Interview | Notfallseelsorger - "Eben war die Welt noch in Ordnung, und jetzt ist sie es nicht mehr"

Di 12.03.24 | 17:48 Uhr | Von Helena Daehler
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Symbolbild: Weiße Silhouetten einer Frau und eines Kindes liegen neben Blumen und Kerzen bei einer Mahnwache auf der Leipziger Straße. (Quelle: dpa/Soeder)
Bild: dpa/Soeder

Der Unfall auf der Leipziger Straße am Samstag in Berlin, bei dem eine Mutter und ihr Kind gestorben sind, war ein erdrückender Moment für die Augenzeugen. Das Team der Notfallseelsorge Berlin um Justus Münster kümmerte sich um Betroffene. Von Helena Daehler

Bei einem schweren Verkehrsunfall in Berlin-Mitte sind am Samstag eine Frau und ihr Kind gestorben. Sie wollten die Leipziger Straße am Potsdamer Platz überqueren, als sie von einem Auto erfasst wurden.

Nicht nur für die Einsatzkräfte, sondern auch Ersthelfer und Augenzeugen war die Situation erdrückend. Neben Sanitätern und Polizisten waren deshalb auch Helfer der Notfallseelsorge und Krisenintervention Berlin am Einsatzort, um betroffene Menschen psychisch zu betreuen. Die ehrenamtlichen Seelsorger können in Krisen ausschließlich von der Feuerwehr, Polizei oder den Berliner Verkehrsbetrieben angefordert werden. Wie sie vor Ort reagieren müssen und worauf zu achten ist, erzählt Justus Münster, Leiter der Notfallseelsorge und Krisenintervention Berlin im Interview.

rbb|24: Herr Münster, bei dem Unfall in Berlin-Mitte sind am Samstag eine Mutter und ihr Kind gestorben. Sie waren nicht vor Ort, aber ihre Kollegen.

Justus Münster: Genau. Drei meiner Kolleginnen und Kollegen waren am Einsatzort, sie wurden von der Feuerwehr und Polizei alarmiert. Am Montag haben wir das Erlebte untereinander nachbesprochen. Dabei habe ich gemerkt, dass meine Kolleginnen und Kollegen noch von dem Unfall sehr angefasst waren.

Bei Krisen wird die Notfallseelsorge Berlin über die Berliner Polizei, die Leitstelle der Berliner Feuerwehr oder die BVG angefordert. Wie gehen Sie dann konkret vor?

Es ist bei uns nicht so, dass wir in einer Wache versammelt sind, da wir alle ehrenamtlich arbeiten. Das heißt, die Alarmierung erreicht die Krisenhelfer genau dort, wo sie sich gerade aufhalten. Dadurch sind wir manchmal schneller an dem Unglücksort und manchmal braucht es ein bisschen länger. Die drei Kolleginnen und Kollegen am Samstag erreichten die Unfallstelle innerhalb von 20 bis 40 Minuten. In der Regel wird mit der Einsatzleitung der Feuerwehr besprochen, welche Menschen da sind und wer Hilfe gebrauchen kann; am Samstag waren noch Ersthelfende und Augenzeugen vor Ort anzutreffen.

Auf welche Anzeichen müssen Notfallseelsorger dann achten?

Wer so etwas wie den Unfall auf der Leipziger Straße in Berlin sieht oder erlebt, bei dem können Körper und Seele darauf reagieren. Diese Reaktion kommt dann einem vielleicht nicht bekannt vor. Ich kann mich zum Beispiel erschrecken, sodass ich sehr nervös bin oder auf einmal still in mich einkehre. Das sind alles Symptome der sogenannten akuten Belastungsreaktion.

Wir können vor Ort helfen, indem wir signalisieren, dass wir jetzt da sind und die Situation mit den Menschen aushalten. Das ist schon ein erster wichtiger Anfang. Die Notfallseelsorger versuchen die Reaktionen des Körpers und der Seele ein Stück geradezurücken, etwa indem sie sagen, dass das normal ist - auch wenn die Situation dies nicht ist. Wir trainieren die Leute, solche Reaktionen zu erkennen, sie zu begleiten und auszuhalten, bis sie vielleicht noch an der Einsatzstelle abklingen. Wir zeigen den Menschen aber auch eine Perspektive auf, wo sie sich in den nächsten Tagen und Wochen hinwenden können.

Wie viele Betroffene nehmen solche weiteren Hilfen in Anspruch?

Darüber führen wir keine Statistik, da wir punktuell und einmalig an dem Unfallort sind und die Menschen dann selbst nicht weiter begleiten, sondern sie ins öffentliche Hilfesystem überführen. Und auch dann ist es noch sehr unterschiedlich, zu welchem Zeitpunkt die Menschen dort aufschlagen.

In der Notfallseelsorge muss man breit aufgestellt sein, oder?

Einsätze wie auf der Leipziger Straße sind doch eher selten. Normalerweise kommen wir als Notfallseelsorge und Krisenintervention zu Katastrophen im häuslichen Bereich. Etwa, wenn jemand plötzlich stirbt und die Angehörigen sich mit der Situation allein und überfordert fühlen. Eben war die Welt noch in Ordnung und jetzt ist sie es nicht mehr. Eben haben sie vielleicht noch darüber gesprochen, wie das Osterfest vonstattengehen kann und jetzt ist es überhaupt fraglich, ob es ein Osterfest gibt, weil einfach die Scherben auf dem Boden liegen, die Scherben des Lebens. Das ist das, was wir normalerweise machen, was wir im Verborgenen tun.

Die Notfallseelsorge und Krisenintervention Berlin besteht aus acht Kooperationspartnern, darunter zwei Kirchen und die Muslimische Notfallseelsorge Berlin. Reichen ihre Mittel aus, um immer überall zu sein?

Die Notfallseelsorge und Krisenintervention ist hier in Berlin Anfang der 1990er Jahre gegründet worden und wir haben über 20 Jahre lang unsere Dienste sozusagen kostenlos im Sinne der Stadtgesellschaft angeboten. Das heißt, die beiden Kirchen haben einen großen Teil davon finanziert. Erst der Anschlag auf dem Breitscheidplatz hat eine Wende gebracht. Es gibt nun eine öffentliche Finanzierung, zumindest anteilig.

Und das reicht?

Das reicht natürlich hinten und vorne nicht, aber es ist erst mal ein gutes Zeichen, dass wir nicht alle Dinge, die wir anbieten fürs Land Berlin, selbst finanzieren müssen. Übrigens ist Berlin das einzige Bundesland, wo es ein sogenanntes PSNV-Gesetz gibt, das steht für Psychosoziale Notfallversorgung. Früher war es der Feuerwehr und Polizei überlassen, ob sie den Bedarf an Krisenbegleitung an der Einsatzstelle besetzen oder eben nicht. Durch das PSNV-Gesetz hat sich das aber verstetigt - die Notfallversorgung und Krisenintervention ist zum selbstverständlichen Teil der Rettungskette geworden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Helena Daehler für rbb24 Inforadio

Sendung: rbb24 Inforadio, 12.03.2024, 15 Uhr

Beitrag von Helena Daehler

7 Kommentare

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  1. 7.

    Das finden Sie an diesen Unfällen "am schlimmsten"? Nicht, dass Menschen ihr Leben verloren haben? Wow.

  2. 6.

    Ich war am Samstag als Ersthelferin vor Ort. Vielen Dank, dass Sie sich um uns gekümmert haben! Es war wirklich schrecklich. Nun erfahre ich, dass Sie ehrenamtlich arbeiten - und habe noch mehr Respekt vor Ihnen!

  3. 5.

    Am schlimmsten für mich sind bei dieser Art "Unfällen" die lächerlichen Strafen, mit denen den Fahrzeugführer rechnen muss und die Tatsache, dass die Politik sich nicht darum kümmert unsere Infrastruktur für die schwachen Verkehrsteilnehmer sicher zu gestalten, oder wenigstens die Einhaltung der StVO besser zu kontrollieren.

  4. 4.

    Unfassbar das das Amt nur durch Ehrenamt besetzt ist.Wie verarbeiten die Ehrenämtler das Erlebte eigentlich? Wenn Bedarf da ist.Warum nur als Ehrenamt? Und ich schliesse mich Nr.1 an Respekt für diese Arbeit. Danke das es Euch gibt.

  5. 3.

    das wird es mit Manja alles nicht geben.
    Ganz im Gegenteil, da wird die Zeit zurück auf Stadt der Autos, anstatt eine dem menschenzugewandte Stadt zu entwickeln.

  6. 2.

    Es könnte sehr viel mehr getan werden um solche traumatische "Unfälle" zu vermeiden sodass der Bedarf an Nachsorge viel weniger wäre

    Auch mit Nachsorge werden viele Überlebenden ihres Leben lang nicht mehr froh

    Manche entschieden sich für den Freitod

    Tempo 30, Umbau und Verengung von Straßen und am einfachsten zu realisieren, Kontrollen

    Ich würde ein gesonderte Verkehrspolizei befürworten, da die Standardpolizei etwa in Brandenburg (und Berlin?)kaum Interesse an Verkehrsdelikte hat

  7. 1.

    Respekt für diese Arbeit !

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