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Quelle: picture alliance/T.Koehle

Kita-Krise und Fachkräftemangel

Wie Arbeitgeber sich zunehmend um Mitarbeiter-Kinder kümmern

Zwar garantiert der Staat Kinderbetreuung auf dem Papier, doch weil das nicht zuverlässig funktioniert, springen Unternehmen ein. Täten sie es nicht, würde der Fachkräftemangel die Wirtschaft noch weiter belasten. Von Julian von Bülow

"Ich habe Kolleginnen und Kollegen, die ganze Excel-Tabellen gewälzt haben, um überhaupt mal eine Kita zu finden und da einen Platz zu kriegen", sagt Karl Wever, Mitarbeiter bei 50Hertz, einem der großen Stromnetzbetreiber Deutschlands. Wever hat Kitaplätze für seine drei Kinder über seinen Arbeitgeber vermittelt bekommen. Damit hat er Glück, denn in Berlin fehlen laut einer Bertelsmann-Studie [laendermonitor.de] von 2023 derzeit 19.800 Kitaplätze, in Brandenburg sind es 6.700.

Einen Kitaplatz zu finden, der zum eigenen Arbeitsleben passt, ist nicht einfach. Findet man doch einen, ist die Zuverlässigkeit ein weiterer Knackpunkt: "In der Kita herrschte aufgrund von Corona Personalmangel, sodass sie nur eingeschränkt offen war und nur wenige Kinder kommen sollten", erzählt Carolin Niendorf, alleinerziehende PR-Beraterin. "Ich konnte mein Kind manchmal nicht hinbringen, weil es hieß: Sie arbeiten ja im Homeoffice, sie können das Kind zu Hause betreuen, nebenbei quasi."

Beschluss im Landtag

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Bisher müssen Eltern in zehn der 16 Bundesländer keine Beiträge für die Kita-Betreuung ihrer Kleinkinder bezahlen, nun gesellt sich auch Brandenburg dazu. Der Landtag hat am Mittwoch das Ende der Beiträge beschlossen. Bis dahin dauert es allerdings noch ein bisschen.

Eingeschränkte Öffnungszeiten deutschlandweit ein Problem

Zahlen zeigen, dass Niendorf damit nicht alleine ist. Eine Umfrage des Deutschen Jugendinstituts unter 5.000 Kita-Leitungen im Herbst 2022 ergab, dass die Hälfte von ihnen aufgrund des Personalmangels die Öffnungszeiten reduzieren musste. In Berlin kürzten 2022 sogar vier von fünf Kitas ihre Öffnungszeiten. In jenem Jahr kam es mehr als 200 Mal zu meldepflichtigen "massiven Personalunterschreitungen", wie es aus einer Kleinen Anfrage von Paul Fresdorf (FDP) hervorgeht.

"Da beißt sich dann die Katze in den Schwanz: Wir haben keine Betreuung, weil wir Fachkräftemangel haben und die Leute können nicht arbeiten, weil sie keine Betreuung haben und verstärken damit den Fachkräftemangel", sagt die Sozialwissenschaftlerin Bettina Kohlrausch im Interview mit rbb|24. 57 Prozent der Eltern mit Kita-Platz waren im Frühjahr 2023 mit verkürzten Betreuungszeiten und/oder zeitweiligen Schließungen der Kindertagesstätten aufgrund von Personalmangel konfrontiert. Knapp ein Drittel der Eltern hat deshalb Urlaub genommen oder Überstunden abgebaut. Das ist ein Ergebnis von Kohlrauschs repräsentativer Umfrage, die sie für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt hat.

Zweitägiger Warnstreik

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Viele Berliner Kinder mussten am Mittwoch auf Nikolausfeiern in ihren Kitas verzichten: Die Erzieher sind erneut zum Warnstreik aufgerufen, diesmal für zwei Tage. Auch Tausende Lehrer beteiligten sich am ersten Tag.

Die Politik hält ihr Versprechen nicht ein

"Wenn Eltern die Arbeitszeit reduzieren, sind die Gründe dafür nicht einmalige Vorkommnisse. Kein Mensch reduziert die Arbeitszeit, weil einmal die Kita geschlossen war, sondern weil man das Gefühl hat, das ganze System ist so unzuverlässig, dass ich jetzt etwas grundsätzlich ändern muss", sagt Kohlrausch.

Dabei gibt es den gesetzlichen Kita-Anspruch für Kinder ab einem Jahr bereits seit 2013, den für über Dreijährige seit 1996. Dennoch: "Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Situation, in der der Bedarf nicht über dem Angebot lag, und es ist nicht gelungen, das zu ändern", so Kohlrausch. Die Politik schafft es nicht, ihr Versprechen auf Kinderbetreuung einzuhalten. Dabei liegt hier ein großes Arbeitskräfte-Potenzial, insbesondere bei Frauen, das bisher nicht ausgeschöpft wird.

Großes Arbeitsmarktpotenzial bei Müttern

Denn laut Statistischem Bundesamt arbeiten 62 Prozent der in Teilzeit arbeitenden Mütter weniger, um sich um die Kinder zu kümmern. Bei den Vätern sind es nur 30 Prozent. Theoretisch könnten bis zu eine Million Mütter in Deutschland mehr arbeiten, wenn man die Bedingungen dafür schaffen würde.

Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos errechnete 2022: Es gibt etwa 840.000 Mütter, die bisher mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren eine Erwerbspause einlegen. Und rund 147.000 Mütter mit Kind unter sechs Jahren würden gerne mehr als Teilzeit arbeiten. Auch kleine Veränderungen könnten hier Großes bewirken: Wenn die 2,5 Millionen Mütter mit einem U18-Kind ihre bisherige Arbeitszeit von unter 28 Wochenstunden um eine erhöhen würden, entspräche das zusammengerechnet der Arbeit von 71.000 Erwerbstätigen mit 36-Stundenwoche, so Prognos.

"Kita-Chancenjahr"

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Schnelle Energiewende nur mit Kinderbetreuung

Auf diese zusätzliche Arbeitskraft würden Unternehmen wie der Netzbetreiber 50Hertz gerne bauen: "Damit etwa die Energiewende im geforderten Tempo stattfinden kann, brauchen wir definitiv Kinderbetreuung", sagt Sylvia Borcherding, Personalchefin bei 50Hertz in Berlin. "Wenn wir alle unsere Arbeitskräfte und deren Potenzial in Deutschland nutzen wollen für den allgegenwärtigen Arbeitskräftemangel, müssen wir uns stärker kümmern." Daher hat sich der Konzern um eine betriebsnahe Kita bemüht, in die Karl Wever seine drei Kinder bringt. Sie wird gerade um zehn Plätze erweitert.

Eine andere Möglichkeit ist, dass Unternehmen dafür zahlen, bei der Vergabe von Kitaplätzen priorisiert zu werden. Das macht das Fritz-Haber-Institut für chemisch-physikalische Grundlagenforschung in Berlin-Dahlem. Etwa für Hendrik Heenen und seine Frau, die jeweils Forschungsgruppen leiten. "Wir arbeiten beide in Vollzeit und gehen auch oft darüber hinaus, aus eigenem Antrieb. Das System legt es nahe und auch der persönliche Ehrgeiz", sagt der Vater. Ohne Kinderbetreuung würden sie den Job gar nicht schaffen.

Personalmangel

Mahnwachen in Prenzlau sollen auf Kita-Notstand aufmerksam machen

Gegen Personalmangel und krankheitsbedingen Ausfall sind auch Betriebs- und betriebsnahe Kitas nicht immun. Allerdings ermöglichen die Gelder aus den Unternehmenskooperationen unter anderem, zusätzliches Personal einzustellen. So können Krankheitswellen besser abgepuffert werden. Karl Wever von 50Hertz freut sich etwa, dass der Betreuungsschlüssel in seiner betriebsnahen Kita recht gut, die Kita daher zuverlässig sei.

Klar ist aber auch: Für all diese Optionen braucht es Erzieher und Erzieherinnen - um die jetzt schon alle Einrichtungen ringen. Eine Bertelsmann-Studie von 2023 hat ergeben, dass in Berlin 6.600 zusätzliche Erzieher:innen benötigt werden, um den Kitaplatz-Bedarf zu decken und die Kinder adäquat zu versorgen, in Brandenburg sind es 3.800.

Dort wo sich also aufgrund des Mangels keine Kita einrichten oder keine Kooperation zu einer Kita aufbauen lässt, gehen einige Unternehmen in Berlin und Brandenburg einen anderen Weg. Sie unterstützen ihre Angestellten bei der Suche und Finanzierung von Babysitter:innen. Recht neu ist etwa das Startup HeyNanny, das Unternehmen eine digitale Plattform und Beratung anbietet. Dort können dann die Mitarbeitenden aus den Profilen verschiedener "Nannies" auswählen und Kinderbetreuung zum gewünschten Termin buchen. Große Unternehmen wie Johnson & Johnson, Boehringer-Ingelheim und die Allianz-Versicherung nutzten die Plattform bereits, erklärt HeyNanny gegenüber rbb|24. Manche Unternehmen zahlten auch ein Kontingent für Kinderbetreuungsstunden oder fördern diese zumindest finanziell.

Der Staat soll investieren

Unternehmen setzen bereits auf solche Optionen oder bemühen sich um mehr Vereinbarkeit von Arbeit und Familie: So unterstützt fast jedes vierte deutsche Unternehmen seine Mitarbeitenden bei der Kinderbetreuung, etwa finanziell oder durch Tagesmütterservice. 2015 waren es nur 15 Prozent, zeigt der Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit des Bundesfamilienministeriums.

Dass der Staat mehr in die Kinderbetreuung investieren muss, das fordern am Ende alle - die Eltern, die Personalerinnen, die Wissenschaftlerin und auch Julia Kahle, die Gründerin von HeyNanny, die ihr Geschäft ja eigentlich auf der Schwäche des staatlichen Kinderbetreuungssystems aufbaut. Der Markt sei aber groß genug, denn die meisten Kitas deckten gerade die Randzeiten nicht ab. Kahle glaubt: "Ich werde leider nicht mehr erleben, dass wir dahin kommen."

Beitrag von Julian von Bülow

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