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Audio: rbb24 Inforadio | 30.12.2022 | Vis à vis mit Bettina Kohlrausch | Quelle: dpa/Kay Nietfeld

Interview | Soziologin über steigende Armut

"Armut hat das Potenzial, Gesellschaften zu destabilisieren"

Corona, Kurzarbeit - und jetzt die Energiekrise: Immer mehr Menschen sind in Deutschland inzwischen von Armut betroffen. Das hat weitreichende Folgen für die ganze Bevölkerung, warnt die Soziologin Bettina Kohlrausch.

rbb|24: Frau Kohlrausch, die Energiepreise steigen seit Monaten enorm. Wir erleben geradezu eine Preisexplosion. Was hätte die Ampel-Regierung aus Ihrer Sicht anders machen können, um die Menschen zu unterstützen?

Bettina Kohlrausch: Es gab eine sehr lange Debatte, ob man die Energiepreise drosselt. Am Ende hat man sich auf die Gaspreis-Bremse geeinigt. Es wäre gut gewesen, da schneller zu sein. Das gilt auch für das Bürgergeld. Die Inflation wird gerade für die unteren Einkommen ganz wesentlich getrieben durch die gestiegenen Energiepreise. Dieser Inflationsausgleich kommt im Bürgergeld - aber eben erst im Januar. Auch da wäre es gut gewesen, einfach schneller zu sein.

Zur Person

Sie sprechen bei der Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar von Inflationsausgleich. Höre ich da raus, dass Sie das kritisieren und sagen, das ist zu wenig?

Genau. Wenn man diesen Inflationsausgleich macht, hätte man das eher machen müssen, weil die Inflation nicht erst am 1. Januar 23 angefangen hat. Das zweite ist, dass es beim Bürgergeld meines Erachtens nicht reicht, zu sagen, wir machen nur einen Inflationsausgleich. Es gibt zwar Berechnungen, die sagen, die Steigerung beim Bürgergeld bildet die Inflation ganz gut ab.

Aber darüber hinaus hat zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband schon vor der Inflation gesagt, dass das Bürgergeld nicht armutsfest ist und eigentlich gut 200 Euro mehr sein müsste. Das heißt, was jetzt abgebildet wird durch die Erhöhung des Bürgergeldes, ist zwar der Inflationsausgleich, aber eben nicht die Bedarfe, die eigentlich schon vorher über dem lagen, was im Bürgergeld abgebildet wird.

Was bedeutet das für die Armut in Deutschland?

Wir haben uns die Zahlen zur Entwicklung der Armut in unserem Verteilungsbericht bis vor der Corona-Krise angeschaut, aktuellere Zahlen haben wir leider nicht. Da haben wir gesehen, dass schon 2019 die Zahl der Menschen, die arm sind, mit 16,8 Prozent auf einem Höchststand war. Auch die Zahl der sehr Armen ist auf einem Höchststand ebenso wie die sogenannte Armutslücke: Die beziffert die Summe, die die Menschen bräuchten, damit sie nicht mehr arm sind. All das ist bereits vor der Krise auf einem Höchststand gewesen.

Wir haben zudem Erwerbspersonen befragt, wie sehr sie betroffen sind durch die Corona-Krise und durch die gestiegenen Energiepreise. Das haben wir zuletzt im April dieses Jahres gemacht und gesehen, dass die unteren Einkommensgruppen - die schon vor der Krise stärker von Armut bedroht oder belastet waren - besonders stark auch von diesen Krisen betroffen sind. Deshalb ist meine Befürchtung, dass sich die Armut im Zuge dieser Krisen nochmal verfestigen wird.

Ich bekomme das derzeit im Bekanntenkreis mit: Gerade die Energiepreise sind ein großes Thema, die Rechnungen, die derzeit reinflattern. Wie ist es bei Ihnen im Bekanntenkreis oder im Institut? Ist das auch ein großes Thema?

Klar ist das ein Thema. Aber es bringt die Mitarbeiter nicht an die Existenzgrenze. Wir hatten bei den mittleren Einkommen ganz ordentliche Lohn- und Gehaltsentwicklungen, so dass die in gewisser Weise weniger bedroht sind als die unteren Einkommen, die von solchen positiven Entwicklungen vor der Krise weitestgehend abgekoppelt waren.

Man muss darüber nachdenken, wie wir eine stabile Lohnentwicklung in diesen Zeiten gewährleisten können, um die Menschen vor diesen Belastungen zu schützen. Denn sicherlich kann man durch staatliche Interventionen und Hilfen gerade für die unteren Einkommen zusätzliche Unterstützung leisten. Aber die Menschen wollen sich auch durch ihre eigene Arbeit soziale Sicherheit erarbeiten können. Das bietet den Menschen ein ganz anderes Sicherheitsgefühl und einen anderen Schutz.

Steigende Lebenshaltungskosten

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Die steigenden Preise in essenziellen Bereichen des Lebens könnten schon bald Menschen in die Armut treiben, die oberhalb der offiziellen Armutsrisikoschwelle liegen. Statistisch erfassbar ist das noch nicht, aber zu beobachten. Von Simon Wenzel

Sie führen auch Befragungen dazu durch, wie zufrieden die Menschen mit dem Krisenmanagement der Regierung sind. Gibt es da schon erste Ergebnisse? Kann man schon absehen, welche Auswirkungen die derzeitigen Krisen auf die Gesellschaft haben?

Man kann ganz grundsätzlich ein paar Zusammenhänge aufzeigen. Wir führen jetzt gerade wieder Befragungen durch - die aktuellen Zahlen zur Einschätzung des Krisenmanagements und damit eben auch der jüngsten Entlastungspakete haben wir noch nicht. Aber wir haben schon in der Corona-Krise gesehen, dass das Vertrauen in die Institutionen bei diesen Menschen, die besonders stark belastet sind, geringer ist. Wenn die Menschen beschreiben, sie haben Einkommenseinbußen oder wenn sie sich Sorgen machen um ihre finanzielle Zukunft - das führt generell zu einer gewissen Entfremdung vom politischen System.

Wir haben auch gesehen, dass Menschen, die entfremdet sind von diesem politischen System, zum Beispiel staatlichen Institutionen weniger vertrauen, dass sie tendenziell anfälliger sind für Verschwörungserzählungen - sowohl im Hinblick auf die Corona-Krise als auch im Hinblick auf den Ukraine-Krieg. Deshalb finde ich es wichtig, da genau hinzugucken. Ich glaube, dass Armut generell das Potenzial hat, Gesellschaften zu destabilisieren. Damit trifft es nicht nur diejenigen, die unmittelbar von Armut betroffen sind - wobei das schon schlimm genug ist.

Wen trifft die Armut besonders hart?

Häufig sind zum Beispiel Alleinerziehende betroffen. Wenn Kinder in armen Haushalten aufwachsen, reicht das weit in die Zukunft hinein. Zumal das nicht nur eine materielle Not beschreibt, sondern auch die Gesundheit betrifft. Wir wissen, dass arme Menschen zum Beispiel seltener in Urlaub fahren können, dass sie sich nicht ausreichend neue Kleidung kaufen können, dass sie ihre Wohnung nicht ausreichend heizen können. Das wird sich sicher noch mal verstärkt haben durch die jetzige Energiekrise, so dass gerade Kinder in solchen Haushalten um viele Erfahrungen beraubt werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lisa Splanemann. Es handelt sich um eine redigierte und gekürzte Fassung. Die Audiofassung können Sie anhören, wenn Sie oben links auf das Symbol im Bild klicken.

Sendung: rbb24 inforadio, 30.12.2022, 10:45 Uhr

 

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