Interview | Flüchtlingsheimbetreiber fünf Jahre "Wir schaffen das" - "Unser Land lebt von der Zuwanderung"
Friedrich Kiesinger ist Psychologe und Sozialunternehmer. Bis zu neun Flüchtlingsheime hat er mit seiner Firma Albatros seit 2015 geleitet. In puncto Integration habe man viel geleistet, sagt er. Doch sie erfordere noch einiges an gesellschaftlichem Umdenken.
rbb: Herr Kiesinger, wenn ich an den Sommer 2015 zurückdenke, habe ich symbolträchtige Bilder vor Augen: die Flüchtlingskarawanen auf der Balkanroute, klatschende Menschen, die in München Geflüchtete empfangen, aber auch Bilder von Demos gegen Flüchtlinge, die chaotischen Zuständen am LAGeSo. Woran denken Sie denn als erstes?
Kiesinger: Als erstes haben meine Frau, ich und auch Mitarbeiter überlegt: Was können wir dazu beitragen? Albatros ist eine NGO, die seit 1984 besteht, und wir machen viele unterschiedliche Dinge in Berlin. Wir wollten uns auch beteiligen, und haben uns dann gemeldet. Und dann wurden uns die Olympiahallen auf dem großen Gelände bei Hertha BSC zur Verfügung gestellt. Also ich denke, dass wir unheimlich viel geschafft haben.
Sie haben zu Spitzenzeiten neun Flüchtlingsunterkünfte betrieben. War das alles Ihrer Anfangsmotivation geschuldet? Oder haben Sie sich auch sooft gemeldet, weil Sie der unternehmerische Ehrgeiz getrieben hat? Sie sind ja auch Geschäftsmann.
Ans Geschäft haben wir ehrlich gesagt nicht gedacht. Es gab eher viele Probleme mit der Fiinanzierung, bis wir endlich Geld bekommen haben. Am Anfang war sehr viel Chaos, auch in den Berliner Verwaltung. Wir sind einfach ein bisschen mit der Welle mitgerissen worden in diese ganze Aktivität und haben unser Bestes gegeben. In diesen Großhallen haben wir in neun Monaten 42.000 geflüchtete Menschen betreut. Wir haben uns ein bisschen geschämt, dass wir dort so wenig Intimität für Frischgeborene, Hochschwangere, vulnerable Menschen bieten konnten. Wir bekamen dann das Hotel President als Alternative, das wir bis Ende diesen Jahres immerhin auch fünf Jahre betreiben.
Als Sie das Hotel President an der Urania zum Flüchtlingsheim aufgebaut haben, waren Sie rund um die Uhr damit beschäftigt, Probleme zu lösen, organisatorische, zwischenmenschliche, interkulturelle. Wie würden Sie den Mikrokosmos Flüchtlingsheim beschreiben?
Erstmal sind es völlig unterschiedliche Gruppen von Menschen und Ethnien. Zu Beginn kamen sehr viele aus Afghanistan, Irak, Syrien. Diese Menschen haben in ihren Heimatländern verschiedene politische Richtungen gehabt. Das waren nicht nur Oppositionelle. Wir haben festgestellt, dass die Leute untereinander sehr misstrauisch waren: zu welcher Clique, zu welcher Gruppe gehört der andere? Es gab viele Konflikte, weil die Männer sehr eifersüchtig waren. Sie waren gewohnt, ihre Frauen ein Stück weit zu behüten, damit sie nicht mit anderen Männern in Kontakt kommen. Von den 360 bis 370 Bewohnern waren 180 Kinder. Sie hatten keinen Auslauf: Das Haus ist mitten in der Innenstadt, an einer riesengroßen Kreuzung. Auf der einen Seite ist der Prostituiertenstrich, auf der anderen Seite der Schwulen-Kiez und auf der dritten ab Wittenbergplatz der Ku'damm. Das war auch für die Menschen, die zum Teil aus Dörfern dahin kamen, Analphabeten, ein völliger Kulturschock. Alles prallte zusammen.
Sie haben schon damals kein Blatt vor den Mund genommen, wenn es darum ging, Probleme zu benennen. Wenn es etwa um Gewalt in Familien ging, wenn sich Leute nicht einfügen wollten in diese Zwangsgemeinschaft. Wie wird man denn solcher Probleme Herr?
Es war erstmal gut, dass wir interkulturelle Security-Leute hatten, die auch die Sprache konnten. Dann war ganz zentral, dass wir uns nicht im Büro versteckt haben, sondern zu den Menschen gegangen sind, sie besucht haben in ihren Zimmern, auch diejenige, die sich vielleicht depressiv in ihren Zimmern verbarrikadiert haben. Also ich glaube, das Allerwichtigste war, dass wir Lust auf die Menschen hatten, und keine Verwaltungseinheit aufgebaut haben.
Für manche Leute sind solche Probleme ein Anlass zu sagen: Das funktioniert einfach nicht mit den Flüchtlingen, die passen nicht hierher. Die wollen wir nicht.
Na ja, was heißt, die passen nicht hierher. Deutschland ist mitten in Europa, das habe ich schon von meinen Eltern gelernt. Da kamen die Wikinger, die Römer, die Franzosen, die Hunnen. Schon immer sind wir ein zentrales Durchgangsland. Was wir unter Adolf Hitler erlebt haben, dass wir angeblich eine reinrassige Arier-Rasse sind, stimmt hinten und vorne nicht. Wenn man sich die letzten Tausende Jahre anguckt, waren wir immer ein Land, zu dem Menschen gekommen sind. Und wenn ich mich heute umgucke, die Italiener, die Türken, die haben alle etwas mitgebracht, was inzwischen zu unserem Kulturgut zählt. Unser Land lebt von Zuwanderung. Wir haben eine ganz hohe Überalterung. Ein Drittel der Flüchtlinge, die hierherkommen, hat vorher selbstständig gearbeitet. Wir brauchen Unternehmertum. Wir brauchen diese Menschen, um unseren Wohlstand zu halten.
Schauen wir mal vom Mikrokosmos Heim auf die gesellschaftliche Ebene. Es ist jetzt fünf Jahre her, dass Angela Merkel in puncto Integration gesagt hat: "Wir schaffen das". Was haben wir geschafft?
Wenn wir auf Berlin gucken haben wir geschafft, dass über 100.000 Menschen aus diesen Flüchtlingsländern inzwischen in Berlin leben. Wir haben es geschafft, dass ein erstaunlicher Teil in Ausbildung und Arbeit ist – aber immer noch viel zu wenig. Viele Konflikte haben sich etwas befriedet. Es gibt zum Beispiel weniger Übergriffe auf Flüchtlinge wie zu Anfang. Wir haben auch viele Kinder integriert in Kitas und Schulen. Mehr Probleme haben wir bei denen, die nicht schulpflichtig sind, die vielleicht mit 18, 19 oder 20 Jahren hergekommen sind, und die keine Ausbildung haben. In so einer großen Stadt wird man schnell verführt und denkt: Der hat ein dickes Auto, der hat eine tolle Frau. Und das schaffe ich nicht, indem ich erstmal für 400 Euro eine Lehrstelle mache! Also ich glaube, diese Gruppe der Männer sind weiterhin das Kernproblem.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die Zutaten, damit diese Integration auch bei dieser schwierigeren Zielgruppe klappt?
Ich finde, es werden in der Öffentlichkeit, auch in den Medien, zu wenige positive Beispiele gezeigt, die Vorbilder für andere werden. Ein weiteres großes Problem: Wir betreiben Einrichtungen, wo ein Sozialarbeiter mit 0,75 Stellenanteil für 150 Menschen verantwortlich ist. Diese Struktur klappt nicht. Wir müssten viel mehr investieren in die Betreuungsschlüssel, solange die Menschen in Flüchtlingseinrichtungen sind.
Wenn die Menschen erst einmal aus diesen Einrichtungen raus sind, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, dann kommt Klein-Afghanistan nach Marzahn in diese kleine Wohnung. Die Frau wird wieder unterdrückt. Der Mann versucht sich in der Struktur klarer Ebenen zu verankern. Die Männer verlieren ihren Status, verlieren in den Familien an Autorität, auch bei ihren Kindern.
Wir haben einen Fehler gemacht, als wir gesagt haben: Erst müssen sie Deutsch auf B2-Niveau können, bevor sie arbeiten dürfen. Die Leute wollten ganz schnell arbeiten. Sie haben oft auch ihren Familien Geld zurückschicken wollen, weil die sich verschuldet haben. Hier haben wir zu sehr auf eine deutsche klassische Struktur gebaut. Und das Ergebnis ist, dass viele nach drei, vier Jahren immer noch keine Arbeit haben.
Integration ist keine Einbahnstraße. Wie sieht es da bei unserer Aufnahmegesellschaft aus? Die Ereignisse von 2015 haben auch die Gesellschaft sehr stark polarisiert. Was könnte man denn da machen, um die Gräben vielleicht wieder etwas zuzuschütten?
Der Kernbereich ist die Arbeit. Wenn ich jetzt eine AfD-ler bin oder ein Rechter kenne ich nicht unbedingt einzelne Geflüchtete, sondern ich sehe sie als anonyme Masse: die Flüchtlinge, die Araber, die Afghanen. Sobald ich Kollegen habe aus Afghanistan, und merke, was sie für Menschen sind, welche Probleme sie haben, wie sie arbeiten, dann wird es konkret. Dann kann ich sagen: Die sind gar nicht so schlimm. Das ist der eine Königsweg, dass die Menschen einfach Kollegen werden.
Doch es gibt auch schlicht und einfach einen Teil der Bevölkerung, der rechts ist. Und ich glaube nicht, dass man das einfach verändern kann.
Fakt ist aber, dass die große Mehrheit ein Interesse hat an Integration und auch mithilft. Das haben wir 2015 im extremen Maß gesehen. Wir haben damals auch festgestellt, dass dieses Patenmodell, wo ich mich ganz konkret für eine Familie, für einen Menschen interessiere, ein super Integrationsmodell ist.
Wann ist die Integration in Ihren Augen eigentlich geglückt?
Ich glaube, wenn wir uns nicht mehr nur über Ethnien und Rassen definieren, sondern - das hört sich jetzt ein bisschen philosophisch an - eher als globale Menschheit, die Wanderungsbewegungen erlebt, von denen wir uns nicht abschotten können.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mit Friedrich Kiesinger sprach Anna Corves für Inforadio. Dieser Beitrag ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Version. Das Originalinterview können Sie mit Klick auf das Audiosymbol im Aufmacherbild nachhören.