie in Deutschland. Immer wieder wird die Frage gestellt, die ernsthaft diskutiert und rechtlich erörtert wird: Wer hat das Recht, seine aus seiner Sicht überlebenswichtigen Ziele umzusetzen? Darf man sich einfach auf die Straße setzen und die Autofahrer im Stau stehen lassen, um sie auf die Wichtigkeit des Themas "Klimakatastrophe" hinzuweisen?

Nein, ist die eindeutige Antwort im Urteil. "Niemand darf einen anderen zum Werkzeug machen, seine politischen Ziele umzusetzen", so Jugendrichter Räcke während der Urteilsbegründung. Nils R. habe mit der Teilnahme an der Sitzblockade und dem Festkleben seiner Hände am Asphalt die Autofahrer 20 bis 30 Minuten daran gehindert, ihr Grundrecht auf Fortbewegung ausüben zu können. Das Demonstrationsrecht sei in diesem Fall nicht höher zu bewerten. Es gäbe keinen Anlass, andere Grundrechtsträger "zu belästigen". Trotzdem erkenne er "das berechtigte Fernziel" des Angeklagten an, die Klimakatastrophe zu verhindern und die Politik zu bewegen, alles dafür zu tun. "Es muss aber andere Wege geben!", fügt er hinzu. Aus dem Zuschauerraum flüsterte ein Zuhörer fragend: "Und welche?" Am Donnerstag steht der nächste Klimaaktivist vor Gericht.

Sendung: rbb24 Abendschau, 30.08.2022, 19.30 Uhr

Beitrag von Ulf Morling

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