Erstmals Zahlen erhoben - Mehr als 27.000 wohnungslose Menschen in der Region leben in Notunterkünften

Fr 15.07.22 | 08:25 Uhr | Von Sebastian Schneider
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Symbolfoto: 31.01.2019, Berlin: Innenansicht eines der Mehrbettzimmer in der Notunterkunft der Gebewo gGmbH für Obdach- und Wohnungslose in der Storkower Straße (Quelle: dpa / Gregor Fischer).
Audio: rbb 88,8 | 15.07.2022 | Matthias Bartsch | Bild: dpa

Wie viele Menschen im Land kein festes Zuhause haben, lässt sich nur schätzen. Nun gibt es zum ersten Mal auch für Berlin und Brandenburg Zahlen, wie viele Wohnungslose in Unterkünften übernachten - mit großen Unterschieden. Von Sebastian Schneider

Morgens raus auf die Straße, abends oft wieder auf der Suche nach einem Schlafplatz: Das Leben vieler wohnungsloser Menschen in Deutschland entzieht sich amtlichen Versuchen, es zu erfassen. Vor allem über Schätzungen und Hochrechnungen kamen die Behörden und Hilfsorganisationen der Frage näher, wie groß die Not derjenigen ist, die durch die meisten Sicherheitsnetze gefallen sind.

Das Statistische Bundesamt hat am Donnerstag zumindest für einen Teil dieser Menschen erstmals bundesweite Daten vorgelegt: diejenigen, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder in vorübergehenden Quartieren leben. Demnach waren Ende Januar dieses Jahres in Deutschland rund 178.000 wohnungslose Menschen in solchen Unterkünften untergebracht. Das entspricht knapp der Einwohnerzahl von Potsdam. "Die jetzt veröffentlichten Zahlen sind ein wichtiger Schritt und besser als bisherige Schätzungen", sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetags, Verena Göppert.

Knapp 26.000 Betroffene in Berlin festgestellt - knapp 1.300 in Brandenburg

Berlin liegt im Ländervergleich auf Platz drei hinter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, allerdings bei der absoluten Zahl der wohnungslosen Menschen in Unterkünften: knapp 26.000 Betroffene wurden Ende Januar gezählt, Brandenburg hatte mit knapp 1.300 Menschen nur einen Bruchteil.

Auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet, liegt bundesweit nur Hamburg (0,99 Prozent) vor Berlin (0,68 Prozent). Dass Metropolen für wohnungslose Menschen auf der Suche nach Unterkünften attraktiver sind, ist nichts Ungewöhnliches - ein Hauptgrund dafür ist, dass es dort schlichtweg mehr Übernachtungsmöglichkeiten und andere Hilfsangebote gibt.

Bislang waren in Berlin mehr als 31.000 Wohnungslose erfasst. Wohnungslos bedeutet nicht gleich obdachlos: Die meisten Betroffenen bleiben über drei Jahre hinweg und länger ohne eigene vier Wände in Unterkünften. Die Dunkelziffer wird aber auf bis zu 50.000 Personen geschätzt.

Die Kommunen und Landkreise registrierten diesmal Menschen, die zum Stichtag 31. Januar 2022 in Räumen oder Übernachtungsgelegenheiten lebten, welche ihnen von Gemeinden oder mit Kostenerstattung durch andere Träger von Sozialleistungen zur Verfügung gestellt wurden. Auch Menschen im betreuten Wohnen zählten dazu, Geflüchtete nur, dann wenn ihr Asylverfahren erfolgreich verlaufen war.

Zwei Drittel männlich, in Berlin zum größten Teil nichtdeutsche Staatsbürger

Die deutliche Mehrheit der Betroffenen ist männlich, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Das bestätigt sich auch in Berlin und Potsdam: Knapp zwei Drittel der Wohnungslosen, die am 31. Januar in einer Unterkunft registriert wurden, waren Männer.

Bei der Verteilung der Staatsangehörigkeit zeigt sich in Berlin und Brandenburg ein großer Unterschied: Während in Berlin etwa 72 Prozent der Betroffenen nichtdeutsche Staatsbürger waren, galt das in Brandenburg für knapp 40 Prozent. Genauer wurden die Nationalitäten vom Statistischen Bundesamt nicht aufgeschlüsselt. Im Bundesdurchschnitt hatte ein knappes Drittel die deutsche Staatsangehörigkeit, 64 Prozent waren ausländische Staatsbürger.

Knappe Mehrheit in Berlin alleinstehend - aber auch größere Haushalte betroffen

Die knappe Mehrheit der Menschen in den Berliner Unterkünften lebte dort allein. Die zweitgrößte Gruppe aber waren Haushalte mit fünf oder mehr Personen, auch Paare mit Kindern waren vergleichsweise stark vertreten - das verdeutlicht den Unterschied zur Situation von obdachlosen Menschen, mit denen Wohnungslose oft missverständlich gleichgesetzt werden.

"Diese Menschen gehen ganz normal zur Arbeit und zur Schule. Nur anschließend nicht in ihre Wohnung, sondern in eine Wohnungslosenunterkunft. Wir dürfen diese Menschen nicht aus den Augen verlieren", sagte Taylan Kurt, Sprecher für Soziales der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, im vergangenen Februar dem rbb. Wohnungslosigkeit sei im Alltag kaum sichtbar.

Menschenrechtsinstitut: "Zusammenleben häufig geprägt von Angst und Konflikten"

In der Hauptstadt lebte die größte Gruppe der registrierten Menschen acht Wochen bis sechs Monate lang in einer Unterkunft für Wohnungslose. In Brandenburg war die mit Abstand größte Gruppe mindestens zwei Jahre in einer solchen Unterkunft untergebracht. "Wohnungslose Menschen, die in kommunalen Notunterkünften leben müssen, erleben häufig verdreckte und beschädigte Sanitäranlagen, Mehrbettzimmer, keine Privatsphäre und ein Zusammenleben geprägt von Angst und Konflikten", sagte Claudia Engelmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Menschenrechtsinstituts, am Donnerstag.

Für viele Betroffene und Familien sei dies kein Zustand von wenigen Tagen, sondern von Monaten und Jahren." Diese Menschen sind nicht nur in ihrem Recht auf Wohnen eingeschränkt, auch das Recht auf Familie, auf Gesundheit und auf Schutz vor Gewalt ist oftmals nicht gewährleistet", sagte Engelmann. Das Institut forscht eigenen Angaben zufolge zu menschenrechtlichen Fragen und beobachtet die Menschenrechtssituation in Deutschland, berät Politik, Justiz und Wirtschaft bei der Umsetzung von Menschenrechtsabkommen.

Der Staat ist per Gesetz verpflichtet, zu helfen

Engelmann nannte die Veröffentlichung der Zahlen am Donnerstag einen "ersten Schritt", forderte aber Mindeststandards für die kommunale Notunterbringung. Bund, Länder und Kommunen müssten verstärkt die Verantwortung für menschenwürdige Unterkünfte und kurze Aufenthaltszeiten übernehmen. Besonders die Länder sollten eine stärkere Rolle einnehmen.

Wer in Berlin wohnungslos ist, der kann sich beim Amt für Soziales im Bezirk melden, das dann einen freien Unterkunftsplatz zuweist. So regelt es das Gesetz. Der Staat ist verpflichtet, zu helfen. Außerdem unterstützt die Berliner Sozialverwaltung bislang 25 Einrichtungen und Dienste der Berliner Wohnungslosenhilfe wie etwa Beratungsstellen, Straßensozialarbeit und medizinische Versorgung.

Bundesregierung will genaueres Bild gewinnen

Die Ampel-Koalition hat angekündigt, den sozialen Wohnungsbau mit mehreren Milliarden Euro zu stärken, zuletzt war die Zahl der Sozialwohnungen in vielen Bundesländern trotz aller Beteuerungen der Verantwortlichen in den Vorjahren sogar gesunken [tagesschau.de]. Wie viele Menschen heute insgesamt ohne Wohnung leben, weiß die Regierung nicht. Deshalb habe das Bundesarbeitsministerium ergänzend eine umfangreiche repräsentative Erhebung in Auftrag gegeben, die verlässliche Zahlen zur Wohnungslosigkeit liefern solle, sagte der Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) am Donnerstag. Damit solle ermittelt werden, "wie viele wohnungslose Menschen ohne Unterkunft (Straßenobdachlosigkeit) oder verdeckt wohnungslos sind, also bei Bekannten oder Angehörigen unterkommen".

Auf dieser Grundlage könne die Regierung "zielgenaue Hilfen entwickeln, um das Übel der Wohnungslosigkeit zurückzudrängen", sagte Heil, ohne konkreter zu nennen, wie diese Hilfe aussehen könnten. Einen entsprechenden Bericht mit Empfehlungen kündigte Heil für den Herbst an.

Obdachlose nicht erfasst

Zum ersten Mal hat eine deutsche Regierung nun also zumindest Anhaltspunkte für das Ausmaß der Wohnungslosigkeit. Dass diese Not in der ansonsten durchaus statistikverliebten Bundesrepublik bisher nie systematisch festgestellt worden ist, zeigt, welche Bedeutung die Verantwortlichen ihr beigemessen haben.

Nicht erfasst wurden weiterhin Wohnungslose, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, und Obdachlose, die auf der Straße leben. Sie können nur in Notunterkünften übernachten, die vor allem von der Kältehilfe bereitgestellt werden. Sie haben keine eigene Bleibe und können auch nicht bei Bekannten unterkommen. Wie viele Betroffene in Berlin leben, weiß niemand. Schätzungen gehen von bis zu 10.000 obdachlosen Menschen in der Stadt aus.

Sendung: rbb24 Inforadio, 14.07.2022, 22 Uhr

Beitrag von Sebastian Schneider

27 Kommentare

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  1. 27.

    "Einen schönen Restsonntag nach Waidmannslust." In Waidmannslust ist heute erst Samstag, danke trotzdem

  2. 26.

    Mir war bisher nicht bewußt, daß es etwas zu entscheiden gab.
    Einen schönen Restsonntag nach Waidmannslust.

  3. 23.

    "Reiche haben sich größtenteils ihr Vermögen hart erarbeitet, die Chance hat in Deutschland jeder. "

    Gratuliere, zwei Lügen in einem Satz, das muß man erst einmal schaffen.

  4. 22.

    "der durchschnittliche Wohnungslose bekommt regelmäßig Geld, würde aber nie in eine Wohnung ziehen...." warum dann das heulen und Zähneklappern? Nein, ich kenne keinen Wohnungslosen und weiss auch nicht, was das ändern würde.

  5. 21.

    Wieso Schande für die Stadt? Jeder deutsche und i.d.R. jeder EU-Bürger hat in Deutschland Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Man kann aber niemanden dazu zwingen solche Leistungen zu beantragen. Und der Staat kann nicht für jeden und alles zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt Angebote um aus solch einer Situation herauszukommen. Die werden allerdings kaum wahrgenommen. Es stellt sich eh schon die Frage weshalb so viele Obdachlose aus dem Ausland kommen. Offensichtlich ist die Situation in Berlin immer noch besser als in den Heimatländern,

  6. 20.

    Diese weise Erkenntnis ist - zumindest in Berlin- seit Jahren bekannt....

  7. 19.

    Wenn Sie glauben die Fragen beantworten zu können, dann sollten Sie auch alle beantworten und auch wenn es für Sie unvorstellbar ist, aber der durchschnittliche Wohnungslose bekommt regelmäßig Geld, würde aber nie in eine Wohnung ziehen.
    Kennen Sie einen wohnungslosen Menschen?

  8. 18.

    Das zeigt leider den Rassismus auf dem Wohnungsmarkt, der es Menschen mit Migrationsgeschichte zusätzlich erschwert, eine Wohnung zu finden. Wirklich bitter, das stimmt.

  9. 17.

    Ich finde die Differenzierung zwischen Inlaendern und Ausländer interessant

  10. 16.

    Ihr Sozialneid ist hier fehl am Platz.
    Reiche haben sich größtenteils ihr Vermögen hart erarbeitet, die Chance hat in Deutschland jeder. Aber als Couchpotato dann neidisch sein, das ist nur primitiv!

  11. 15.

    Es müssen endlich mehr Wohnungen gebaut werden, damit solche Notunterkünfte gar nicht mehr notwendig sind. In Berlin werden zu wenige Wohnugen errichtet.

  12. 14.

    Es ist ein großer sozialer Verdienst, dass soviel Notunterkünfte, zur zeitweisen (!) Unterbringung, zur Verfügung stehen. Das leisten sich anderswo Andere nicht... Man geht natürlich lieber dahin, wo geholfen wird...

  13. 13.

    Sie übersehen (und überlasen, denn dieser Aspekt wird Im Artikel durchaus erwähnt) den zunehmend steigenden Anteil der Menschen, die Arbeit haben, aber aus verschiedenen Gründen keine Wohnung. Wer morgens ganz normal zu seiner Arbeit geht, aber in einer Notunterkunft schlafen muß, dem wäre mit einer „Umsiedelung“ in leerstehende Plattenbauten in Lauchhammer dann nicht geholfen.

  14. 12.

    Was für eine Schande für diese Stadt und Staat für alles ist Geld da nur für die Ärmsten der Armen nicht. Politiker/innen schamt Euch.

  15. 11.

    Von Mitleid bekommt keiner ein Dach über den Kopf und satt zu essen! Und " umsiedeln" ist durchaus eine Variante, wer eine Wohnung und eine Besserung seines Lebens WILL, würde sich wohl darauf einlassen.

  16. 10.

    "Zynisch" finde ich eher IHREN Kommentar: "die Bewohner der Reichenghettos würden zumindest zeitweise mit einem Resultat ihrer Raffgier konfrontiert." Sie geben den Menschen, die sich Wohlstand erarbeitet haben, die Schuld daran, dass es Obdachlose gibt? Sorry, aber das ist unsachlich und von Neid geprägt.
    Und natürlich ist es unlogisch, dass mancherorts Wohnungen leerstehen und in den Großstädten gibt es zu wenig Wohnraum.

  17. 9.

    „Erst wenn verläßliche Zahlen vorliegen, kann die Regierung zielgenaue Hilfen anbieten.“
    Solche Sätze von Politikern sind an Zynismus kaum zu überbieten!

  18. 8.

    Ganz sicher ist es teilweise freiwillig gewählt, "untertauchen in der Anonymität der Großstädte".
    Verteilung auf kleine Orte mit Leerstand ist kaum möglich.
    Sicher ist es auch teilweise ungewollt, unverschuldet...

  19. 7.

    Warum es nicht angeboten wird? Weil es keinen Profit bringt, deshalb wird es nicht angeboten.

  20. 6.

    "178.000 wohnungslose Menschen nicht viel"
    Das sind die offiziell erfassten, die kommunal irgendwie untergebracht sind.
    Ohne diejenigen, die sich bei Freunden, Bekannten oder sonstwie durchschlagen.
    Da gibt es noch die Dunkelziffer, die über ein Dach über dem Kopf, aber nicht über eine Meldeadresse verfügen etc. pp.
    Die Sozialverbände machen seit Jahren darauf aufmerksam. z.B. https://www.vdk.de/deutschland/pages/presse/presse-statement/77459/vdk_wohnen_ist_ein_menschenrecht_fuer_alle
    Da fallen die 178.000 durch.

  21. 5.

    Ihr Beitrag ist, mit Verlaub, ganz schön zynisch.
    Mal eben so die Zahl wohnungsloser Menschen mit der Gesamtzahl der Bevölkerung zu vergleichen und zu dem Schluß zu kommen, das sei doch eigentlich nicht besonders viel, ist schon grenzwertig.
    Die Anregung, diese Menschen aber gleichmäßig über das Bundesgebiet zu verteilen, wohl damit sie nicht so geballt auffallen, schlägt dann doch dem Faß den Boden aus.
    Relativierungen und Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Politik mag den eigenen Wohlstandsbauch für kurze Zeit sichern. Gesellschaftlich gesehen bedeutet es in meinen Augen eher ein Rückfall in die Barbarei.
    Im Gegenteil, man sollte diese Menschen in den einschlägigen Viertel-Frohnau, Grunewald, Zehlendorf usw. unterbringen. Dann hätten beide Bevölkerungsgruppen etwas davon-die Wohnungslosen besseren Wohnraum und die Bewohner der Reichenghettos würden zumindest zeitweise mit einem Resultat ihrer Raffgier konfrontiert.

  22. 4.

    Ist das Ihr ernst?
    Sie wollen Obdachlose umsiedeln, nach Schlüssel verteilen?
    Kennen Sie nur einen wohnungslosen Menschen?
    Nehmen Die sich die Zeit diese Menschen kennenzulernen und dann werden auch Sie hoffentlich ein bisschen mehr verstehen.

  23. 3.

    Nicht nachvollziehbar. Seit Jahren rufen die Bundesländer: Kommt her, kommt her. Und jetzt sind keine Wohnungen da. Menschenverachtend!

  24. 2.

    Bei ca. 83.000.000 Einwohnern in Deutschland sind 178.000 wohnungslose Menschen nicht viel. Ein Problem stellt jedoch die Anhäufung in Großstädten dar, hier sollte auch auf eine gleichmäßiger Verteilung über Gesamtdeutschland geachtet werden.

  25. 1.

    Und das bei Leerstand von Wohnraum u.a. in Lauchhammer, wenn ich mich richtig erinnere. Auch erinnere ich mich mal an einen Bericht, dass Plattenbauten abgerissen wurden, weil diese nicht mehr benötigt wurden. Warum wird es den Leuten ohne Dach überm Kopf denn nicht angeboten? Oder ist es zum Teil freiwillig gewählt?

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