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Video: rbb24 Abendschau| 19.12.2023 | Jo Goll, Norbert Siegmund und Arndt Breitfeld | Quelle: dpa/Soeder

7. Jahrestag des Terroranschlags in Berlin

Anschlag auf dem Breitscheidplatz: "Zeit heilt keine Wunden"

Sieben Jahre nach dem islamistischen Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz leiden die Hinterbliebenen und die Verletzten noch immer unter den Folgen. Die aktuellen Bilder von Terror und Krieg in Nahost verstärken dabei die Erinnerung an das Grauen. Von Jo Goll und Norbert Siegmund

Punkt 20:02 Uhr schlagen Dienstagabend die Glocken der Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz. 13 Mal werden sie erklingen - symbolisch für jeden Toten des islamistischen Terroranschlags vom 19. Dezember 2016.

Bei dem Gedenken werden auch Astrid Passin und Gerhard Zawatzki dabei sein. Passin verlor damals ihren Vater, der auf dem Weihnachtsmarkt mit Freunden Glühwein trinken wollte. Zawatzki rettete als Ersthelfer einem Menschen das Leben, ein anderer starb in seinen Armen. Am Mahnmal an den Treppen zur Gedächtniskirche legt Astrid Passin eine Rose für ihren Vater ab, entzündet eine Kerze. Die Namen der Toten sind dort in die Treppenstufen eingelassen, die Buchstaben sind bereits verwittert, man muss genau hinsehen, um die Namen noch lesen zu können.

"Zeit heilt keine Wunden", sagt Astrid Passin. Das habe sie in den vergangenen Jahren lernen müssen, denn der Schmerz komme immer wieder, besonders in der Vorweihnachtszeit. Gerhard Zawatzki nimmt sie, die zwei Köpfe kleiner ist als er, in den Arm. Er habe hier keinen Namen stehen, der mit ihm verwandt sei, sagt er. Dennoch spüre er eine tiefe Trauer und Verzweiflung. "Ich konnte einen Menschen retten, aber ein anderer ist in meinen Armen gestorben und das berührt mich immer sehr. Das ist ganz schwierig zu ertragen, dass man nicht in der Lage ist, jemandem zu helfen, der noch fünf Minuten zuvor zufällig neben einem gestanden ist und fröhlich war und im nächsten Augenblick im Sterben vor einem liegt."

Astrid Passin und Gerhard Zawatzki | Quelle: rbb

Der Krieg in Nahost lässt Ängste wieder hochkommen

Astrid Passin und Gerhard Zawatzki kämpfen bis heute mit den Folgen dieser traumatischen Erlebnisse, beide sind bis heute in psychologischer Behandlung. Die aktuellen Bilder des Anschlags der radikal-islamistischen Hamas am 7. Oktober auf Israel, die gestiegene Terrorgefahr - all das lässt alte Ängste in den beiden wieder hochkommen. "Mir war sehr klar, dass es Terrorismus immer gab und dass er auch nie weg war", erzählt Astrid Passin. Was sie jetzt täglich an Bildern aus Israel und Gaza sehe, beeinflusse ihr Leben massiv. "Das löst unwahrscheinliche Angst aus und die kann man sich ja nicht wegdenken. Die ist einfach da und die ist jetzt natürlich wieder sehr massiv."

Gerhard Zawatzki hört Astrid Passin aufmerksam zu und ergänzt: "Wenn ich daran zurückdenke, wie ich hier die Verletzten vorgefunden habe und die sterbenden Menschen in der Dunkelheit gesehen habe: Das sind Bilder, die sich sehr gleichen mit dem, was wir jetzt in Israel sehen mussten. Nur war bei uns - Gott sei Dank - dieses Szenario nach einer Nacht verschwunden, wohingegen die Menschen in Israel das jetzt über mehrere Wochen hin ertragen und mit dieser Situation leben müssen und ein ganzes Land wie paralysiert ist."

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Die Narben bleiben

Gerhard Zawatzki und Astrid Passin finden nur schwer in ihr altes Leben zurück. Der geborene Münchner konnte seinem Job als IT-Spezialist mehrere Jahre nicht mehr nachgehen, hat seit 2021 beruflich aber wieder Fuß gefasst. Er ist jetzt wieder viel unterwegs, aber der Job, so erzählt er, verlange ihm heute viel mehr ab als früher. "Es bleiben immer Narben, aber ich habe gelernt, mit diesen Narben zu leben und damit umzugehen." Er sei im Leben zwar wieder voll aktiv, aber es sei ein stetiger Prozess mit dem Ereignis umzugehen, es sei immer da. "Man hat einfach Erlebnisse gehabt und die werden nicht verschwinden."

Gerhard Zawatzki leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn täglich fordert. Die Bilder der Nacht kommen immer wieder und belasten den 59-Jährigen sehr. Astrid Passin war am 19. Dezember 2016 nicht auf dem Breitscheidplatz, doch der Verlust ihres Vaters durch den Terrorakt belastet sie immens. Auch bei ihr wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Sie musste ihren Mode-Laden inzwischen aufgeben, hat sich über ein Fernstudium weitergebildet und versucht nun, im Bereich Public Relation Fuß zu fassen.

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Neuer Verein für Terroropfer

Astrid Passin und Gerhard Zawatzki haben in den vergangenen Jahren Verbindungen zu anderen Betroffenen von Terroranschlägen aufgenommen. Dabei sind Kontakte zu Menschen entstanden, die verstehen können, was die beiden seit Jahren durchmachen. Sie haben Opfer und Hinterbliebene des Terroranschlags auf das Münchner Oktoberfest von 1980 kennengelernt. Oder eine Frau, die 1977 in der Lufthansa-Maschine Landshut saß, die von palästinensischen Terroristen entführt wurde. Als die Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes GSG9 das Flugzeug am 18. Oktober 1977 stürmte, wurden drei der vier Entführer erschossen.

Die Geiseln überlebten zwar, doch die Frau, die Passin und Zawatzki jüngst kennenlernten, leidet bis heute an den Folgen der fünftägigen Entführung. Und kämpft mit Problemen, die die beiden bestens kennen. Zawatzki beispielsweise erzählt, dass er in der vergangenen Woche vom Versorgungsamt die Kostenübernahme für seine Medikamente bekommen hat. "Darauf musste ich dieses Mal viereinhalb Monate warten. Üblicherweise musste ich sechs Monate warten und dann auch mit Unterstützung von Rechtsanwälten vorgehen, um überhaupt Bescheid zu bekommen", erzählt er.

Die Frau, die 1977 mit der Landshut von Terroristen entführt wurde, habe bis heute ähnliche Geschichten zu berichten. Aus diesen und ähnlichen Erfahrungen heraus haben sich Astrid Passin und Gerhard Zawatzki dazu entschlossen, einen international vernetzten Verein für Terroropfer zu gründen. Er soll VOT-Germany (Victim Of Terrorism) heißen. Weniger Bürokratie, mehr und schnellere Hilfe, individuelle Betreuer für alle Betroffenen - dies und mehr soll der Verein bald leisten. Auch weil die eigenen Erfahrungen nach dem Anschlag nicht gut waren. Sobald man mit Versorgungsämtern zu tun habe, erzählen sie, bedeute dies immer Bürokratie und einen hohen Zeitaufwand. Es sind Erfahrungen, die Überlebende von Terroranschlägen immer wieder machen. Doch schon im kommenden Januar soll das neue Opferschutzgesetz in Kraft treten. "Dann soll ja vieles besser werden", sagt Astrid Passin zum Abschied.

Sendung: rbb24 Inforadio, 19.12.2023, 06:40 Uhr

Beitrag von Jo Goll und Norbert Siegmund

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