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Audio: Inforadio | 08.01.2021 | Interview mit Andreas Schleicher | Quelle: dpa/R. Utrecht

Interview | OECD-Bildungsexperte

"Der Präsenzunterricht ist nicht zu ersetzen"

Trotz des verschärften Lockdowns sollen die Berliner Schulen schrittweise öffnen: zuerst für Abschlussklassen, danach für Grundschüler. Der OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher unterstützt im Interview diese Linie: Bildung sei deutlich mehr als nur Wissensvermittlung.

rbb: Guten Morgen, Herr Schleicher. Wie wird sich dieses Bildungsjahr im Lernniveau niederschlagen? Was erwarten Sie in der neuen PISA-Studie?

Andreas Schleicher: Bei Schülern mit gutem Bildungshintergrund und einem unterstützenden Umfeld zuhause sind kompensatorische Leistungen irgendwie noch wirksam. Aber bei Schülern ohne dieses unterstützende Umfeld sind es gravierende Leistungsdefizite. Da können Sie auch langfristig mit rechnen. Ein, zwei, drei Prozent des Lebenseinkommens gehen verloren. Es sind die sozial Schwächsten, die wieder immer weiter hinten bleiben. Die ohnehin große soziale Schere im Bildungsbereich in Deutschland wird damit noch weiter aufgedreht.

Zur Person

Andreas Schleicher ist Leiter des Direktorats für Bildung bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Er ist auch Initiator und Koordinator des "Programm for International Student Assessment" (PISA-Studien).

Berlin hat sich entschieden, Präsenzunterricht für einige Altersstufen in halben Klassen anzubieten - in Abwägung zwischen Ansteckungsgefahr und Unterricht. Wie wichtig ist der Präsenzunterricht für die Schülerinnen und Schüler?

Das sind immer schwierige Abwägungen. Aber der Präsenzunterricht lässt sich nicht so leicht ersetzen. Gerade in einem Land wie Deutschland, wo das digitale Angebot noch in den allerersten Anfängen ist. Selbst wenn es die Technik dafür gibt: Die sinnvolle Integration von Technologien bei Unterricht und Lernen - das ist in den allerersten Anfängen.

Und gerade in den ersten Schul- und Lebensjahren, da ist der Präsenzunterricht einfach nicht ersetzbar. Bildung ist ja auch immer Beziehungsarbeit, nicht nur die Transaktion von Wissen. Also: Der Ansatz in Berlin - wenn das die Gesundheitslage zulässt - ist, glaube ich, sehr vernünftig, dass man gerade bei den kleinsten Kindern schnell anfängt mit begrenzten Klassen. Bei den höheren Jahrgängen - da kann die Digitalisierung auch ein bisschen was erreichen. Aber man muss realistisch sein: Der Präsenzunterricht, die Arbeit der Lehrkräfte mit den Schülern direkt, den können sie nicht so einfach ersetzen.

Wäre der Präsenzunterricht auch dann so wichtig, wenn der digitale Unterricht, die digitalen Konzepte besser funktionieren würden?

In den ersten Schuljahren auf jeden Fall. In den ersten Schuljahren kann digitale Wissensvermittlung nicht sehr viel erreichen. Da ist der Präsenzunterricht ganz entscheidend für die Beziehungsarbeit, für die direkte Arbeit - gerade, wie gesagt, bei Kindern, die das zuhause so nicht haben. Denn das setzt ja auch voraus, dass Schüler selbstständig lernen können. Das können sie bei älteren Schülern teilweise sehen - aber ganz sicher nicht bei Grundschülern.

Trotzdem denke ich ist es wichtig, dass Deutschland bei der Digitalisierung einfach vorankommt. Der Digitalpakt kommt fast zehn Jahre zu spät, wenn man das mal vergleicht mit Ländern, die früher angefangen haben. Also ich glaube, da liegt - auch über diese Krise hinweg - sehr, sehr viel Potenzial. Sie können Lernen so viel spannender, interessanter machen. Sie können, wenn sie die Ressourcen wirklich gut einsetzen, dort auch Lernen sehr viel individueller gestalten. Sie können Technologie einsetzen, um Lerndefizite gezielt wieder auszubügeln. Da, denke ich, liegt sehr, sehr viel Potenzial unabhängig von dieser Krise. Aber realistisch gesagt: In den ersten Schuljahren bringt das relativ wenig. Das ist eher was fürs Gymnasium oder für die späteren Schuljahre.

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Wenn man sich jetzt diese Monate des Home-Schoolings anguckt: Wie wird sich das längerfristig niederschlagen in den Biografien der betroffenen Kinder? Kann man da schon was Verlässliches sagen?

Ja. Unsere Schulen sind unsere Wirtschaft und Gesellschaft von morgen - das ist völlig klar. Wir gehen davon aus: Ungefähr drei Prozent des Lebenseinkommens sind heute schon verloren, also durch den Lernverlust, den es bis heute gibt - bei den Schülern im Mittel. Und wie gesagt, bei Schülern, die jetzt noch mehr verloren haben, wird sich das noch deutlicher niederschlagen. [Lebenseinkommen bezeichnet den Betrag, den eine Person durch ihre Arbeit im Laufe ihrer gesamten Erwerbstätigkeit verdient, Anm.d.Red.]

Kann man das irgendwie aufholen? Also kann man jetzt noch etwas besser machen?

Ja, da muss man viel einsetzen. Es ist ganz wichtig, dass so viel wie möglich an Ersatzunterricht angeboten wird, dass man klare Prioritäten setzt. Dass, wenn man die Schulen jetzt nur begrenzt öffnen kann, wirklich die Schüler zum Zuge kommen lässt, für die das am wichtigsten ist. Das ist ganz, ganz wichtig, dass man so viel wie möglich aufholen lässt.

Man muss realistisch sein: Meistens ist es so, dass sich gerade soziale Disparitäten später einfach noch verstärken. Und was sie in der Schule nicht lernen, lernen sie im Leben nur ganz, ganz selten - also da werden ganz wichtige Grundlagen geschaffen.

Man muss realistisch sein - aber auf der anderen Seite muss man jetzt wirklich alles tun. Da geht es auch um Zusatzangebote in den Ferienzeiten. Jetzt einfach zu sagen: 'Das Schuljahr ist verloren und vielleicht setzen wir das einfach mal irgendwann obendrauf' - das ist wirklich keine akzeptable Lösung.

 

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