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Quelle: dpa/Zinken

Interview | Kazim Erdoğan

"Väter als Vorbilder haben immer gefehlt"

Die Silvester-Randale in Berlin war nicht so verheerend wie im Jahr zuvor. Dennoch gab es wieder zahlreiche verletzte Polizisten und Festnahmen. Ein Gespräch mit Kazim Erdoğan, Gründer des Vereins Aufbruch Neukölln, über Gewaltprävention.

rbb|24: Herr Erdoğan, wie ist Ihre Bilanz der Silvesternacht?

Kazim Erdoğan: Meine Bilanz ist nüchtern. Jeder Fall, jeder verletzte Polizist, jeder verletzte Passant ist einer zu viel. Wir haben meiner Meinung nach unsere Ziele noch nicht erreichen können.

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Das heißt, wir können noch nicht sagen, dass dieser leichte Rückgang an Gewalttaten auf die Gewaltpräventionsmaßnahmen, die im letzten Jahr eingeführt worden sind, zurückzuführen ist?

Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist noch kein Durchbruch, wir können nicht sagen, dass wir mit unseren Leistungen angekommen sind.

Sie sind der Gründer der Vätergruppen. Damals ging es überwiegend um türkische Väter, mit denen sie ins Gespräch kommen wollten – über Vaterrollen, über Familienstrukturen, die durch Männer geprägt sind, aber auch über traditionelle Vorstellungen von Moral und Familienehre. Sie setzen diese Arbeit jetzt fort mit dem Schwerpunkt Vater und Erziehung. Warum ist das so wichtig beim Thema Gewaltprävention?

Wenn wir die Ereignisse in den letzten 20 Jahre unter der Lupe nehmen – Intensivtäter, junge Menschen, die auffallen, die sich dem IS angeschlossen und in Syrien und dem Irak gekämpft haben – dann stellen wir fest, dass sie meistens von alleinerziehenden Müttern großgezogen und betreut worden sind. Väter als Vorbilder haben da immer gefehlt.

Und wir stellen fest, dass in unserem Land leider die Scheidungsraten rapide in den letzten Jahren nach oben gegangen sind. Bildung und Erziehung ohne Väter ist Bildung und Erziehung auf einem Bein, das kann auf Dauer nicht gut gehen. Und gerade deshalb ist die größte Aufgabe, die vor uns liegt, dass wir Väter und Männer, auch Opas, mit ins Boot nehmen und gemeinsam eine Mannschaft bilden, um die Bälle in die gleiche Richtung zu spielen.

Berlin ist eine multikulturelle Stadt. Allein in Neukölln leben Menschen aus über einhundert Ländern dieser Erde. Und in vielen dieser Länder gibt es andere Erziehungsvorstellungen. Können Sie als jemand, der Projekte anschiebt, auch darauf einwirken und versuchen Sie, darüber zu sprechen?

Wir kommen mit den Vätern ins Gespräch, indem wir sagen, die Erziehungsmethoden, die in Anatolien oder in vielen arabischen Ländern galten, gelten hier nicht mehr. Wenn sie Druck ausüben und die Kinder zu Maßnahmen zwingen, zu denen sie nicht bereit sind, erreichen Sie das Gegenteil. Wir versuchen, den Vätern eine gewaltfreie Erziehung zu vermitteln - und das mit Empathie, mit Ruhe, Geduld und Gelassenheit bestimmte Dinge besser zu erreichen sind, als durch Druck.

Männer gegen Gewalt – also nicht Jugendliche gegen Gewalt, das heißt, man muss Jugendliche, ältere Brüder, Väter, Onkel, Opas mit einbeziehen, auch weil die Jugendlichen selbst Gewalt in der Familie erlebt haben?

Wenn man die Eltern und Großeltern für eine gewaltfreie Erziehung gewinnt und den Schwerpunkt auf eine gesunde Kommunikation legt, dann haben wir die jungen Menschen erreicht. Die Vorbilder sind ja die Eltern und Großeltern, und die Menschen lernen von ihren Vorbildern. Wenn sie zu Hause Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit erfahren, geben sie das draußen auf der Straße und in Bildungseinrichtungen weiter.

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Diese Botschaft verbreiten sie auch in Flüchtlingsunterkünften. Wir sind denn da ihre ersten Erfahrungen?

Wir haben insgesamt bisher in sieben Flüchtlingseinrichtungen thematische Elternabende in vier Sprachen angeboten. Das Interesse und die Aufmerksamkeit waren sehr groß. Die Flüchtlingsunterkünfte sind auch jetzt bereit, mit uns gemeinsam in dieselbe Richtung zu gehen. Und das wollen wir ab sofort mit allen Flüchtlingsunterkünften machen, die bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir wollen Konzepte entwickeln, aber nicht unseren Stempel aufdrücken, sondern uns auf Augenhöhe ernstnehmen.

Lehrerinnen und Lehrern in Berlin spiegeln, dass es auch in biodeutschen Familien dieses Problem der fehlenden Kommunikation zwischen Eltern und Kindern gibt. Teilweise wird gar nicht oder mit Überstrenge erzogen. Erreichen sie durch ihre Projekte auch diese Gruppe oder müssen das andere übernehmen?

Nein, wir wollen auch in den Bildungseinrichtungen ohne Unterschiede zu machen mit allen Eltern zu erzieherischen schulischen, familiären oder sozialen Themen ins Gespräch kommen, weil die Herausforderungen vielschichtig sind. Und deshalb wollen wir durch vielfältige Maßnahmen alle Menschen in Berlin erreichen. Es gibt keine Unterschiede zwischen türkischen Eltern und deutschen Eltern.

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Geht es beim Thema Gewaltprävention auch um Identität und Identitätskonflikte?

Selbstverständlich. Wir stellen immer wieder fest, dass Menschen, deren Identität nicht gefestigt ist, mehr auffallen können oder aufgefallen sind, weil da ein Wir-Gefühl fehlt. Und wir wollen alle einladen, um gemeinsam ein Wir-Gefühl zu entwickeln.

Aber wie macht man das?

Indem wir in die Bildungseinrichtungen gehen, in die Jugend- und Kinderklubs, um mit den jungen Menschen, die gefährdet sind, gemeinsam an der Identitätsförderung und Identitätsentwicklung zu arbeiten und ihnen Mut zu machen. Wir bieten diesen jungen Menschen die Möglichkeiten und die Chancen, mit Vorbildern ins Gespräch zu kommen, um Mut und Selbstbewusstsein aufzutanken. Diese Vorbilder haben studiert, üben wunderbare Berufe aus oder sind erfolgreiche Unternehmer geworden.

Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner hat im einem rbb-Interview gesagt, die Angriffe gegen Polizistinnen, Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter sind Angriffe auf unsere Form des Zusammenlebens. Stimmen Sie dem zu?

Ich stimme dem nicht zu. In Gesprächen mit jungen Menschen und deren Eltern wurde mir gesagt, dass das spontane Entwicklungen und Ergebnisse gruppendynamischer Prozesse sind. Das war nicht organisiert gegen unsere Lebensformen oder gegen den deutschen Staat. Man muss sich näher mit den Gründen beschäftigen. Darauf gibt es auch keine pauschale Antwort. Und wir sollten gemeinsam lernen, mit Werten und Normen der hiesigen Gesellschaft adäquat umzugehen – das ist eine Einladung, die wahrscheinlich eher angenommen wird, als auszugrenzen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Wolf Siebert. Der Text ist eine redigierte, gekürzte Fassung.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 03.01.2024, 14:25 Uhr

Beitrag von Wolf Siebert

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