ARD-Themenwoche | Kiezsprechstunde in Kreuzberg - "Weil wir nur miteinander leben können und nicht gegeneinander"

Mo 07.11.22 | 14:23 Uhr
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Stadtteilarbeit mit Zuhörstunde in Kreuzberg am Urbanhafen (Quelle: rbb)
Kiezsprechstunde am Urbanhafen in Kreuzberg | Bild: rbb

Am Urbanhafen in Kreuzberg treffen allerhand Konflikte aufeinander: Müll, Lärm, zerstörte Natur, Obdachlosigkeit und Gentrifizierung. Jetzt gibt es eine Anlaufstelle für die Nachbarschaft, um gemeinsam die Situation zu verändern. Von Jana Kalms

Donnerstag 15 Uhr am Urbanhafen: Ein alter Bauwagen ist der Arbeitsplatz von Ayla Römer und Sally Pegesa. Beide sind angestellte Sozialarbeiterinnen in und aus Berlin-Kreuzberg. Sie wollen hier am Landwehrkanal die Welt etwas besser machen. Ihr Projekt nennt sich "Gemeinwesenarbeit" und wird vom Senat gefördert. Ayla Römer findet, die Gegend braucht Hilfe aus der Nachbarschaft: "Wir denken, dass so eine Anlaufstelle Sinn macht — ein Ort, wo Leute hingehen können mit ihren Fragen, Anliegen und Sorgen."

Seit Mai stehen Ayla und Sally zweimal in der Woche vor dem Bauwagen und bieten eine öffentliche Sprechstunde an. Sie wollen wissen, was die Leute auf dem Herzen haben, was ihnen hier nicht gefällt, was sie stört.

Im Gespräch mit Micha vom Kanu-Verleih erfahren sie, dass die Wasserqualität im Kanal immer noch schlecht ist, der Dreck ein Riesenproblem. Er findet gut, dass es diesen Austausch gibt und verspricht sich konkrete Veränderungen, vor allem weniger Stress, wie er sagt: "Denn so viele sind nur noch genervt – von dem Müll, von den Radfahrern, von der kaputten Natur. Jetzt gucken wir zusammen, was wir besser machen können."

Nicht meckern, sondern machen

Genau deshalb stehen die Sozialarbeiterinnen hier. Die 25-jährige Sally sagt: "Das Potenzial ist da etwas zu bewegen, weil Leute da sind, die mitmachen wollen."

Markus, der um die Ecke wohnt, kommt seit Wochen regelmäßig vorbei. Der 54-Jährige zeigt sich unzufrieden mit dem, was Grünflächen- und Ordnungsamt in seinem Stadtteil leisten: "Ich hatte keine Lust mehr zuhause zu sitzen und zu meckern. Ich wollte irgendwas machen. Und hier kann ich mich ein bisschen einbringen."

Genau das haben die Sozialarbeiterinnen auch vor: Menschen, die das Gleiche möchten, zusammenzubringen, um dann gemeinsam etwas zu tun. Heute haben sie sich zu einer Aufräumaktion im Böcklerpark gegenüber verabredet. Nur ein paar wenige Freiwillige kommen. Aber enttäuscht zeigen sie sich nicht, sondern froh über jeden, der bereit ist, den Müll von anderen wegzuräumen.

"Man sieht sofort den Unterschied. Indem wir aufräumen, ist der Ort willkommener und offener für alle. Das bekommen auch andere Leute mit und schließen sich vielleicht beim nächsten Mal an", sagt Ayla. Und ihre Kollegin Sally befindet, dass jede kleine Aktion schon als Erfolg zu werten sei. "Wir wollen damit auch die Gemeinschaft und den Zusammenhalt stärken", sagt sie. "Das wünschen sich viele Leute, wissen wir aus unseren Befragungen."

Die eigene Wut positiv nutzen

Das Ganze ist ein Anfang für bessere Nachbarschaft, denn außer Müll und Lärm hat der Kiez noch andere Probleme: Armut, Drogen und Gewalt sind alltäglich.

Nach dem Clean-up gibt es an diesem Tag noch Sport und Spiel im Böcklerpark. Peer hat zum Tischtennisturnier eingeladen. Etwa 20 Leute kommen.

Sally lernte Peer bei ihrer mobilen Stadtteilarbeit kennen. Aus einem "Hallo" an der Wohnungstür wurde ein folgenreiches Zwei-Stunden-Gespräch. Seitdem macht Peer ehrenamtlich bei der Gemeinwesenarbeit mit. "In der Corona-Zeit und mit dem Krieg habe ich gemerkt, wie hilflos und wütend ich bin ,und mich gefragt: Was kann ich tun? Ich kann die Maßnahmen nicht abschalten oder den Krieg beenden, aber ich kann in meiner Nachbarschaft was machen und da war für mich der leichteste Schritt, erstmal Tischtennis zu organisieren."

Sally Pegesa und ihr Projekt "Gemeinwesenarbeit" in Kreuzberg am Urbanhafen (Quelle: rbb)Sozialarbeiterin Sally Pegesa

Genau deshalb gibt es die offene Sprechstunde zweimal in der Woche — ein Ort, um Menschen zu verbinden, die zusammen etwas verändern wollen.

Gudrun, eine Seniorin aus dem Graefekiez, kommt vorbei. "Eigentlich bin ich ein zurückhaltender Mensch", sagt sie, "aber jetzt fange ich an mich in meiner Nachbarschaft zu engagieren. Weil wir nur miteinander leben können und nicht gegeneinander. Also müssen wir erstmal zusammenkommen."

Die Gemeinwesenarbeit am Urbanhafen gibt es jetzt ein halbes Jahr. Sally Pegesa sagt, sie seien noch in der Kennenlernphase: "Es braucht noch Vertrauen in unsere Arbeit, damit die Menschen auch merken, wir sind da, wir bleiben. Und da passiert auch was." Kiezversammlungen, Workshops, eine Gabenbox für Obdachlose – das haben Ayla und Sally als Nächstes vor - nichts Großes, aber etwas Gemeinsames.

Sendung: rbb Fernsehen schön+gut | 9.11.22 | 18:15 Uhr

"WIR gesucht! Was hält uns zusammen?" Die ARD-Themenwoche vom 6. bis 12. November 2022 zeigt aktuelle gesellschaftliche Konflikte – und mögliche Lösungswege.  

Driftet die Gesellschaft auseinander in Alt und Jung, Arm und Reich, Trans und Cis, mit und ohne Einwanderungsgeschichte? Leben viele nur noch in ihrer eigenen Blase? Wo gibt es Räume für Dialog? Warum übersehen wir, was uns eint? Diese Fragen greift die Themenwoche in allen Programmen der ARD auf: im Fernsehen und Radio, in der ARD Mediathek und Audiothek, auf den Online- und Social-Media-Kanälen.

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2 Kommentare

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  1. 2.

    Also ich möchte das schon sehen und finde es gut das nicht nur den Privaten das Feld mit ihren, oftmals, fragwürdigen Sensationspresse das Feld ehrlicher Berichterstattung über den Alltag, von eben nicht alltäglichen Menschen, überlassen wird.

  2. 1.

    Bitte ARD und Anstalten, hört auf mit diesem Mist! Reformiert Euch so, dass wieder (fast) ganz DE Euch sehen will. Der rbb wird doch jetzt nur noch durch die Summe seiner Skandale zusammengehalten

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