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Quelle: imago-images/Arnulf Hettrich

Interview | Armutsbeauftragter Diakoniewerk Simeon

"Anderthalb Jahre Corona-Krise haben Armut verstärkt sichtbar gemacht"

Etwa 16,4 Prozent der Menschen in Berlin gelten als arm. Damit liegt die Hauptstadt über dem Bundesdurchschnitt. Warum die Corona-Krise die Armut noch verschärft hat, erklärt der kirchliche Armutsbeauftragte Thomas de Vachroi. Von Georg-Stefan Russew

rbb|24: Herr de Vachroi, woran machen Sie eine verstärkte Armut in Berlin fest?

Thomas de Vachroi: Auf den Straßen Berlins gibt es aktuell in Mitte oder um den Stuttgarter Platz herum und anderen Hotspots extrem viele Menschen, die unter Brücken campieren. Es gibt auch sehr, sehr viele Menschen, die betteln müssen.

Gerade in den öffentlichen Verkehrsmitteln wie U- und S-Bahnen hat dieses Phänomen stark zugenommen. Bereits während der Finanzkrise 2008/09 war das zu beobachten. Danach ist das wieder abgeflaut. Verstärkt wird auf den Strecken von und zum Ostkreuz und auf der Strecke von und zur Warschauer Straße um Kleingeldspenden gebeten. Das liegt unter anderem daran, dass die Stadtmission hier verstärkt arbeitet und die Menschen dort hinwollen.

Zur Person

Woran liegt das Ihrer Meinung nach, dass dies zurzeit wieder vermehrt zu beobachten ist?

Anderthalb Jahre Corona-Krise haben sich wie ein Turbo ausgewirkt und die Armut verstärkt sichtbar gemacht. Wir haben es in der ersten Corona-Welle stark gemerkt und in der zweiten und dritten Welle hat das so richtig reingehauen. Das sehen wir vor allem auch am Zulauf zu den Tafeln. Bundesweit nutzen mittlerweile 1,4 Millionen diese Einrichtungen. Explizite Erhebungen für Berlin gibt es aktuell nicht.

Viele Mini-Jobs wie etwa in der Gastronomie sind durch Corona weggebrochen. Der Wegfall wird auch nicht durch Kurzarbeitergeld ausgeglichen. Gerade ältere Menschen sind auf Zuverdienst angewiesen. Natürlich sind auch die Selbständigen nicht zu vergessen. Gerade aus dieser Gruppe haben mich viele Anrufe erreicht.

Polnische Obdachlose in Berlin

Mehr Menschen werden durch Corona wohnungslos

In ganz Berlin soll es rund 10.000 wohnungslose Menschen geben. Etwa die Hälfte von ihnen sind Polen. Manche haben wegen der Corona-Pandemie ihre Arbeit verloren und sind so in Not geraten. Jakub Paczkowski hat einige von ihnen getroffen.

Was definieren Sie als arm?

Arm ist eindeutig, wenn sich die Menschen wirtschaftlich nicht mehr versorgen können, wenn sie aufgrund unzureichender finanzieller Ressourcen nicht mehr in der Lage sind am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das betrifft Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger bis zu den Rentnern. Arm ist, wer weniger als 781 Euro netto im Monat zur Verfügung hat. Die Armutsgefährdung fängt bereits bei 1.074 Euro netto an.

Gibt es Indizien dafür, dass die vermehrte Armut auch zu einer Konkurrenz untereinander führt?

Es gibt Revierkämpfe. Das merkt man bei bestimmten Hotspots in bestimmten Parkanlagen. Der Tiergarten ist sehr prädestiniert dafür, wenn dort viele Menschen unterwegs sind und ihr Leergut abstellen. Ein ähnliches Bild ergibt sich am Reichstagsgebäude, wo die Menschen wirklich auf die stehengelassenen Flaschen zu rennen und um sie kämpfen.

Es ist die echte Existenznot der Menschen, die sie auf die Straßen treibt. Es müssen auch nicht immer obdachlose Menschen sein, die Straßenzeitungen in U-Bahnen verkaufen oder um Kleingeldspenden in S-Bahnen betteln. Das Thema Miete und Wohnungsmarkt ist an der Verschärfung der Armut in Berlin nicht ganz unschuldig. Was ich zudem aktuell beobachte, ist, dass immer mehr Frauen auf der Straße leben.

Viele Menschen trauen sich nicht, in direkten Kontakt mit Bedürftigen zu treten, die betteln. Sollte man das überhaupt tun?

Viele obdachlose Menschen sind oft einsam, isoliert. Neben Kleingeld hilft ihnen auch das Gespräch, wenn sie sich einfach mal ernstgenommen fühlen, wenn man ihnen mal sein Ohr schenkt. Das ist ungemein wichtig. Aber man sollte dabei sehr behutsam mit ihnen umgehen. Viele fürchten Menschen, haben Angst vor Behörden und nehmen deshalb auch oft Hilfsangebote nicht an.

Aktuell ist es bei der enormen Hitze wichtig, bettelnden Menschen Wasser zugeben. Denn nicht nur die Wintermonate sind heftig zu überstehen für obdachlose Menschen. Auch Hitzewochen, wie wir sie jetzt haben, sind für die Leute auf der Straße eine Katastrophe. Von daher ist fast schon überlebenswichtig, diesen Menschen Kleingeld oder volle Wasserflaschen zukommen zu lassen. Alle Einrichtungen sind aufgerufen, jetzt auch ihre Kleiderkammer aufzumachen, damit die Leute was zum Anziehen und Wechseln haben. Wir sind glücklich, dass die Tee- und Wärmestuben in Neukölln wieder aufhaben, dass die Menschen wieder duschen können.

Wie kann ein Weg aus der Armut aussehen?

Notwendig dafür wäre, dass sich die unterschiedlichen Gruppen in Berlin zusammenschließen. Bislang hat jeder Bezirk sein eigenes Konzept zur Armutsbekämpfung. Ich würde vorschlagen, dass wir in der Hauptstadt ein zentrales Obdachlosenzentrum aufbauen und es in Neukölln ansiedeln. Hier gäbe es einen zentralen Anlaufpunkt. Man könnte die Leute dort beschäftigen, dass sie mindestens ein Jahr dableiben können, um wieder ins zivile Leben zurückkehren zu können.

Bestehende Angebote könnten das gar nicht leisten, fast rund um die Uhr mit den Leuten zu arbeiten. Dafür reichen die Kapazitäten nicht. In so einem berlinweiten Zentrum gäbe es ganz andere Möglichkeiten. Ich habe mir so ein System in Utrecht in den Niederlanden angesehen. Die Träger werden dort zu 100 Prozent vom Staat finanziert. Das hat mir sehr gefallen, weil die personell sehr gut aufgestellt sind, die auch die Zeit haben, intensiv mit den Bedürftigen zu arbeiten.

Was würden Sie sich darüber hinaus wünschen?

Es wäre gut, wenn es einen Armutsbeauftragen beim Land und beim Bund gibt, der sich für die Belange der Betroffenen einsetzt. In der Flüchtlingskrise, als es einen zentralen Koordinator gab, hat das Modell sehr gut funktioniert. Ich würde mir wünschen, dass es im Land ein zentrales Spendenlager gäbe. Einrichtungen bekommen manchmal so viel, dass sie nicht wissen, wohin damit. Wir brauchen ein System wie in der Flüchtlingskrise zur Versorgung der Obdachlosen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Georg-Stefan Russew, rbb|24.

 

Sendung: Inforadio, 21.06.2021, 14:00

Beitrag von Georg-Stefan Russew

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