Das Atomuhr-Zeitalter - Die Schaltsekunde hat (vorerst) ausgedient
Seit Einstein wissen wir, dass Zeit relativ ist. Aber was bitte ist eine Schaltsekunde und warum soll diese auch noch abgeschafft werden? Was hat das mit Atomuhren, der astronomischen Zeit und Computern zu tun? Ein Antwortversuch von G.-S. Russew
Die Nachricht flatterte in der vergangenen Woche ganz einfach über die Ticker der Nachrichtenagenturen: Auf das Einfügen von Schaltsekunden soll nach Beschluss einer internationalen Konferenz künftig verzichtet werden. Zusätzliche oder abzuziehende Sekunden, um Uhren mit der astronomischen Zeit in Einklang zu bringen, sollen ab 2035 nicht mehr wie bisher berücksichtigt werden, so die Entscheidung bei der Internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) im französischen Versailles.
Der Begriff Schaltjahr ist geläufig
Bei vielen Menschen in Berlin und Brandenburg stehen Fragezeichen in den Augen. Was ist denn eine Schaltsekunde? Sie bekommen auf die Schnelle gerade noch zusammen, was ein Schaltjahr ist: Das normale Jahr hat 365 Tage - aber alle vier Jahre wird der 29. Februar in den Kalender eingeschoben. Das ist ein Schaltjahr mit insgesamt 366 Tagen.
Der Hintergrund ist ganz leicht erklärt: Die Erde braucht nicht genau 365 Tage, um einmal um die Sonne zu wandern, sondern ungefähr einen Vierteltag mehr. Dieser Vierteltag wird alle vier Jahre zu einem 29. Februar aufaddiert.
Schaltsekunde - Ein paar Nummern kleiner als Schaltjahr
Aber was ist nun eine Schaltsekunde? Salopp formuliert ist es so etwas wie das Schaltjahr - nur einige Nummern kleiner. "Ein Tag ist so lang, wie die Erde benötigt, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen", erklärt Jens Simon von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. In der Anstalt wird mittels Atomuhr die maßgebende Uhrzeit für Deutschland bestimmt, an der sich das ganze Land orientiert. Weltweit laufen laut Simon mehr als 200 Atomuhren. Aus ihren Messungen wird die Koordinierte Weltzeit (UTC) errechnet, erklärt er.
Als Maß für einen Tag galt über den Daumen gepeilt: Einmal um die eigene Erdachse gedreht sind genau 24 Stunden oder 86.400 Sekunden. Jedoch ist die Umdrehungsdauer der Erde laut Simon nicht konstant. "Wenn man es so will, torkelt die Welt ein wenig", sagte Simon.
Somit sind es 86.400 Sekunden plus einen Wimpernschlag. Laut Simon hat das mit der Anziehungskraft des Mondes zu tun, der die Erdrotation verlangsamt. Allerdings beobachtet man seit 2020, dass sich die Erdrotation beschleunigt hat. Warum, wisse man aber nicht genau, so der PTB-Physiker. Eine Negativ-Sekunde hat es deshalb aber noch nicht gegeben.
Erst mit Atomuhren wurde Schaltsekunde essenziell
Letztlich ist das Auseinanderklaffen von Koordinierter Weltzeit (UTC) und der durch die Erdrotation bestimmten astronomischen Zeit (UT1, Universalzeit) Folge der hochpräzisen Zeitmessung durch Atomuhren. Diese Uhren nutzen die physikalischen Eigenschaften von Cäsium-Atomen als Taktgeber.
Demnach entspricht eine Sekunde 9.192.631.770 Perioden der Strahlung des Überganges zwischen den beiden Hyperfeinstruktur-Niveaus des Grundzustandes von Atomen des Elements Cäsium-133. Genauer gehe es laut Simon nicht.
Als Reaktion auf dieses Phänomen wurde seit 1972 jedes Mal, wenn beide Zeiten um 0,9 Sekunden voneinander divergierten, mit einer Schaltsekunde reagiert, die zur UTC hinzugerechnet wurde. Zuletzt ist dies laut Simon 2016 geschehen. Insgesamt waren es in 50 Jahren insgesamt 27 Schaltsekunden.
Weitere Software-Probleme aufgrund von Schaltsekunden denkbar
Benötigt wurde die Schaltsekunde von 50 Jahren unter anderem für Schiffsnavigation, wie PTB-Wissenschaftler Andreas Bauch erklärt. Er fungiert in der Braunschweiger Bundesanstalt als Leiter der Gruppe Zeitübertragung. Heute brauche man die Schaltsekunde nicht mehr unbedingt, sagt er.
In manchen digitalen Systemen, etwa für Finanzwelt und Satellitennavigation, kann die Schaltsekunde zu Software-Problemen führen. So fielen beispielsweise 2012 nach der Einfügung einer Schaltsekunde reihenweise Server aus. Fluglinien mussten Flüge streichen. Mehrere Technologieunternehmen wie Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp) [fb.com] forderten darum die Abschaffung von Schaltsekunden - andere hingegen befürworten die Beibehaltung, weil die Schaltsekunden fester Bestandteil ihrer Systeme sind.
"Während die Schaltsekunde 1972 eine akzeptable Lösung gewesen sein mag, [...] , ist die UTC heutzutage gleichermaßen schlecht für digitale Anwendungen und Wissenschaftler. [...] Bei Meta unterstützen wir die Bemühungen der Branche, die zukünftige Schaltsekunden zu stoppen und auf dem aktuellen Stand von 27 zu bleiben", schreiben zwei Meta-Wissenschaftler [fb.com].
Nicht so schnell adaptieren ließ sich laut Bauch das russische, satellitengestützte Navigationssystem Glonass. Daher kam von russischer Seite der Einspruch, schnell auf Schaltsekunden zu verzichten.
Die CGPM schlägt nun vor, ab 2035 mindestens ein Jahrhundert lang keine Schaltsekunden zu berücksichtigen, so dass UTC und UT1 um etwa eine Minute aus dem Gleichlauf geraten. Darüber soll nun mit anderen Organisationen beraten werden, die Entscheidung für eine neue Obergrenze soll bis 2026 fallen, wie es beim Portal "Nature.com" hieß.
Korrektur: In einer ersten Fassung dieses Beitrags hatten wir eine andere Zahl genannt bei der Angabe, wieviele Perioden der Strahlung des Überganges zwischen den beiden Hyperfeinstruktur-Niveaus des Grundzustandes von Atomen des Elements Cäsium-133 als eine Sekunde festgelegt wurden. Laut Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) [ptb.de] sind dies 9.192.631.770 (nicht 9.192.632.770).