Parteitag der Berliner Grünen - "Wir machen es unseren Konkurrenten viel zu leicht"

Sa 03.06.23 | 21:26 Uhr | Von Sabine Müller
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Bettina Jarasch beim Grünen-Landesparteitag am 3.6.23 in Berlin (Bild: dpa-news/Monika Skolimowska)
Video: rbb24 Abendschau | 03.06.2023 | Bild: dpa-news/Monika Skolimowska

Relativ geschlossen bringen die Grünen den ersten Parteitag in der Opposition hinter sich. Die Debatte über eigene Fehler und die richtige Zukunftsstrategie beginnt aber jetzt erst richtig. Von Sabine Müller

Um kurz nach halb zwei wird es kurz laut im Parteitagssaal. Aus den Reihen der Delegierten kommen Buhrufe, die Rednerin am Pult reagiert empört: Ausbuhen sei "nicht Kommunizieren – und nicht wertschätzend".

Der Grund für die Buhrufe: Yasemin Derviscemallioglu, Delegierte des Kreisverbands Mitte, hat gerade die Straßenblockaden der Klimaaktivisten der "Letzten Generation" kritisiert. Es sei "Nötigung, bei einer illegalen Demonstration auf dem Boden zu sitzen und sich festzukleben", hier gehe es um „passive Gewalt“.

Pro und Contra zur "Letzten Generation"

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Vasili Franco, hält eine leidenschaftliche Gegenrede, nennt die "Kriminalisierung" der Gruppe ein "Ablenkungsmanöver, um Untätigkeit beim Klimaschutz zu kaschieren".

Nachdem zuletzt viel über das komplizierte Verhältnis der Grünen zur "Letzten Generation" geredet wurde, sendet der Parteitag ein Signal der Solidarität. Jahrelange Klimaproteste von "Fridays for Future" und anderen hätten nicht zu entschlossenem Handeln der Bundesregierung geführt. "Deswegen ist es verständlich, dass die Letzte Generation mit zivilem Ungehorsam Aufmerksamkeit für den Klimaschutz generiert", heißt es im Beschluss, der den Klimaaktivisten "Verzweiflung und Ohnmacht" bescheinigt.

Der Schlagabtausch zum Umgang mit der "Letzten Generation" ist die hitzigste Situation des Parteitags. Insgesamt präsentieren sich die Grünen erstaunlich geschlossen für eine Partei, die nach sechseinhalb Jahren aus der Regierung in die Opposition wechseln musste. "Wenn das gerade unser größter Streitpunkt ist, kann ich damit gut leben", sagt eine Spitzengrüne.

Geeint in der Kritik an Schwarz-Rot

Die Ablehnung der neuen Regierungskoalition schweißt zusammen. Die Parteivorsitzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai, deren Reden die Delegierten nicht mitreißen, erhalten den meisten Applaus, als sie CDU und SPD scharf angreifen. Mertens fordert mehr Engagement der beiden Parteien beim Klimaschutz, sie würden so tun, als könne alles so bleiben, wie es sei. "Es ist verantwortungslos, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, und es ist gefährlich", kritisiert sie.

Ihr-Co-Chef Ghirmai wirft Schwarz-Rot vor, grüne Errungenschaften zurückdrehen zu wollen und fordert, Klimaschutz und Nachhaltigkeit müssten in allen Lebensbereichen eine größere Rolle spielen: von der Wirtschaft über die Schule bis zu Kultur und Sport. "Erst wenn man Klimaschutz als Querschnittsaufgabe anerkennt, werden wir vorankommen", so Ghirmai.

Susanne Mertens sieht die grünen Vorschläge als "Messlatte" für die schwarz-rote Koalition, die Partei will zeigen, wie es besser gehen kann. Mit dem Ziel, dass bei der nächsten Regierungsbildung niemand an den Grünen vorbeikommt.

Die Grünen wollen regieren, aber mit wem?

Beim Blick auf mögliche Regierungspartner wird allerdings Ernüchterung deutlich. Co-Parteichef Philmon Ghirmai geißelt die SPD als Steigbügelhalter für eine CDU, die das "Auto zu ihrem Götzen" erklärt habe. Das entkerne die Sozialdemokraten, gerade weil die Klimakrise auch eine soziale Krise sei. "Shame on you, liebe SPD!", ruft Ghirmai in Richtung der früheren Koalitionspartnerin. Immerhin, er sagt: "liebe SPD".

Fraktionschefin Bettina Jarasch zieht eine wichtige Lehre aus den Monaten seit der Wahl: Die Grünen könnten sich "nicht mehr allein auf SPD verlassen", dürften nicht mehr auf eine einzige Machtoption setzen.

Aber was heißt es konkret, sich die Option einer Koalition mit der CDU offen zu halten? "Soll die Schlussfolgerung aus dieser Wahl sein, dass wir in die Mitte rücken und uns auf ein Bündnis mit der CDU vorbereiten?", fragt die Delegierte Sonja Gerth aus Friedrichshain-Kreuzberg in den Saal. Zurück kommen auch ein paar "Ja"-Rufe, aber für das "Auf keinen Fall!" von Gerth gibt es großen Applaus. Gelächter, ein leichter Moment. Aber dahinter steht die ernste Grundsatzfrage, wie sich die Grünen im Parteienspektrum aufstellen wollen. Diese Debatte ist noch längst nicht beendet, sie fängt gerade erst richtig an.

Lernen aus eigenen Fehlern

Die große Aufarbeitung des Wahlkampfs und des Wahlergebnisses vom 12. Februar soll auf einem Sonderparteitag Mitte des Monats stattfinden. Aber an diesem Samstag bekommt die Parteiführung schonmal einen Vorgeschmack, was sie dort erwartet.

Nachdem die Landesvorsitzende Susanne Mertens kritisch angemerkt hat, den Grünen sei es nicht immer gelungen, die Menschen auf dem Weg der Veränderung mitzunehmen, die Partei habe "nicht gut genug zugehört", fallen deutliche Worte.

Philipp Freisleben aus dem Spandauer Kreisvorstand übt scharfe Kritik an der Kommunikation der Partei. Im Wahlkampf sei mehr darüber geredet worden, das Auto zurückzudrängen, als darüber, Alternativen zu schaffen. "Wir machen es unseren Konkurrenten viel zu leicht, uns als ideologiegetrieben und radikal dazustellen", glaubt Freisleben. Grüne Ideen müssten klarer kommuniziert werden – "außerhalb der grünen Blase versteht niemand diese Lösungen" – und außerdem in der ganzen Stadt funktionieren, nicht nur innerhalb des S-Bahn-Rings.

Keine Einheits-Antworten

Landesvorstandsmitglied Dara Kossok-Spieß, ebenfalls aus Spandau, fordert, die großen Innenstadtverbände der Grünen müssten auch die Perspektiven des Stadtrands sehen: "Wir brauchen einen Austausch zu unterschiedlichen Lebensrealitäten. So wenig wie innerhalb des Rings alle Fahrrad fahren, fahren bei uns alle SUV."

Fraktionschefin Bettina Jarasch versichert, es werden gerade beim Thema Klima für unterschiedliche Bezirke auch unterschiedliche Antworten geben. Klimaschutzmaßnahmen müssen ihrer Ansicht nach "realistisch und umsetzbar" sein. Die Ex-Spitzenkandidatin klingt inzwischen deutlich pragmatischer als im Wahlkampf.

Warnung vom Ex

Der frühere Finanzsenator Daniel Wesener, der wie die anderen Ex-Regierungsmitglieder nochmal mit viel Applaus bedacht wird, gibt seiner Partei eine Warnung mit auf den Oppositions-Weg. Sie dürfe es sich in der neuen Rolle nicht zu einfach machen. "Gerade in der Opposition ist es leicht, die Wolkenkuckucksheime, die politischen Placebos, die reinen Ankündigungen einer Regierung mit eigenen Maximalforderungen nochmal links und rechts gleichzeitig zu überholen", so Wesener. Wenn man diese Erwartungen aber nicht erfüllen könne, sobald man selbst wieder in Regierungsverantwortung sei, sorge das für Enttäuschung und Politikverdrossenheit.

Sendung: rbb24 Abendschau, 3.6.23, 19:30 Uhr

Beitrag von Sabine Müller

72 Kommentare

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  1. 72.

    Eine Partei, die trotz maximaler Unterstützung der meisten Medien bei nur 13 Prozent steht.
    Könnte es sein, dass die Bevölkerung schlicht eine andere Politik möchte? Andere Ziele?
    Es geht mit Sicherheit nicht mehr um Kommunikation, auch wenn das im einstudierten Politikjargon immer wieder behauptet wird.

  2. 71.

    Grüne waren nie das Problem aber der Rechtsextremismus in D. Polizei und Justiz sind immer noch auf dem rechten Auge blind wie man an den Skandalurteilen der bayrischen Gesinnungsjustiz sehen kann.

    Demonstranten werden zu Terroristen erklärt, während Rechtsextremisten und Faschisten der AfD bis "III. Weg" immer noch unbehelligt bleiben.

  3. 70.

    "Warum werden Sie immer so beleidigend anderen gegenüber?" Wieso beleidigend? Wer nach 3 Flaschen Korn nicht auf der Intensivstation liegt ist nunmal schwerer Alkoholiker.

    "Die meisten Menschen in Berlin sind ihnen völlig egal. " Blödsinn.

  4. 69.

    Extremisten wie sie wollen Demonstranten kriminalisieren.

    "Dabei steht schon im Grundgesetz, dass politische Ansichten bei der Rechtsprechung keine Rolle spielen dürfen. "

    Deshalb kann man bei den Skandalurteilen auch von einer Gesinnungsjustiz sprechen.

  5. 68.

    Grüne waren nie das Problem aber der Rechtsextremismus in D. Polizei und Justiz sind immer noch auf dem rechten Auge blind wie man an den Skandalurteilen der bayrischen Gesinnungsjustiz sehen kann.

    Demonstranten werden zu Terroristen erklärt, während Rechtsextremisten und Faschisten der AfD bis "III. Weg" immer noch unbehelligt bleiben.

  6. 67.

    Extremisten wie sie wollen Demonstranten kriminalisieren.

    "Dabei steht schon im Grundgesetz, dass politische Ansichten bei der Rechtsprechung keine Rolle spielen dürfen. "

    Deshalb kann man bei den Skandalurteilen auch von einer Gesinnungsjustiz sprechen.

  7. 66.

    Grüne sind nicht mehr das Problem. Die sinken ab. Die AfD steigt. Das ist das Problem.

  8. 65.

    Extremisten finden immer eine Ausrede, warum die Straftaten begehen dürfen. Sie sind kein bißchen besser als ein Reichbürger und fordern eine Gesinnungsjustiz, die gemeinsam geplante Nötigung und Sachbeschädigung für Ihre Zwecke legalisiert. Dabei steht schon im Grundgesetz, dass politische Ansichten bei der Rechtsprechung keine Rolle spielen dürfen.

  9. 64.

    Kann mich an ein Foto erinnern wie Jarasch strahlte als es um Verhandlungen mit der CDU ging. Grüne "heiraten" fast alles.

  10. 63.

    Die Grünen sollten mal Enter drücken um zu begreifen daß sie mit ihrer Politik gescheitert sind. Diese Politik in Land und Bund bringen unsere Wirtschaft an den Abgrund und macht den Verbraucher den Geldbeutel leer.

  11. 62.

    Warum werden Sie immer so beleidigend anderen gegenüber? Das muss doch nun wirklich nicht sein!

    Nach lesen dieses Artikels sehe ich so, dass die Grünen nichts dazu gelernt haben. Die meisten Menschen in Berlin sind ihnen völlig egal.

  12. 61.

    "Extremisten setzen Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ein."

    Ziviler Ungehorsam ist keine Gewalt.

  13. 60.

    Extremisten setzen Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ein. Demokraten heißen so etwas nie gut, nur andere Extremisten.

  14. 59.

    "Selbst nach 3 Flaschen Korn würden wir noch wissen wo man kein Kreuz auf Wahlzettel macht. "

    Die scheinen sie ja tagtäglich zu konsumieren. Spiegeltrinker?

  15. 58.

    Die Grünen wurden gar nicht abgestraft. Abgestraft wurde die SPD.

  16. 57.

    Gewaltfreier Widerstand ist doch in Ordnung. Sie lehnt jedoch Nötigung und Sachbeschädigung als erwiesenem Straftatbestand ab. Icch glaube davon haben Sie noch nix gehört. Und da sie Gandhi anführen, scheinen Sie einiges nicht verstanden zu haben oder zu wissen. Gandhi wäre nie gegen die eigene Menschen aktiv geworden.

  17. 56.

    "Die Grünen sollten endlich erkennen das Ihre Politik einfach unterirdisch ist und das sich diese Partei besser heute als morgen auflösen sollte...."

    Das könnte Rechtsextremen so passen... gerade jetzt sind demokratische Parteien gefragten denn je, wenn Gerichte als Gesinnungsjustiz politische Urteiel fällen und Rechtsextremisten mit bis zu 20 % gewählt werden.

  18. 55.

    Die Grünen in Berlin sollten sich mal im Bund umsehen und überlegen, warum es dort mit der CDU gut geht. Speziell BaWü ist eben Realpolitik vor radikaler Ideologie. Die Berliner sind aus der AL hervorgegangen und tendenziell links. Aber mit den Linken kommen die Grünen ja in Berlin auch nicht klar.

  19. 54.

    Selbstkritik sieht anders aus. Die Grünen gaben es der Verkehrspolitik von Frau Jarasch zu verdanken, dass sie abgestraft wurden. Mit Sympathieerklärungen für die sog. „letzte Generation“ zeigen sie nur, dass sie nicht begriffen haben, dass Terror gegen autofahrende Berliner nichts bringt.

  20. 53.

    Berliner Grüne wolle nur ihre Klientel in XHain und Mitte glücklich machen. Der große Rest von Berlin interessiert die immer noch nicht. Dabei ist das Wahlergebnis eine klare Absage zu deren Bullerbü-Träumen. Ob die das begreifen werden?

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