Lange Wartezeiten in der Psychotherapie - "Zu kurze Praxisöffnungszeiten sind Teil des Problems"
Eine rbb|24-Datenrecherche zeigte, dass die Wartezeiten für einen Therapieplatz oft Monate betragen. Woran das liegt? Jedenfalls nicht daran, dass der Bedarf falsch eingeschätzt werde, sagt Ann Marini vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Ein Problem liege auch bei den Therapeuten.
Aber was können Sie denn zum Ergebnis unserer Recherche sagen? Dass zum Beispiel Wartezeiten im Schnitt zwölf Wochen und länger sind sind. Dass es ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land gibt.
Tatsächlich haben wir als Geschäftsstelle des G-BA keine eigenen Daten zu Wartezeiten. Und auch nicht zu den sogenannten lokalen Versorgungsgraden – also zum Zahlenverhältnis von Einwohnern zu Psychotherapiepraxen: Die aktuelle Versorgungssituation wird nicht vom G-BA, sondern vor Ort bewertet. Dort wird zum Beispiel geschaut, ob Wartezeiten entstehen, weil innerhalb einer Region die Sitze nicht gleichmäßig verteilt sind.
Grundsätzlich zielt die Bedarfsplanung natürlich darauf ab, dass das psychotherapeutische Angebot auf dem Land genauso abgesichert ist wie in Städten. Aber es zeigt sich, dass es in allen Arztgruppen immer wieder an Interessenten fehlt, die sich in strukturschwachen Regionen niederlassen. Das gilt auch für die Psychotherapeut:innen. Da stößt die Bedarfsplanung an Grenzen und es sind andere lokale oder regionale Förder- und Anreizsysteme gefragt.
Aber wieso ist das immer noch so schwer eine gute psychotherapeutische Versorgung sicherzustellen? Sie hatten ja eigentlich 2018 schon in einem Gutachten [g-ba.de] als G-BA festgehalten, dass es 2.400 neue Psychotherapeut:nnen braucht. Tatsächlich sind nur ungefähr 800 neue Kassensitze geschaffen worden.
Wenn man über das von Ihnen zitierte Gutachten der Universität München spricht, fällt auf, dass das oft so verkürzt wird, als würde es den aktuellen Bedarf ausweisen. Aber es geht da um einen Ausblick basierend auf gewissen Annahmen. Außerdem wird eine dritte Zahl aus dem Gutachten so gut wie nie thematisiert. Das Gutachten zeigt auch, dass eine Umverteilung von Kapazitäten notwendig wäre. Es wird ein 'Abbau' von 2.527 Psychotherapiesitzen in überversorgten Regionen bei einem Versorgungsgrad von 140 Prozent thematisiert. Die Zahl muss man der von Ihnen zitierten Anzahl von 2.400 gegenüberstellen.
Diese Passage aus dem Gutachten ist uns nicht entgangen. Aber kann man denn wirklich von Überversorgung in den Städten sprechen, wenn man dort im Mittel zwei Monate auf eine Therapie wartet, nachdem man ein Erstgespräch hatte?
Es gibt auch Dinge, die die Bedarfsplanungs nicht beeinflussen kann, beispielsweise die Praxisöffnungszeiten. Für einen ganzen Arzt- oder Therapeutensitz muss die Praxis mindestens 25 Stunden in der Woche geöffnet sein. Ein normaler Arbeitnehmer wird aber in der Regel 37 bis 40 Stunden in der Woche arbeiten. Selbst wenn man also bedenkt, dass neben der Praxiszeit noch Verwaltung, das Schreiben von Gutachten und ähnliches anfallen oder Therapeut:innen teils sehr schwere Fälle behandeln, wirkt es auf mich, dass zu kurze Praxisöffnungszeiten Teil des Problems sind.
Von Krankenkassen hört man außerdem immer wieder, dass es Therapeut:innen gibt, die einen ganzen Kassensitz haben, den nicht voll ausnutzen. Die machen nebenbei noch Beratung und Coaching. Und das ist für die individuelle Lebensplanung vollkommen in Ordnung – für die Versorgung ist das aber ein Problem.
Wir haben ja mit Hunderten Therapeut:innen gesprochen. Und da hatten wir nicht den Eindruck, dass die ihren Kassensitz nicht voll ausschöpfen. Ist nicht eher das Problem, dass die Definition dafür, was als ausreichende Versorgung gilt, total veraltet ist? Die Definition beruht darauf, dass geschaut wurde, wie viele Therapeut:innen es 1999 in einem Gebiet gab. Und das ist dann mehr oder weniger die Zahl, die als 100 Prozent in der Versorgung gilt.
Natürlich können wir darüber diskutieren, ob der sogenannte Stichtagsbezug sinnvoll war und ist. Aber das ist eine Sache, die hat damals der Gesetzgeber so entschieden. Ich vermute ganz stark, dass sich der Gesetzgeber bei der nächsten Reform auch darüber Gedanken machen wird.
Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist aber: Die Verhältniszahlen von Einwohnern pro Praxen werden vom G-BA regelmäßig überprüft und angepasst. Es sind also keinesfalls die selben Zahlen wie seit den 90er Jahren. Und wie gesagt, man hätte regional schon heute die Chance, von den bundeseinheitlich angelegten Vorgaben abzuweichen und zwar deutlich.
Aber da drehen wir uns im Kreis. Die Therapeut:innen zeigen auf die KV. Die KV auf die G-BA-Richtlinien. Und Sie als G-BA sagen, die KV kann abweichen. Aber wieso machen Sie überhaupt noch Richtlinien, wenn alles variabel ist?
Das ist der gesetzliche Auftrag, den der G-BA zu erfüllen hat. Und die Bedarfsplanung gibt den Kassenärztlichen Vereinigungen einen Planungsrahmen, damit sie ihrerseits den Sicherstellungsauftrag erfüllen können.
Seit 2012 gibt es außerdem neben der bundeseinheitlichen Planung bereits Spielraum für die Regionen. Die wurde bei der letzten Reform 2019 weiter ausgebaut. Und diesen Spielraum für eine bedarfsgerechte Versorgung vor Ort zu nutzen, das ist Aufgabe der regionalen Ebene. So ist die Aufteilung.
Und jetzt unabhängig von der reinen Zahl der Theapeut:innen mit Kassenzulassung, müsste man nicht allgemein den Zugang vereinfachen? Zurzeit ist es doch viel Telefoniererei. Und ob eine Person mit Depressionen es hinkriegt, 20, 30 Anrufe pro Tag zu machen, das ist eher zu bezweifeln.
Absolut. Genau dafür gibt es ja auch die Terminservicestellen. Die vermitteln auch Termine für das sogenannte Erstgespräch. Hier wird erstmal abgeklärt, ob und inwiefern ein behandlungsbedürftiges psychisches Leiden vorliegt. Und wenn nötig unterstützen die Terminservicestellen einen bei der Suche nach einem Platz für eine Akutbehandlung oder Probesitzungen für eine Richtlinientherapie.
Leider vermitteln sie aber eben keinen Platz in der Richtlinientherapie selbst. Das ist aus meiner Sicht ein Knackpunkt. Diesen Teil der Versorgung hat der Gesetzgeber bisher außen vorgelassen. Überhaupt dass ein:e Therapeut:in ohne Begründung sagen kann, dass sie einen Patienten oder eine Patientin nicht aufnimmt, selbst wenn sie freie Kapazitäten hätte, das finde ich wirklich schwierig. Das machen andere Fachärzte oder Hausärzte nicht.
Gut, aber bei der Psychotherapie geht es schon darum, dass es persönlich passen muss zwischen Patient:in und dem Behandelnden.
Klar. Aber man muss auch sagen, dass eine Therapie eine medizinisch-fachliche Beziehung darstellt. Es geht darum, seelische Leiden zu lindern oder zu heilen. Dazu braucht es wie bei anderen Fachärzt:innen auch ein grundlegendes Vertrauensverhältnis. Aber das muss keine grenzenlose Sympathie füreinander sein.
Jetzt haben wir viel über das gesprochen, was im Argen liegt. Sehen Sie denn auch positive Fortschritte?
Also ich sehe in den Terminvergabestellen eine wirklich große Verbesserung für Patientinnen und Patienten. Hier werden vorhandene Kapazitäten transparent gemacht. Und selbst wenn das im Einzelfall bedeutet, dass man länger zur Praxis fahren muss oder nun eine:n Therapeut:in bekommt, die man sich nicht selbst ausgesucht hätte, dann ist das immer noch besser, als monatelang auf einen Termin bei der Wunsch-Therapeut:in um die Ecke zu warten. Ich würde mir darum wünschen, dass künftig auch so die Richtlinientherapie vermittelt wird.
Und Stichwort Digitalisierung und Videosprechstunde: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, was alles geht. Eine Videosprechstunde kann sicher nicht immer das direkte Gespräch ersetzen. Aber in vielen Momenten ist sie auf jeden Fall hilfreich. In diesem Zusammenhang wird der G-BA oft für den Umfang und die Vergütung von Videosprechstunden verantwortlich gemacht. Das ist aber die Aufgabe der Vertragspartner des sogenannten Bundesmantelvertrags. Also die Vertreter der Krankenkassen und der Ärzteschaft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Haluka Maier-Borst
Hinweis d. Red: In einer früheren Version des Interviews war noch als Zitat separat ein Satz hervorgehoben, der bei der Autorisierung von Frau Marini zurückgenommen wurde. Wir haben dieses Zitat entsprechend ebenfalls rausgenommen.