Viele Fälle in Berlin - Hunderte Betroffene klagen über Abzocke auf Wohnungsplattform
Auf einer beliebten Wohnungsplattform soll ein Vermieter hohe Kautionen für möblierte Apartments verlangt haben, die gar nicht frei waren. Dann sei er mit dem Geld untergetaucht, berichten Hunderte Betroffene. Von Sophia Wetzke
Sie heißen Jandira, Raúl oder Anastazja, kommen aus Ungarn, Spanien oder der Türkei - und alle hatten sich auf ein neues Leben in Berlin gefreut: auf den Job in einem Start-up oder auf den Studienbeginn an einer der Universitäten, auf die Clubs und das Nachtleben.
Laura, 27 Jahre alt, ist eine von ihnen. Sie arbeitet für ein internationales Berliner Unternehmen. Monatelang hatte sie auf deutschsprachigen Wohnungsplattformen erfolglos nach einer Bleibe gesucht. Beim Onlinedienst "Housing Anywhere", beliebt vor allem bei ausländischen Wohnungssuchenden, wird sie dagegen sofort fündig. Die europaweit operierende Plattform bringt Anbieter und Wohnungssuchende zusammen. Gegen eine Service-Gebühr übernimmt "Housing Anywhere" auch die - für ausländische Neu-Berliner oft komplizierten - bürokratischen Hürden und wirbt, dass ein plattformeigenes Bezahlsystem ein Extra an Sicherheit bringe.
Vermieter soll versucht haben, Bezahlsystem zu umgehen
Als Laura über "Housing Anywhere" eine Chatnachricht ihres Wohnungsanbieters bekommt, wird sie aber zunächst skeptisch: Ein Profil mit dem Foto einer jungen, blonden Frau bittet sie stellvertretend für ihren neuen Vermieter darum, die gesamte Kaution - 2.500 Euro sind es in Lauras Fall - vorab direkt auf das Konto der externen Vermietung zu überweisen und nicht das System der Plattform zu nutzen.
In einem Social-Media-Post schreibt sie später: "Ich habe Housing Anywhere dann kontaktiert und gefragt: Seid ihr euch sicher, dass das ein seriöses Angebot ist? Ich war letztes Jahr schon mal sechs Monate wohnungslos und wollte das nicht noch einmal erleben. Die meinten nur: Ja, das ist ein exzellenter Anbieter, der wird sein Wort halten, kannst du machen. Das habe ich dann auch."
Laura zahlt - inklusive der ersten Monatsmiete und der Servicegebühr - noch vor Einzug 3.700 Euro. Ohne die Wohnung live gesehen zu haben, ohne einen Schlüssel bekommen zu haben. Und den wird sie auch nie bekommen, denn wenige Tage vor der Übergabe storniert die Vermietung ihre Wohnung plötzlich per Chat-Nachricht - und ist kurz danach nicht mehr erreichbar: Geht nicht ans Telefon, beantwortet keine Mails. Die eigene Website des Vermieters ist plötzlich offline. Das Geld scheint weg.
Auf Social-Media finden Betroffene zusammen
In einer Social-Media-Gruppe für ausländische Fachkräfte in Berlin stellt Laura fest, dass sie mit dieser Erfahrung nicht allein ist: Hunderte Betroffene tauschen sich hier aus, in einem eigens dazu gegründeten Chat. Sie alle berichten fast deckungsgleich dieselbe Geschichte wie Laura: von derselben Vermietung, die mit dem immer gleichen Profil der jungen blonden Frau auf der Plattform kommunizierte, teilweise im selben Wortlaut. Im Schnitt, so ist zu lesen, habe jeder von ihnen 2.000 bis 2.500 Euro vorab an die Vermietung überwiesen. Kurz vor Einzug sei die Wohnung aber gecancelt worden - und der Vermieter wie vom Erdboden verschluckt.
Plattform sieht sich selbst als Opfer
Auf Nachfrage bestätigt "Housing Anywhere", dass es mindestens 337 solcher Fälle bundesweit gebe - der Großteil davon in Berlin, passiert zwischen Mitte und Ende Oktober. In allen Fällen handele es sich um denselben Anbieter.
"Housing Anywhere" sieht sich als Betreiber des Dienstes ebenfalls getäuscht: "Der Vorfall [...] hat uns selbst schockiert. Bis zu diesem Tag gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass [Name der Firma] seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Kunden oder Housing Anywhere plötzlich nicht mehr nachkommen würde. [...] die Prüfung zahlreicher erfolgreicher Vermietungen ergab nichts Auffälliges." Generell würde man Anbieter mehrstufig prüfen, heißt es weiter.
"Housing Anywhere" kündigt an, entsprechende Background-Checks zukünftig noch zu verstärken. Den Betroffenen werde man jetzt die Kosten erstatten, die über das System der Plattform gezahlt worden sind - bei den meisten immerhin die erste Monatsmiete und die Servicegebühr.
Da die Kautionen aber direkt an den Vermieter überwiesen worden seien, könne man als Plattform nachträglich nichts mehr tun. "Der Mietvertrag kommt [...] zwischen Vermieter und Mieter zustande. Diesen Prozess können wir unsererseits nicht überwachen. Andere Zahlungen, z. B. Mietkautionen, liegen außerhalb unserer Kontrolle."
Betroffene suchen neue Bleiben, Vermieter schweigt weiter
Die Betroffenen fühlten sich doppelt betrogen, berichten sie. Erst durch die gute Bewertung des Vermieters auf der Plattform hätten sie sich überhaupt auf Vorab-Überweisungen eingelassen, kritisieren sie. Nur die wenigsten von ihnen sprechen gut Deutsch, geschweige denn, dass sie sich im deutschen Mietrecht auskennen.
Laura und die anderen kommen nun übergangsweise auf der Couch von Kolleginnen unter, leihen sich Geld für neue Wohnungen oder müssen ihren Arbeitsbeginn in Berlin verschieben, bis sie etwas Neues gefunden haben.
Die betreffende Vermietung schweigt derweil weiterhin auf jede Anfrage. Selbst die Plattform berichtet, die Firma nicht mehr erreichen zu können. Eingetragen ist das Unternehmen in der Nähe von Hamburg. Betroffene berichten, auf eigene Faust zur Büroadresse gefahren zu sein, dort aber vor verschlossenen Türen gestanden hätten.
Bei der Polizei laufen seit Wochen Anzeigen gegen den untergetauchten Vermieter ein, auch "Housing Anywhere" selbst hat mittlerweile Anzeige erstattet.
Sendung: Radioeins, 18.11.2022, 09:00 Uhr