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Quelle: dpa/Schoening

Verfehlte Verkehrspolitik

Zehn Gründe für die Dauerkrise bei der Bahn

Die Deutsche Bahn ist in einem schlechtem Zustand – das leugnet sie nicht einmal mehr selber. Die Probleme von heute sind Ergebnis einer verfehlten Verkehrspolitik. Zehn Gründe für die Dauerkrise – und ein paar kleine Schritte heraus. Von Jonas Wintermantel

Es war mal wieder ein Stress-Wochenende für viele Bahnreisende in Deutschland und der Region. Einige Groß-Veranstaltungen, darunter das "Rave The Planet" im Tiergarten, zogen Tausende Bahnreisende in die Hauptstadt. Und: wieder kam es zu Meldungen wie diesen: "Regionalexpress evakuiert", "Hitze-Kollaps", "Fahrgäste laufen über Gleise". Das Ergebnis: gestresste Passagiere und überfordertes Bahn-Personal.

Doch: was sind die strukturellen Probleme der Bahn? Wie konnte es so weit kommen? Und: welche Wege führen aus der Dauerkrise?

Problem Nr. 1: Die veraltete Infrastruktur

Das größte der zahlreichen Probleme bei der Deutschen Bahn ist ohne Zweifel die veraltete und überlastete Infrastruktur – kurz gesagt: es fahren zu viele Züge auf einem veralteten Schienennetz. Auch die Bahn selbst kann den Zustand des Schienennetzes nicht schönreden. In ihrem Netzzustandsbericht aus dem März dieses Jahres beschreibt die Bahn den Zustand ihres Netzes als "alt" und "störanfällig". In einem "schlechten, mangelhaften oder ungenügenden" Zustand seien demnach 26% aller Weichen, 48% aller Stellwerke und 42% aller Bahnübergänge. Gerade einmal 61% des deutschen Schienennetzes sind elektrifiziert.

Keine Neuigkeit für Bahn-Experten wie Prof. Christian Böttger. Der bezeichnete die Veröffentlichung des Berichts im rbb-Interview vergangene Woche als "Skandal": "15 Jahre lang hat die Bahn behauptet, der Netzzustand sei großartig und 15 Jahre lang hat das Eisenbahnbundesamt, das dem Bundesverkehrsministerium untersteht, das bestätigt. Und jetzt auf einmal sagen alle: Da haben wir wohl doch nicht so genau hingeguckt, der Zustand des Netzes ist ganz furchtbar." Laut Böttger habe es dabei an Warnungen nicht gefehlt: "Die Bahn hat den Zustand vertuscht und die Politik hat weggeguckt."

Quelle: dpa/Annette Riedl

Problem Nr. 2: Das überlastete Netz

Das Schienennetz in Deutschland wird immer intensiver genutzt. Es rollen immer mehr Züge über die Gleise, nur wächst das Netz nicht im selben Tempo. Ganz im Gegenteil: Zwischen 1994 und 2022 wurde die Betriebslänge des Bahnnetztes immer weiter reduziert: von 40.385 Kilometern 1994 auf 33.469 Kilometern im Jahr 2022. Außerdem wurde rund die Hälfte der Weichen seit 1994 zurückgebaut. Ohne Weichen kein Ausweichen – so kommt es immer wieder zu Staus auf der Schiene. Der Wieder-Ausbau des Schienennetzes hinkt derweil hinterher. Im Jahr 2022 kamen gerade einmal 74 neue Schienen-Kilometer dazu. Zum Vergleich: Im selben Jahr wurden deutschlandweit rund 10.000 Kilometer neue Straßen gebaut.

Problem Nr. 3: Bauarbeiten und Baustellen

Der geplante Ausbau, die Modernisierung und die Instandhaltung des Bahnnetzes erfordern natürlich umfangreiche Bauarbeiten. Ab Juli 2024 ist eine umfassende Generalsanierung wichtiger Strecken geplant, insgesamt 40 wichtige Strecken-Korridore sollen bis 2030 für Bauarbeiten gesperrt werden. Auch die Art, wie gebaut wird, führt dabei zu Problemen. Denn in Deutschland setzt man bei der Sanierung auf Vollsperrungen – in anderen europäischen Ländern wird üblicherweise "unter rollendem Rad" - also bei laufendem Betrieb - saniert. Hunderte zusätzliche Baustellen in diesem Jahr sorgten mit für eine Pünktlichkeitsquote von gerade einmal 63,5% im Fernverkehr.

Baustelle an einem Bahngleis | Quelle: imago-images

Problem Nr. 4: Große Lücken in der Fläche

Durch den Rückbau des Streckennetzes sind viele Gemeinden und Regionen komplett oder teilweise vom deutschen Schienennetz abgeschnitten worden. An manchem Regionalbahnhof kommt der Zug noch einmal die Stunde. Schon bei einer kleinen Verspätung kann das zu langen Wartezeiten an den Knotenpunkten führen.

Mit Blick auf die Verkehrswende dürfe das nicht aus dem Blick geraten, meint Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes "Pro Bahn": "Es reicht nicht, die großen Korridore zu sanieren. Wir müssen Strecken reaktivieren, und zwar in der gesamten Fläche - vor allem dort, wo selten ein Zug fährt und es nur eingleisige Strecken gibt. Was nutzt es mir, wenn ich an einem Verkehrsknoten ankomme und der nächste Zug erst in einer Stunde kommt?" Neuß rechnet damit, dass die Wieder-Anbindung dieser Regionen 15 – 20 Jahre dauern könnte.

Quelle: dpa/M.Tricatelle

Problem Nr. 5: Die Unternehmensstruktur

Die Deutsche Bahn hält auf Deutschlands Schienen eine Monopol-Stellung. Das hundertprozentige Tochterunternehmen, die DB Netz AG, betreibt die über 33.000 Kilometer Trassen in Deutschland. Diese Monopol-Stellung führt zu einer Benachteiligung privater Eisenbahnverkehrsunternehmen und einem fehlenden Wettbewerb. Im Fernverkehr ist die Deutsche Bahn mit einem Marktanteil von 95% mit Abstand der größte Anbieter. Im Nahverkehr sind es 67%, im Güterverkehr 42%. Die Eisenbahnregulierung legt fest, dass das Netz Gewinne erwirtschaften muss – die Netz AG kann deshalb hohe Nutzungsgebühren verlangen – die natürlich auch zu höheren Preisen führen.

Die Monopol-Kommission, ein unabhängiges Beratungsgremium, das unter anderem die deutsche Bundesregierung berät, fordert schon lange eine Zerschlagung der Deutschen Bahn. Der Staatskonzern solle in eine Infrastrukturgesellschaft und in Transportsparten (für Cargo, Personennah- und Fernverkehr) aufgeteilt werden. Das Ziel: Betreiber und Nutzer der Eisenbahn-Infrastruktur sollen strikt voneinander getrennt werden. Die Ampel-Koalition hat das Thema auf die Agenda gesetzt. Ab dem 1. Januar 2024 soll eine gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft entstehen. Diese solle vom Ziel der Gewinnmaximierung abrücken, Erträge sollen direkt in die Infrastruktur fließen. Das Projekt trägt den Namen "InfraGo".

Interview zum Zustand der Bahn

"Wir sitzen in der Tinte und da wird auch keine Strukturreform kurzfristig helfen"

Nach einem Bericht der Monopolkommission wird erneut eine Zerschlagung des Bahn-Konzerns diskutiert. Ein Berliner Experte für Verkehrswesen erklärt, wieso das alleine die Probleme der Bahn nicht lösen würde.

Problem Nr. 6: Wetterbedingte Störungen

Extremes Wetter wie Stürme, Hochwasser oder starke Schneefälle führen häufig zu Unterbrechungen im Betrieb. Die Bahn, ihre Züge und ihre Infrastruktur sind stark wetteranfällig - und so mehren sich die Berichte von ausgefallenen Klimaanlagen und beschädigten Oberleitungen. Durch den Klimawandel werden diese Extremwetter immer häufiger auftreten – zum Beispiel in Form von Waldbränden - und den Bahnbetrieb weiter strapazieren. Zwischen Frühjahr und Juni 2023 kam es durch solche Brände schon zu 187 Störfällen, wie die Deutsche Bahn dem "Business Insider" auf Anfrage mitteilte.

Problem Nr. 7: Mangelnde und umstrittene Investitionen

Den jüngsten "Sonderbericht zur Dauerkrise der Deutschen Bahn AG" überschreibt der Bundesrechnungshof wie folgt: "Unsere Bilanz ist ernüchternd: Nach vier offensichtlich verlorenen Jahren ist das System Eisenbahn sogar noch unzuverlässiger geworden und die wirtschaftliche Lage der DB AG hat sich weiter verschlechtert. Die Krise der DB AG wird chronisch, der Konzern entwickelt sich zu einem Sanierungsfall, der das gesamte System Eisenbahn gefährdet."

Die Bahn ist chronisch unterfinanziert - über Jahre hat der Bund zu wenig Mittel zur Verfügung gestellt und somit einen riesigen Investitionsstau produziert. 89 Milliarden Euro seien nach dem Netzzustandsbericht der Bahn nötig, um überfällige Sanierungen nachzuholen. Die Bundesregierung will bis 2029 86 Milliarden Euro für die Sanierung des Netzes aufwenden – vermutlich wird damit aber nur der Grundbedarf zu decken sein – eine grundlegende Modernisierung wird noch mehr Geld kosten.

Gleichzeitig wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel Geld in umstrittene Bahnprojekte gesteckt. Das prominenteste Beispiel: Stuttgart 21. Geplant waren dafür einmal Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden D-Mark – inzwischen belaufen sich die Kosten auf 10 Milliarden Euro.

Quelle: dpa / Peter Kneffel

Problem Nr. 8: Personalengpässe

Die Deutsche Bahn ist mit fast 200.000 Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber des Landes. Doch es fehlt in allen Bereichen an qualifiziertem Personal – im Zugbetrieb, in den Werkstätten und in den Stellwerken. Der Personalmangel trifft natürlich nicht nur die Bahn – und er wird aller Erwartung nach in den nächsten Jahren noch weiter steigen.

Eine mögliche Antwort für die Zukunft wird bereits heute ausgetestet: Die Bahn testet zusammen mit anderen Unternehmen im Rahmen des Projektes "Automated Train" das vollautomatisierte Fahren, Bereit- und Abstellen von Zügen. Die Bundesregierung fördert das Projekt mit 42,6 Millionen Euro.

Problem Nr. 9: Arbeitskampf

Der anhaltende Arbeitskampf zwischen der Bahn und der Gewerkschaft EVG hat den Zugreisenden in diesem Jahr schon einiges abverlangt. Die Bahn will weitere Streiks in der Hauptreisezeit im Sommer unbedingt verhindern.

Dafür sollen Ex-Innenminister Thomas de Maizière und die SPD-Politikerin Heide Pfarr vermitteln. Vom 17. Juli bis 31. Juli ist ein Schlichtungsverfahren angesetzt. Es gilt "Friedenspflicht" - das heißt: zumindest in dieser Zeit sind keine Warnstreiks möglich. Schon seit Februar ringen Bahn und Gewerkschaft um höhere Tarife für die Beschäftigten.

Problem Nr. 10: Signalstörungen und Technikprobleme

Wer häufiger mit der Bahn unterwegs ist, weiß: immer wieder sind Störungen in der Signaltechnik, der Leit- und Sicherungstechnik oder der Kommunikationstechnik Grund für Verspätungen und Ausfälle. Betroffen sind vor allem auch die mehr als 2.500 Stellwerke, die zum Beispiel Weichen verstellen oder den Lokführern das Weiterfahren oder Stehenbleiben signalisieren. Einiger dieser Anlagen stammen noch aus der Kaiserzeit, einige arbeiten mit veralteter Technik – mechanische Stellwerke, die mit Muskelkraft bedient werden.

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.07.2023 16:30

Beitrag von Jonas Wintermantel

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