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Audio: rbb24 Inforadio | 14.01.2022 | Natalija Yefimkina | Quelle: privat

Tagebuch (19): Ukraine im Krieg

"Wir verstecken uns nicht unter dem Teppich"

Philipp ist 20, schwul und studiert in Odessa. Er erzählt Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch, wie verknöchert seine Uni ist, wie es sich anfühlt als queerer junger Mann in der Ukraine und warum er nicht zur Armee darf.

Natalija Yefimkina: Im Endeffekt wollen wir alle, auch die Ukrainer, nichts mehr von dem Krieg wissen. Eigentlich träumen alle davon, ungezwungen wieder eine Flasche Sekt aufzumachen und den schrecklichen Traum vergessen zu machen. Der Krieg stumpft ab. Das, was wir heute alles wissen und was uns alltäglich erscheint, hätten wir noch vor einem Jahr nicht einmal ahnen können.

Doch der Zustand, in dem auch ich mich befinde, ist eine fragile Konstruktion. Man kann schon lange nicht mehr sagen, wie es einem geht. Es geht irgendwie - so ist es. Und alles, was einen belastet, bringt dieses Konstrukt ins Wanken. Deswegen distanziert man sich von Freunden, die mit einem irgendwas klären wollen, von Arbeit, die einem belanglos erscheint und zwingt sich zum Funktionieren.

Zur Person

Wir alle sind Meister der Gleichzeitigkeit geworden – der Krieg dort, das Leben hier. Im Grunde aber können wir nur schwer verstehen, warum alle weiterhin so viel Geld ausgeben, für Urlaub, Ausgehen, Klamotten, und warum so viel Schrott produziert, geschrieben und dafür wieder so viel Geld ausgegeben und verdient wird.

Dabei ist all das Besitzen und Haben so flüchtig, der Krieg zeigt, wie schnell alles vorbei sein kann. Und wie wenig letztlich bleibt. Ich rufe Philipp an.

Hören Sie mich?

Ja, sogar ziemlich gut.

Eigentlich sollten Sie doch jetzt um 12 Uhr Strom haben? Oder nicht?

Ja, eigentlich, aber genau weiß man es nie. Unserer Stadt und der Region sind bestimmte Zeiten zugewiesen, in denen es Strom gibt, aber die werden nicht immer eingehalten. Neulich besuchte uns das Oberhaupt der Energieversorgung aus Kiew und als eine Art Dreingabe, als königlichen Rubin sozusagen, gab es plötzlich Strom. Die Zeiten wurden eingehalten, es floss sogar noch mehr Stunden am Tag Strom. Aber jetzt ist er weggefahren und alles ist wieder, wie es war.

Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Glück ist, wenn das Licht angeschaltet wird, wenn du das hämmernde Geräusch des sich anschaltenden Kühlschranks hörst. Wenn das Lämpchen auf dem Fernsehgerät angeht und dir zu verstehen gibt, dass es Gottseidank wieder Strom gibt.

Mariupol | Quelle: privat

Wie oft wird ein- und ausgeschaltet?

In Odessa haben wir gerade folgende Reglung: 6 Stunden gibt es keinen Strom, 3 Stunden gibt es ihn. Aber diese 6 Stunden können mehr werden wegen außerplanmäßiger Abschaltungen.

Das heißt, Sie sind in Odessa?

Ja, im Moment noch, aber ich habe vor, irgendwann wegzuziehen. In Odessa wird es schlimmer und schlimmer.

Könnten Sie sich kurz vorstellen? Wie alt sind Sie und was tun Sie?

Ich heiße Philipp Maseivich und werde in diesem Jahr schon 21. Ich bin Student und gleichzeitig arbeite ich in einer Gambling-Firma.

Wo nochmal?

Ein Unternehmen, das für verschiedene Casinos arbeitet. Keine Casinos aus dem Untergrund, sondern solche, die gesetzlich alle Anforderungen erfüllen und sich dort befinden, wo es erlaubt ist.

Was genau ist das für eine Arbeit?

Ich bin Custom Supporter, das heißt aus verschiedenen Unternehmen kommen per Chat Anfragen, wann das gewonnene Geld z.B. auf das Konto überwiesen wird. Wenn etwas nicht funktioniert, dann schlagen wir eine Lösung vor.

Und welche Universität besuchen Sie, Philipp?

Ich studiere Management der Fluss- und Seeschifffahrt - so der heutige Begriff für diesen Beruf. Die sowjetische Bezeichnung war Seeverkehrswirtschaft. Aber ich habe mir diesen Beruf nicht ausgesucht, die Umstände haben mich dazu gezwungen.

Im Jahr 2020 hatte ich die Aufnahmeprüfung für eine kanadische Uni bestanden. Für das Aufnahmegespräch flog ich nach Kanada und erhielt ein 30%-Stipendium für die Ausbildung. Am 20. oder 21. Januar 2020 kam ich zurück in die Ukraine und zwei Tage später fing die COVID-Pandemie an.

Wegen der geschlossenen Grenzen konnte ich nicht nach Kanada ziehen und musste dringend eine passende Uni in der Ukraine suchen, die mich aufnimmt. Ich wählte nach einem sehr einfachen Prinzip: Welche Uni ist am nächsten zu meinem Zuhause.

In dieser Uni hatte auch meine Mutter gearbeitet und mein Vater studiert, sie haben sich dort kennengelernt.

#musikistkeinhobby | Robin & the Goblins

"Wer bestimmt denn, wie wir zu sein haben?"

Robin kann kein Instrument spielen, schreibt aber trotzdem opulente Kammerpop-Songs - im Kopf und später am Computer. Um das zu lernen, ist Robin nach Berlin gezogen. Und um frei zu sein. Von Hendrik Schröder und Christoph Schrag

Was geschah als der Krieg anfing?

Es gab viele Mitstudenten, die z.B. in Mariupol, Bredjansk oder in Kahovka waren, als alles anfing, also überall dort, wo ziemlich schnell die Front war und die Kämpfe stattfanden. Die haben sofort zu fühlen bekommen, was Krieg ist.

Aber meine Uni hat sich im Grunde nicht darum gekümmert. Dort bei Bombenalarm zu sitzen und dabei die noch sowjetische Lehrart zu hören - da wird einem angst und bange. Denn dort ist alles so geblieben wie zu Sowjetzeiten.

Als es hieß, wir sollten Präsenzunterricht besuchen, hatte niemand vor, unser Studentenwohnheim zu öffnen. Niemanden hat interessiert, wo die Studenten aus den okkupierten Gebieten, die nicht mehr zuhause lebten, hinsollen.

Es machte sich keiner Gedanken, dass unser Ausbildungsort eine maritime Akademie ist, somit eine halbmilitärische Bildungseinrichtung, in der jeder eine Uniform trägt. Mit uns zusammen lernen am gleichen Ort Studenten aus der Militärakademie, somit kann hier sehr leicht eine Rakete einschlagen.

Quelle: privat

Auch das Wohnheim ist den Dokumenten nach eine Kaserne und kein Wohnheim als solches. Deshalb wird auch die Anweisung, wonach auf neun Quadratmetern zwei Studenten leben sollen, nicht befolgt. Auf neun Quadratmetern leben hier sechs Studenten, das wird bis heute als Norm betrachtet.

Ich habe versucht, am Onlineunterricht teilzunehmen. Der Unterricht fängt an, nach 10 Minuten setzt Bombenalarm ein. Eigentlich sollte er unterbrochen oder vertagt werden, solange die Gefahr andauert. Die Lehrenden möchten es aber nicht vertagen und die Studenten haben danach auch was anderes zu tun, denn viele arbeiten. In Friedenszeiten war der Unterricht schon nicht besonders gut, aber jetzt kann man das überhaupt nicht mehr Unterricht nennen.

Ich weiß sehr viel über die Wirtschaft, vor allem über den maritimen Sektor, denn meine ganze Familie ist zu See gegangen. Meine Mutter hat Seeleute ausgebildet, sie geprüft und ihnen Diplome ausgehändigt. Mein Vater, meine zwei Brüder, der Opa meines Vaters und der meiner Mutter sind Seemänner. Auf See haben auch meine beiden Omas gearbeitet. Somit gab es für mich bis zum zweiten Semester nichts, was schwer war. Ich habe mich nicht besonders angestrengt und habe in der Uni auch nichts Neues gelernt.

(Die Telefonverbindung unterbricht für ein paar Minuten)

Warum ist die Verbindung so schlecht?

Wenn es keinen Strom gibt, entladen sich die Verteilerstationen und das Signal wird schwächer und am Ufer in Odessa ist die Verbindung sowieso schlechter, weil es hügelig ist.

Philipp, warum sind Sie nicht in der Armee? Jeder hier denkt, dass alle in der Ukraine eingezogen werden.

Um 4 Uhr morgens am 24. Februar bin ich raus aus meinem Zimmer und hab in einem Tweet sofort Putins Rede gehört. Und um 4 Uhr 50 hörte ich schon die ersten Explosionen. Ich habe meine Eltern angerufen und gesagt, dass wir packen und das Land verlassen müssen. So schnell wie möglich wegfahren. Zu dieser Zeit hatte ich schon ein Auto, das ich von meinem Opa bekommen hatte, seinen alten Shiguli.

Philipp | Quelle: privat

Wenigstens die Eltern wollte ich rauszuholen, aber die haben mir nicht wirklich geglaubt. Bei den ersten Explosionen war die Erklärung meiner Mutter, dass das Müllauto vorbeigefahren sei oder etwas einfach sehr laut war. Als ihnen alles klar wurde, war es schon zu spät.

Zwei Tage später kam ich ins Rekrutierungsbüro des Militärs. Ich bin ja ein Junge, der ganz gut Bescheid weiß, wie man schießt. Ich habe eine militärische Ausbildung, ich weiß, wie man Kalashnikows zusammen- und auseinander baut, wie man schießt und wie man richtig damit umgeht. Aber sie haben mich weggeschickt. Ich verwende jetzt nicht ihre Schimpfwörter: Junge, geh nach so und so… wir brauchen ausgebildete Menschen, wir brauchen dich nicht.

Sie sagten, nur in absoluter Notlage nehmen wir alle, aber jetzt brauchen wir dich nicht. Von da an bis heute hat sich niemand für mich interessiert.

Die ukrainische Armee, das muss man ihr zugutehalten, versucht die sowjetische und russische Praxis, egal wen zu nehmen und an die Front zu schicken, abzuschütteln. Im Prinzip ist es so, dass all die, die unbedingt wollen, nicht gleich an die Front geschickt, sondern erstmal ausgebildet werden. Und die ganz jungen, so wie ich, 21-, 22-Jährige, die werden nicht eingezogen. Man versucht sogar, sie mit allen Mitteln davon abzubringen.

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Leben Sie in einer Beziehung?

Ja. Ende April letzten Jahres habe ich Ljoscha kennengelernt. Wir haben uns öfter getroffen und festgestellt, dass wir viele ähnliche Interessen haben. Wie man das so sagt: Es war ein Geschenk des Schicksals. Und dann wurden wir ein Paar.

Wir verstecken uns nicht unter dem Teppich, das ist das Interessante. Natürlich passen wir auf, denn es gibt hier noch so Leute in der Ukraine, wie in Kanada oder auch in Europa: Sie machen zwar physisch nichts, aber man möchte auch nicht von ihnen beschimpft werden. Aber im Großen und Ganzen ist die Haltung dazu in der Ukraine ziemlich normal. Die Gesellschaft ist Gott sei Dank fast von den osteuropäischen Sitten weggekommen, wenn es darum geht, sich in das Sexualleben anderer Leute einzumischen.

So leben wir im Prinzip relativ offen.

Was ist das Furchtbare für Sie an dem Krieg? Sie sind ja ganz nah dran, wie fühlt sich das an?

Die Raketen habe ich aus meinem Fenster beobachtet. Ich habe gesehen, wie sie abgeschossen werden. Es ist nicht so beängstigend, wenn die Rakete über dich fliegt, aber es ist anstrengend, unangenehm. Ich werde das Heulen der Raketen nie mehr mit etwas verwechseln. Das ist viel lauter als ein Flugzeug. Viel durchdringender.

Ich habe gelesen, dass du die Rakete nicht hörst, wenn sie auf dich zufliegt. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, stelle ich mir die Spitze einer Rakete vor, wie sie direkt auf mein Fenster zufliegt. Das ist gruselig.

Meine Angst ist, dass die Russen, Gott bewahre, ihre Kräfte sammeln und über die Stadt Mykolajiv durchbrechen. Dann wären es bis Odessa nur noch 130 km.

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Was wünschen Sie sich für die Zukunft, Philipp?

Diese Zeit zu überleben, und dass niemand von meiner Familie und mir Nahstehenden durch eine Rakete, einen Bombensplitter oder eine Patrone stirbt. Ich will auch nicht sterben. Ich habe noch Pläne für dieses Leben.

Am Anfang hatte ich noch das Grundgefühl, mich schuldig zu fühlen, dass jemand dort gerade kämpft, während du hier hinter der Frontlinie rumsitzt. Aber dann ging es vorbei, weil es Sachen gibt, bei denen du verstehst, dass du machtlos bist.

Mit der Zeit ist eine Kriegsmüdigkeit entstanden und du versuchst das zu genießen, was du gerade in diesem Moment hast.

Ich liebe das Meer und die Strände von Odessa nicht besonders und war dort drei Jahre lang nicht. Aber in diesen Sommer bin ich fast jeden Tag hin.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.02.2023, 7 Uhr

Sendung: rbb24 Inforadio, 07.02.2023 | 10:48 Uhr

Beitrag von Natalija Yefimkina

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