Lee Ufan im Hamburger Bahnhof - Wie ein Sprung ins Unbekannte

Fr 27.10.23 | 15:16 Uhr | Von Marie Kaiser
Die Retrospektive von Lee Ufan ist im Hamburger Bahnhof zu sehen. (Quelle: rbb/Marie Kaiser)
Audio: rbb24 Inforadio | 26.10.2023 | Marie Kaiser | Bild: rbb/Marie Kaiser

50 Jahre nach seiner ersten Ausstellung in Deutschland: Der Hamburger Bahnhof widmet dem weltbekannten koreanischen Künstler und Philosophen Lee Ufan die erste deutsche Retrospektive. Von Marie Kaiser

Ein großer Stein liegt in der Mitte einer Glasplatte. Auf den ersten Blick wird klar, dass dieser graue Koloss hier nicht behutsam abgelegt, sondern einfach fallen gelassen wurde. Wie Spinnenbeine ziehen sich rund um den Stein Risse bis zum Rand der Glasplatte. Es ist kein Zufall, dass Lee Ufan in seiner Installation ein Ding aus der Natur und ein Industrieprodukt im wahrsten Wortsinn aufeinanderprallen lässt.

Der koreanische Künstler, der seit 1956 in Japan lebt, gründete dort 1968 die Kunstbewegung "Mono-ha", was übersetzt "Die Schule der Dinge" bedeutet. Die Künstlerinnen und Künstler von "Mono-ha" lehnten sich gegen traditionelle Vorstellungen von Kunst auf. Ihnen ging es nicht um die Schöpfung von Werken als Ausdruck eines künstlerischen Genies, sondern darum, die Welt so zu zeigen, wie sie ist. Mit einfachen Materialien wie Steinen, Ästen, Erde, aber auch Stahl oder Glas. Eine ganz eigene Form des Minimalismus, die sich klar von der US-amerikanischen "Minimal Art" abgrenzt.

Mit "Mono-ha" die Welt so zeigen, wie sie ist

Als Lee Ufan zum ersten Mal einen Stein auf eine Glasplatte fallen ließ, steckte in dieser künstlerischen Geste auch ein Geist der Rebellion. Im Jahr 1968 war er Teil der japanischen Studentenbewegung und der Akt der Zerstörung auch als Protest gegen den Vietnam-Krieg gemeint. Für seine erste deutsche Retrospektive hat der mittlerweile 87-jährige Künstler diese Geste im Hamburger Bahnhof erneut vollzogen und wieder ganz kontrolliert einen Stein auf eine Glasplatte fallen lassen.

"Heute ist es kein Akt der Zerstörung und kein Protest gegen die gesellschaftliche Realität wie damals", verrät Lee Ufan im Gespräch mit rbb|24. "Während ich diesen Akt des Zerbrechens immer wiederholt habe, habe ich mich verändert. Ich bin älter geworden. Mein Denken hat sich verändert. Nun steckt für mich auch eine gewisse Schönheit und Poesie darin."

Die Retrospektive von Lee Ufan ist im Hamburger Bahnhof zu sehen. (Quelle: rbb/Marie Kaiser)Kunstwerk von Lee Ufan im Hamburger Bahnhof in Berlin

Der Künstler als Philosoph

60 Arbeiten aus sechs Jahrzehnten sind in der Retrospektive zu sehen. Sie alle sind die Früchte intensiven Nachdenkens. Lee Ufan hat Philosophie studiert, und in seinen Arbeiten spiegeln sich immer wieder Überlegungen des deutschen Philosophen Martin Heidegger. Wie die Idee des "In-der-Welt-sein", also die grundlegende Seinsverfassung des menschlichen Daseins.

Wie alles miteinander in Beziehung steht und miteinander verbunden ist, darum geht es Lee Ufan in seiner Skulpturen-Serie "Relatum", an der er seit den 1960er Jahren bis heute arbeitet. Der lateinische Begriff "relatum" bezieht sich auf die wechselseitige Beeinflussung verschiedener Elemente innerhalb eines Systems. Hinter einem Vorhang, in einem abgedunkelter Raum, verbirgt sich das "Relatum Language".

Um eine nackte und nicht erleuchtete Glühbirne, die in der Mitte von der Decke baumelt, sind sieben große Steine im Kreis aufgestellt. Lee Ufan hat sie auf Kissen gesetzt, so dass die Steine fast wie menschliche Wesen wirken, die bei einer kleinen Versammlung miteinander sprechen.

Beim Arbeiten soll nicht gedacht werden

So wichtig das Nachdenken für Lee Ufan im Vorfeld jeder künstlerischen Arbeit ist, so sehr möchte der Künstler aus dem Denken ausbrechen, wenn er ans Werk geht: "Mir ist es wichtig, einen klaren Kopf beim Arbeiten zu haben. Ich schließe meine Augen, konzentriere mich auf meinen Atem und schaue in die Weite. So versuche ich Emotionen und alltägliche Gedanken, die mir normalerweise durch den Kopf gehen, hinter mir zu lassen. Wenn ich mich mit dem Material beschäftige, will ich nicht von Nebensächlichkeiten abgelenkt werden. Im Idealfall möchte ich beim Arbeiten gar nicht denken."

Mir geht es nicht darum, Antworten zu geben. Es geht mir um das Unbekannte

Lee Ufan

Pinselstriche, die wie Wind über die Leinwand fegen

Besonders in der Malerei Lee Ufans wird dieses intuitive Arbeiten sichtbar. Für die Serie "From Point" tauchte er den Pinsel in blaue oder orange Farbe und malte dann farbige Punkte und Flecken rhythmisch auf die monochrome Leinwand, die von links nach rechts immer mehr verblassen.

In der Serie "From Line" setzt Lee Ufan sich mit der Grundlage der Malerei, dem Pinselstrich, auseinander. Ein ganz minimalistisches Bild mit Dutzenden vertikalen blauen Farblinien, die eng nebeneinander stehen, steckt voller Energie. Als wollten die Pinselstriche wie Raketen in den Himmel starten.

In den 1980er Jahren versuchte Lee Ufan in seiner Serie "From Winds / With Winds" die flüchtigen Bewegungen des Windes einzufangen. Dem Künstler gelingt es, Pinselstriche wie Wind über die Leinwand fegen zu lassen, auf manchen Bildern scheinen sie sogar zu schweben.

Ein echter Rembrandt ist auch dabei

Am Ende wartet die Retrospektive noch mit einer Überraschung auf. Ein echter Rembrandt wird Teil einer Installation von Lee Ufan. Der Boden des ganzen Raums ist mit Kies bedeckt, in der Mitte führt zwischen zwei großen Steinen eine Art schmaler Weg aus Spiegelglas zur Wand, an der das "Selbstbildnis mit Samtbarett" hängt - eine Leihgabe der Gemäldegalerie Berlin.

Durch den knirschenden Kies nähert man sich Rembrandt, der einem aufmerksam und wach in die Augen schaut. Ganz lebendig, als könnte er einen jeden Moment in ein Gespräch verwickeln. Über Jahrzehnte hat sich Lee Ufan mit den Gemälden von Rembrandt van Rijn beschäftigt. "Stehe ich vor den Selbstbildnissen Rembrandts, so erzittert das Innerste meiner Seele", sagt der Künstler. Mit dieser Installation im Hamburger Bahnhof gelingt es ihm, diese Erfahrung zu teilen.

Eines ist Lee Ufan bei seiner Arbeit besonders wichtig: "Mir geht es nicht darum, Antworten zu geben. Es geht mir um das Unbekannte." Und so fühlt sich auch diese Ausstellung an. Wie ein Sprung ins Unbekannte. Eine Herausforderung der Wahrnehmung. 50 Jahre nach Lee Ufans erster Ausstellung in Deutschland gelingt es der Retrospektive im Hamburger Bahnhof wirklich, ein Gespür für Lee Ufans Minimalismus zu vermitteln. Dem Atem und den Gedanken des Künstlers nachzuspüren, die sich in seine Arbeiten eingeschrieben haben.

Die Retrospektive von Lee Ufan ist vom 27.10.2023 bis zum 10.3.2024 im Hamburger Bahnhof zu sehen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 26.10.2023, 21:58 Uhr

Beitrag von Marie Kaiser

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