Filmkritik | "Everything will Change" - Blick zurück aus einer Zukunft, die keine Giraffen mehr kennt

Di 12.07.22 | 18:51 Uhr | Von Anke Sterneborg
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Marten Persiel kommt zu der Premiere des Films "Everything Will Change" im Filmtheater am Friedrichshain. (Quelle: dpa/G. Matzka)
Audio: rbb Kultur | 12.07.2022 | Anke Sterneborg | Bild: dpa/G. Matzka

Drei Jugendliche aus einer kaputten Zukunft staunen, wie vielfältig das Leben auf der Erde einst war. Marten Persiel inszeniert eine wilde Mischung verschiedener Film-Genres - und mit der Hoffnung auf Veränderung. Von Anke Sterneborg

Bekannt wurde Marten Persiel vor zehn Jahren mit "This Ain’t California", einer eigenwilligen Dokumentation, kompiliert aus Archivaufnahmen, Spielszenen und Animationen. Es ging um die sogenannten "Rollbrettfahrer" der DDR, denn dort waren die Skateboarder eine kleine Subkultur-Blase.

Nun hat er acht Jahre lang an "Everything will Change" gearbeitet, den er einen "Science- und Fiction-Film" nennt, ganz wortwörtlich zusammengesetzt aus Wissenschaft und Fiktion. Es geht um eine dystopische Zukunft, in der viele Lebewesen, die heute bedroht sind, längst verschwunden und nicht mal mehr bekannt sind. Und darum, wie sich das verhindern ließe.

Verlorene Artenvielfalt

In der Zukunft des Jahres 2054 sind auf der ausgebrannten, roten Erde nahezu alle Tiere ausgestorben und viele Pflanzen vertrocknet. Kommunikation unter Menschen findet fast ausschließlich digital statt. Die drei Jugendlichen Cherry (Jessamine-Bliss Bell), Ben (Noah Saveedra aus der Serie "Bad Banks" und dem Film "Und morgen die ganze Welt") und Fini (Paul G Raymond) stoßen in einem Vintage-Laden auf das Bild eines merkwürdigen Tieres, mit einem sehr langen Hals und braunen Flecken im kurzen Fell. Das ist eine Giraffe, wie sie erfahren - doch Cherry hält das Wesen für eine digital erzeugte Fälschung. Und wenn es nun doch echt wäre, fragen sie sich: "Was ist mit den Tieren passiert?" Die seien ausgestorben, erfahren sie.

Zurück von der Zukunft in die Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist

Wir alle kennen das aus den Nachrichten: Unermüdlich warnen die Wissenschaftler, aber niemand hört zu, niemand zieht die Notbremse. Die Jugendlichen der Zukunft können sich darüber nur wundern. Sie verstehen nicht, dass alle gewusst haben, was passiert, aber niemand eingeschritten ist. "Habt ihr protestiert", fragen sie. "Nicht genug", erwidern die Überlebenden.

Vielleicht könnte es helfen, aus der Katastrophen-Zukunft von 2054 auf unsere Zeit zu schauen, dachte sich Regisseur Marten Persiel. "Wenn man die Perspektive verschiebt, erscheint unsere Zeit wie ein goldenes Zeitalter der Informationen", sagt er. "Seit 15 Jahren haben wir ein gut funktionierendes Internet, das allen Menschen ermöglicht, mit allen basisdemokratisch zu kommunizieren. Gleichzeitig war der Amazonas noch nicht komplett abgebrannt und es gab noch Teile vom Great Barrier Reef, also sowohl Naturschönheit als auch Kommunikationsfreudigkeit. Was für eine tolle Zeit, um Dinge zu verändern - das ist die Prämisse des Films."

Ein Mosaik der Stilelemente

Die jungen Menschen aus dem Jahr 2054 staunen angesichts der Vielfalt vergangener Zeiten. Zu sehen sind Büffel, Löwen, Koalas in der Wildnis, Seeanemonen, die sich malerisch spreizen, ein Pfau, der seine Federn zum Rad auffächert: An diesen Stellen gleicht der Film einer prachtvollen Naturdokumentation, in der eine Welt zu sehen ist, von der wir heute wissen, dass es sie in 30 Jahren wohl nicht mehr geben wird, wenn wir so weiter machen wie bisher.

"Everything will Change" ist eine wilde Mischung aus dystopischer Science Fiction, Zeitreiseabenteuer, Aktivismus-Drama, Naturdoku, angereichert mit Archivbildern, Wissenschaftsberichten, Expertenanalysen, Märchenerzählungen und Animationen. "Dass diese vielen Stilelemente dazugekommen sind, hat viel mit meinem persönlichen Geschmack zu tun", sagt Marten Persiel: "Wie meinen ersten Film 'This ain’t California' habe ich auch diesen wieder mosaikhaft angelegt. Wenn man genau suchen würde, rührt das aus so einer Art Hiphop-Attitüde. Ich habe früher viel Hiphop-Beats und Musik gemacht. Sich etwas nehmen, zitieren und sampeln, das finde ich ästhetisch spannend."

Ein paar Tricks gegen hohe Produktionskosten

Es ist ein bunter Strauß von Genres und Ideen, die in "Everything will Change" zusammenkommen. Im Kern liegt eine Science Fiction, der dystopische Entwurf einer Zukunft nach der schleichenden Apokalypse, im Jahr 2054. Genre-Filme, insbesondere solche, die in der Historie oder in der Zukunft spielen, sind noch immer selten in Deutschland, vor allem weil es teuer ist, solche Welten real zu bauen oder aus Pixeln am Computer zusammenzusetzen. Marten Persiel war es wichtig, dass die Zukunft nicht zu weit in der Ferne liegt, so dass es noch überlebende Zeitzeugen von heute geben kann.

Ein weiteres Kriterium war, dass diese Menschen die mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump einsetzende Ära der "alternativen Fakten" kennen - dass sie unterscheiden können, welchen Fakten zu trauen ist und welchen nicht. Denn wenn wir etwas schützen wollen, müssen wir zuerst den Informationen trauen können. Ben, Fini und Cherry zweifeln an der Existenz der Giraffe, können diesen Zweifeln aber mit Recherchen beikommen.

Bei der Konstruktion der Zukunft hat Marten Persiel mit ein paar kostendrückenden Tricks gearbeitet. Die erste Szene, noch in der Stadt, spielt in einem Vintage-Laden, in dem alte, also für uns heutige Dinge verkauft werden, was entsprechend leicht nachzubauen ist. Danach beginnt die Exkursion aufs Land, zu den Aktivisten, die in einer DNA-Arche Spuren der verlorenen Wildnis sammeln. Mit einer frisch von Arri entwickelten Infrarot-Kamera und geschliffenen Filtern wurden die Landschaften futuristisch verfremdet, so dass alles, was grün ist, rot gefärbt ist.

Nachrichten aus der Zukunft als Weckruf für heute

Zu Wort kommen auch eine ganze Reihe renommierter Wissenschaftler von heute, Biologen, Philosophen, Meteorologen, Ozeanographen, Agraringenieure, aber auch der spirituell begabte Filmemacher Wim Wenders, dessen Stiftung im Förderprogramm für innovatives, postmodernes Erzählkino den Film mitfinanziert hat.

Persiel sagt, er habe befürchtet, dass so namhafte Wissenschaftler davor zurückschrecken könnten, in einem aktivistischen Unterhaltungsfilm nur vage belegbare Aussagen zu treffen. Aber das Gegenteil war der Fall: "Alle haben gesagt: Endlich mal ein Projekt, das interessanter erzählt, so dass wir vielleicht mal ein generelles Publikum erreichen", sagt Persiel. "Unsere Daten und Erkenntnisse bringen wir nicht gut an den Mann und die Frau, weil Wissenschaft immer noch als trocken gilt. Wir wollen in 90 wilden Minuten mit viel Musik, vielen kleinen erzählerischen Einfälle, unterhalten, und zwar mit Wahrheit und mit wissenschaftlichen Einsichten in unser Leben."

So schauen sie alle rückblickend von der Zukunft 2054 auf unsere Gegenwart, und rekapitulieren, was wir heute wissen, aber nicht anwenden. Sozusagen eine Nachricht aus der Zukunft, als Weckruf für heute.

Sendung: rbb Kultur, 12.07.2022, 16 Uhr

Beitrag von Anke Sterneborg

1 Kommentar

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  1. 1.

    Ich glaube mit unserer Menschheit wird das nichts mehr auf diesem schönen Planeten Erde. Dafür sind die meisten zu rücksichtslos und verdrängen die Tatsachen.

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