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Video: Brandenburg aktuell | 28.12.2021 | Carsten Krippahl | Quelle: dpa/Kay Nietfeld

Bundesverfassungsgericht

Kriterien bei Triage müssen gesetzlich geregelt werden

Der Bundestag muss eine gesetzliche Regelung zur Triage beschließen. Dazu wurde das Parlament vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert. Bestehende Kriterien schützten die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend.

Der Bundestag muss "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage treffen. Das Bundesverfassungsgericht teilte am Dienstag in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe. Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt. In der aktuellen vierten Welle der Pandemie kamen zum Beispiel in Brandenburg einige Krankenhäuser an ihre Grenzen. Einige Patienten mussten in andere Bundesländer verlegt werden.

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Charité-Chef spricht von leichter Entspannung

Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD), begrüßte den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Der besondere Schutz von Menschen mit Behinderung sei eine wichtige politische Leitschnur, sagte Giffey am Dienstag nach einem Besuch der Covid-Intensivstation der Charité in Berlin-Mitte. Sie forderte, es müsse alles dafür getan werden, gar nicht erst in eine solche Situation zu kommen.

Aktuell liegen in der Charité rund 80 Corona-Patienten auf der Intensivstation. Klinik-Chef Heyo Kroemer sprach mit Blick auf die Zahl von einer leichten Entspannung. Man könne aber nicht sagen, wie sich die Pandemie in den nächsten Wochen entwickele. Das Wort Triage verwende die Charité nicht, betonte Kroemer. Anders als bei einem Unfall mit 500 gleichzeitig Verletzten, gehe es in der Covid-Pandemie in jedem Fall um individuelle ärztliche Entscheidungen.

"Das hätte mich zum Sterben verurteilt"

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren.

"Die Befürchtung war oder ist, dass ich aufgrund meiner Behinderung schlechter eingeteilt werde und überlebenswichtige Ressourcen im Falle einer Triage nicht bekommen hätte", sagte die Berlinerin Anne Gersdorff dem rbb nach der Entscheidung des Gerichts. Gersdorff gehörte zum Kreis der neun, die Beschwerde eingereicht hatten. "Das hätte mich zum Sterben verurteilt, obwohl ich vielleicht bessere Überlebenschancen als andere Patienten gehabt hätte." Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun Recht.

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Empfehlung der Divi rechtlich nicht verbindlich

Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden. Weil es in Triage-Situationen um das Recht auf Leben gehe, werde der verfassungsrechtliche Schutzauftrag hier zu einer Schutzpflicht. Dieser müsse der Gesetzgeber "unverzüglich" nachkommen. Dabei komme ihm aber "ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum" zu.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat mit anderen Fachgesellschaften "Klinisch-ethische Empfehlungen" erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.

Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und "kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht". Zudem weist es auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".

Bundestag muss gesetzliche Regelung beschließen

Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen, befand das Gericht. Als Beispiel wurden Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen genannt oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort. "Der Gesetzgeber - also der Bundestag - hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind", hieß es in der Mitteilung.

"Teilweise findet bereits eine stille Triage statt", so die Berliner Beschwerdeführerin Gersdorff. Menschen mit Behinderungen oder Älteren werde nahegelegt, Patientenverfügungen anzufertigen und anzugeben, dass sie im Falle einer schweren Covid-Erkrankung keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschen. "Insofern sortieren wir ältere und behinderte Menschen mitunter schon aus, nur dass es nicht auf den Intensivstationen passiert sondern schon vorher", sagte sie.

Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag - den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten.

Sendung: Inforadio, 28.12.2021, 10 Uhr

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