"Das tut dem System nicht gut" - Bahngewerkschaften lehnen Verlängerung des Neun-Euro-Tickets ab

Do 28.07.22 | 11:27 Uhr
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Archivbild: Fahrgäste steigen im Bahnhof aus einer Regionalbahn. (Quelle: dpa/S. Sauer)
Video: rbb24 Abendschau | 28.07.2022 | Jana Wochnik-Sachtleben | Bild: dpa/S. Sauer

Die Zukunft des Neun-Euro-Tickets wird seit Wochen diskutiert - nun auch mit den Gewerkschaften der Bahn. Sie lehnen eine Fortführung des Tickets ab. Die Infrastruktur sei für derartige Massenbeförderungen (zumindest noch) nicht ausgelegt.

Die Eisenbahngewerkschaften GDL und EVG sprechen sich gegen eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets aus.

Nach Ansicht der Gewerkschaft der Deutschen Lokomotivführer (GDL) sollte das Ticket nach dem Ende des Aktionszeitraums Ende August nicht verlängert werden. Der Vorsitzende der Gewerkschaft, Claus Weselsky, sagte am Donnerstag dem rbb: "Mit diesem Neun-Euro-Ticket, mit dem eigentlich die Pendler entlastet werden sollten, haben wir zusätzlichen Verkehr in die Eisenbahn hineingebracht, zusätzliche Reisenden-Anstürme. Das tut dem System nicht gut, weil es sowieso schon auf Verschleiß gefahren wird. Jetzt sind wir zusätzlich noch völlig überlastet."

Weselsky betonte, dass es zwar richtig sei, über ein bundesweites Ticket für den Nahverkehr nachzudenken. Ein solches Ticket müsse aber in erster Linie Pendlern zugutekommen. Vor allem für diese sei das Neun-Euro-Ticket zuletzt aber abschreckend gewesen, weil in den Bahnen Touristenströme zur Ostsee transportiert worden seien. Pendler, die mit dem Ticket entlastet werden sollten, hätten sich dadurch sogar eher von der Bahn abgewendet.

Tatsächlich sind die Beförderungszahlen der Deutschen Bahn (DB) im Regionalverkehr im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. 725 Millionen Fahrgäste hat die DB nach eigenen Angaben im ersten Halbjahr 2022 transportiert. Das sei ein Nachfrage-Zuwachs um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, teilte die Bahn am Donnerstag mit. Allerdings seien die Beförderungszahlen in den vergangen zwei Jahren wegen der Corona-Pandemie auch insgesamt niedriger ausgefallen.

Gewerkschaften fordern Ausbau der Infrastruktur

Weselsky forderte, bei Überlegungen über ein Nachfolgemodell, auch einen angemessenen Preis zu veranschlagen. Derzeit "verhökere" man den Nahverkehr und tue so, als sei die Beförderung von Millionen Menschen eine wertlose Leistung.

Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) spricht sich gegen eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets aus. Der Vizevorsitzende der EVG, Martin Burkert, sagte am Donnerstag, dass die "Belegschaft die Belastungsgrenze erreicht und teilweise überschritten" habe. Angesichts der Menschenmassen, die in den Bahnen befördert werden müssten, könne es eine Fortführung des Tickets so nicht geben.

Im Gegensatz zur GDL forderte der EVG-Vize Burkert jedoch langfristig sogar einen kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr. Vorher sei es aber unabdingbar, dass "Angebot und Kapazitäten flächendeckend ausgebaut werden".

20 Millionen Nutzer - Erfolg oder Überlastung?

Das Neun-Euro-Ticket gilt noch bis Ende August und ermöglicht bundesweit Fahrten im Nahverkehr. Allein die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) hatten im ersten Monat der Einführung rund 1,25 Millionen Tickets verkauft.

Bund und Länder diskutieren derzeit über eine Nachfolgeregelung. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) hatte ein 69-Euro-Ticket vorgeschlagen, das bundesweit gelten soll. Die Berliner Linksfraktion hatte sich beispielsweise für ein 365-Euro-Ticket ausgesprochen, welches ganzjährig bundesweit gültig sein soll.

Die Vorsitzende des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland (VCD), Kerstin Haarmann, sprach sich am Donnerstag für eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets aus. Mehr als 20 Millionen Menschen seien seit der Einführung zusätzlich mit Bussen und Bahnen gefahren. Der VCD wertet das im Gegensatz zu den Gewerkschaften der Bahn als Erfolg.

Streitpunkt bleibt Finanzierung

Der Bundesverkehrsminister solle nun schnellstmöglich eine Nachfolgeregelung bis zum 1. November auf den Weg bringen, um die "Chance auf eine klimaschonendere Mobilität" nicht zu versäumen.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hingegen sieht sich nicht in der Verantwortung, eine Nachfolgeregelung des Neun-Euro-Tickets auf den Weg zu bringen. Eine Nachfolge sei Ländersache. Diese müssten sehen, "wie sie das finanzieren wollen".

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.07.2022, 7:25 Uhr

77 Kommentare

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  1. 77.

    Das 9€ Ticket sollte Pendler vom Auto auf die Schiene bringen um sie finanziell zu entlasten. So die Theorie. Praxis ist, dass die Züge vollgestopft mit Freizeitkaspern sind, die mal eben Deutschland erkunden aber wo sie mit dem Auto niemals hingefahren wären - also eine zusätzliche Belastung des ÖPNV. Das 9€ Ticket ist eine gute Idee, aber bitte lokal begrenzt (z.B. Umkreis von 100 km) damit die Zielgruppe auch tatsächlich entlastet wird ...

  2. 76.

    Fazit: Kostendeckende Fahrpreise wie vor dem 9€-Ticket verhindern eine Verkehrswende. Deshalb sollte das 9 €-Ticket verlängert oder ein 365 €-Ticket eingeführt werden.

  3. 75.

    Gehört das nicht alles mal auf den Prüfstand ? Alles verkrustet und marode. Aber es tönt wie zum Hohn aus allen Kanälen : Modern, bunt, vielfältig, usw. ! Aber ist es nicht letztendlich die pure Einfalt gepaart mit Ideologie und der Angst mal wirklich etwas neues zu wagen ?

  4. 74.

    Einfach mal freimachen von der Vokabel "fmit-finanzieren": Der Staat und Kommunen dürfen Steuern einziehen und machen davon Gebrauch. Es ist aber nicht so, dass diese Einnahmen zweckgebunden sind - weil sie es nicht sind! Jedes Kind braucht einen Namen, trotzdem wird auch aus dem Topf Kfz-Steuern etwa die Bundeswehr mitfinanziert, weil welche Steuereinnahmen Staat und Kommunen wofür ausgeben, dain sind Staat und Kommunen völlig frei!!!!!!!!!!!!!!!!!

  5. 73.

    Ohne "h" wird gar kein Schuh draus :~) und das "sich vor Ort ein Rad ausleihen" bedeutet, sich kümmern müssen, planen, organisieren.... das ist doch den Meisten wieder zu hoch. Und, ein Rad leihen kostet Geld, auf das Ticket für's Rad werden die meisten wohl verzichten.

  6. 72.

    Umgekehrt wird ein Schu draus: der ÖPNV dient vorrangig der Personenbeförderung. Wer unbedingt in der Freizeit Rad fahren möchte, kann sich vor Ort ein Rad ausleihen anstatt mit dem Drahtesel im Zug anderen den dringend benötigten Platz wegzunehmen.

  7. 71.

    Und, wann soll denn der Ausbau der Bahn-Infrastruktur so weit erledigt sein, dass sie einem 9-Euro-Ticket „standhält“ ?! … 2045 ?! … Und wer macht das woran fest ? … ... Ach, es ist zum Mäuse melken ... Die Bahn hat jetzt (nahezu) alle Bedarfe und Schwachpunkte im System aufgezeigt bekommen ... Nun mache man sich bitte daran, diese zu befriedigen bzw. zu beseitigen ... Und zwar unter dem Dauerdruck des weiter vorhandenen 9-Euro-Tickets ... Dann gehen auch Investitions- und Personalentscheidungen ganz schnell, weil nicht lange darüber gefaselt werden muss ob die hier und da wirklich notwendig sind ... Weil, sie sind ist in der PRAXIS EXISTENT !

  8. 70.

    Können Sie bitte Ihren Kommentar etwas näher erklären?
    z.B. Volkswirtschaftlich ... großer Erfolg?
    Negatives kann weitgehende beseitigt werden?

  9. 69.

    Die Bahngewerkschaften lehnen das Ticket ab … So, so … Das MASSEN-Verkehrsmittel Bahn soll also NICHT die Massen befördern, ja ?! … Sondern was dann ?! … ... Ach, man will bei der Bahn doch nur wieder seine Ruhe vor dem "ganzen Pöbel" haben und in gewohnter Schläfrigkeit wieder Fahrpläne am Bedarf vorbei "optimieren" und über Kapazitäten diskutieren von denen sie gar nicht wissen, ob sie wirklich passen ... Überflüssige, verspielte und teure Trail-and-Error-Spiele auf der Suche nach dem "ganz tollen Bahn-System" für das dann Alle "ganz viel zu zahlen bereit sind" ... Zeit- und Geldverschwendung !

  10. 68.

    Das 9-Euro-Ticket ist (sozial und volkswirtschaftlich) von guten und großen Erfolgen gekrönt … Das Positive überwiegt das (noch) Negative um das vielfache … Das Negative kann dazu noch sehr weitgehend beseitigt werden … Und hier und andern Orts wird TROTZDEM versucht es zu eliminieren … Unfassbar !

  11. 67.

    " Denn all diese billigen Tickets sind vom Steuerzahler finanziert und das kann einfach nicht sein, dass ein Staat auf Kosten anderer Geschenke macht "

    Das gleiche könnten natürlich auch überzeugte ÖPNV Nutzer sagen denn auch der Autoverkehr wird in erheblichen Maße von allen Steuerzahlern mitfinanziert .

  12. 66.

    Ihnen ist aber schon klar, dass ich als ÖPNV-Nutzer auch die Autofahrer mit finanziere, oder? Oder dass kinderlose Steuerzahler die Kinder anderer mit finanzieren? Oder dass Arbeitende den Lebensunterhalt Nicht-Arbeitender mit finanzieren?

  13. 65.

    Aber Hoppla! Steuerzahler, die nicht Auto fahren, finanzieren doch Umweltschäden, Behandlung von Krankheiten durch Feinstaub und den Ausbau von Straßen auch mit. Oder denken Sie, dafür reichen die KFZ-Steuern aus?
    Ich fahre selbst Auto und das auch sehr gern, aber man muss doch mal ein bisschen realistisch bleiben. Für ein günstiges BVG-Ticket lass ich das Auto auch mal stehen, wenn ich in die City fahre. Das kann mir doch keiner erzählen, dass der Stau auf der Stadtautobahn sowie in einigen stark frequenzierten Straßen und die Parkplatzsuche noch Spaß machen. Bei den normalen BVG-Preisen rechnet es sich aber schlichtweg nicht, das Auto nicht zu nutzen, für das ja auch Kosten entstehen, wenn es steht.

  14. 64.

    Die Reihenfolge ist m.E. das Problem.
    Erst Ausbau, Pünktlichkeit, Sauberkeit mit evtl. 69-Euro-Ticket und zwar zügig.
    Dann 365-Euro-Ticket.
    Welcher eingefleischter Autofahrer denkt über den Preis um, wenn die Bahn nicht kommt bzw. gar keine Haltestelle vorhanden ist?

  15. 63.

    Na dann bin ich nächste Woche mal mutig, mit der Bahn - und Sitzplatz - zur Ostsee zu kommen. ;-)

  16. 62.

    Ihre Beobachtung und Analyse trifft den Nagel voll auf den Kopf ! Ebenso die Anregung von *39 Detlef. Sämtliche Maßnahmen zeugen doch von der Hilf-, Ideen- und Planlosigkeit dieser Regierung. Das kann und wird auch nicht gut enden. Da hilft auch das Pfeifen im Walde nichts mehr.

  17. 61.

    Warum soll ich als Steuerzahler den Kauf dieser Tickets mitfinanzieren.
    Die Einführung des 9-Euro-Tickets war sowas von unüberlegt und nicht zuende gedacht, dass auch Bahnkunden mit regulär gekauften Fahrkarten dadurch verprellt werden.

  18. 60.

    Weder das 69 Euro-Ticket noch das 365 Euro-Ticket sollte für ein bundesweit geltendes Ticket eingeführt werden.
    Denn all diese billigen Tickets sind vom Steuerzahler finanziert und das kann einfach nicht sein, dass ein Staat auf Kosten anderer Geschenke macht, die einige Steuerzahler überhaupt nicht nutzen können evtl. aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie von den Bahnen zu weit entfernt wohnen und deshalb weiterhin das Auto nutzen müssen. Diese Menschen finanzieren diese Tickets also mit.

  19. 59.

    "Also ich bin Pendler (100 min jeden Tag) " dann haben Sie, wie ich auch, drei Monate satten Gewinn gemacht: 9 Euro bezahlt abzüglich Entfernungspauschale... und ich finde auch die "normalen" Abo-Preise durchaus ok. Ich möchte auch zukünftig in intakten, leidlich sauberen "Öffis" fahren und dafür muss eben bezahlt werden.

  20. 58.

    Volle Zustimmung, die Abo-Preise sind moderat und -was ja überhaupt nicht erwähnt wird: die Entfernungspauschale in der Steuererklärung reduziert das ganze ja zusätzlich. Es gibt in Berlin eigentlich für jede Einkommenssituation einen Tarif und für bundesweite Reisen bietet die Bahn Sparpreise an, da muss man nur frühzeitig planen und buchen.
    Ich freu mich ebenfalls über drei Monate Ersparnis und diese "ich - komme - ohne - Auto - nicht ....- Fraktion wird - schon durch ihre Grundeinstellung sowieso nicht umsteigen.

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