Sonderausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg - Ja, ich bin ein Teufelsmaler

Fr 19.08.22 | 06:14 Uhr | Von Michaela Gericke
'The Disasters of War. (Foto: Heritage Art/Heritage Images)
Audio: radioeins | 19.08.2022 | Anja Penner | Bild: Heritage Art/Heritage Images

Goya gilt mit seinen Grafiken nicht nur als Wegbereiter der Moderne, sondern auch als Proto-Fotograf des Kriegsjournalismus. Ihm gewidmet ist eine aktuelle Sonderausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Von Michaela Gericke

Der Maler und Grafiker Francisco de Goya (1746 – 1828) gilt als Vorreiter der Moderne, als Proto-Fotograf für den Kriegsjournalismus. Eine Atmosphäre von Bedrohung, Versehrtheit und Tod kennzeichnet viele seiner Grafiken und Gemälde. Das zeigt jetzt auch eine kleine Sonderausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin-Charlottenburg, die für die Meister der surrealen Welten bekannt ist.

Yo lo vi – ich sah es

"Yo lo vi – ich sah es": Auf der Radierung mit diesem Titel fliehen Menschen. Im Vordergrund trägt eine Mutter ein kleines Kind auf der linken Schulter und packt ein etwas älteres am Arm, um es mitzuziehen. In unmittelbarer Nähe versucht ein Mann einen anderen vom Geschehen wegzuzerren. Weiter hinten hat Francisco de Goya ungezählte Menschen gezeichnet, es bleibt ungewiss, ob es die Angreifenden sind oder ebenfalls Fliehende. Goya lässt die dramatische Szene offen für die Imagination der Betrachtenden: Er gilt als Zeitzeuge der napoleonischen Kriege in Spanien.

Die Kuratorin Kyllikki Zacharias hat den Titel der Grafik auch für die Ausstellung übernommen: "Yo lo vi – ich sah es - bedeutet einerseits die Darstellung des Faktischen, das, was er gesehen hat, das ist passiert; andererseits ist es natürlich auch ein visionäres Sehen, ein Sehen des Künstlers, der auch mit technischen Mitteln schafft, das Gesehene so zu verdichten, dass die Wirkung noch gesteigert wird."

Goya experimentierte beispielsweise mit Sand, um unterschiedliche Schattierungen zu schaffen, er nutzte verschiedene Papierarten und wandte sich auch dem Steindruck zu, also der Lithografie. "Yo lo vi" gehört zu seinem Zyklus "Desastres de la guerra". Auf Deutsch: "Schrecken des Krieges". Er umfasst 82 Radierungen, die Goya zwischen 1810 und 1820 zeichnete. Der Künstler starb 1828, ohne sie je veröffentlicht zu haben.

Eine Erstausgabe von 1863 liegt jetzt aufgeklappt in einer Vitrine. Neben drei weiteren Original-Ausgaben seiner bekannten Zyklen: Los Caprichos (die Launen), Stierkampfszenen und Torheiten. An den Wänden drum herum im leicht abgedunkelten Raum hängen knapp 50 Originalgrafiken aus diesen Zyklen, allerdings keine aus den "Schrecken des Krieges". "Weil alle vier Zyklen nur in gebundener Form vorliegen", erklärt Kyllikki Zacharias, Kuratorin und Leiterin der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Deshalb hat sie eine andere Präsentationsform gewählt. Die jeweils 80 Bilder sind vielfach vergrößert als Projektionen zu sehen.

"Die Schrecken des Krieges" erzählen von Folter, Vergewaltigung, Verstümmelungen. Kunst liebende Menschen, die diese Ausstellung wegen der Originalwerke besuchen, überzeugt die vielfache Vergrößerung kaum; denn der feine Strich, die subtil anmutende, atmosphärische Gestaltung von Fläche und Raum gehen in diesen Projektionen verloren.

Vom Hofmaler zum gesellschaftskritischen freien Künstler

Goya gilt mit seinen Grafiken nicht nur als Wegbereiter der Moderne, sondern auch als Proto-Fotograf des Kriegsjournalismus. Und doch sind es niemals allein dokumentarische Motive, sondern die Bilder eines Künstlers, der vor allem die Abgründe des Menschen an sich darstellen wollte.

Kyllikki Zacharias weist darauf hin, dass Goyas Landschaften an Urzeitlandschaften erinnern: "Es sind Landschaften im Nichts, manchmal gibt es vorne noch so etwas wie Bäume, aber ansonsten sind es alles Landschaften, in denen gar nichts passiert. Menschen verheddern sich oftmals zu pyramidalen Knäueln."

Auch der Kunsthistoriker Geoff Lehman ist fasziniert von der düsteren Atmosphäre, die Francisco de Goya in seinen Grafiken geschaffen hat: "Manchmal sieht man Menschen am Boden wie den Teil einer Landschaft; menschliche Körper verlieren ihre eigentliche Form und manchmal verschmelzen sie ineinander, das ist metaphorisch. Körper sind verstümmelt vom Krieg. Aber es ist eben auch die Gewalt, die vom Menschen ausgeht."

Geoff Lehman lehrt an der privaten Kunstschule Bard College in Berlin und hatte – zusammen mit seinen Studierenden – die Idee für die Kooperation mit der Sammlung Scharf-Gerstenberg, da sich die Studierenden gerade mit Goya beschäftigt hatten und fasziniert sind von dessen Aktualität.

"Ich fürchte nichts und niemanden außer den Menschen"

Goya, der aus einfachen Verhältnissen stammte, entwickelte seinen Stil und sich selbst vom Hofmaler zum freien, gesellschaftskritischen Künstler. Auch in den scheinbar harmlosen Szenen, die vor den "Desastres de la Guerra"entstanden, nämlich Ende des 18. Jahrhunderts, ist die Atmosphäre oft bedrohlich und unheimlich, die dunklen Facetten des Menschseins sind auch hier zu finden. Goya zeichnet dafür auch dämonische und monsterähnliche Wesen. Geoff Lehman interpretiert diese Bilder so: "Sie sind nicht brutal, sie sind gefährlich oder beängstigend in einer anderen Weise. Es ist Phantasie. Es ist vielleicht harmlos, aber sie wecken die Imagination. Aber man kann sie auch anders lesen. Durch diese phantastischen Bilder kommen wir zu dem Geheimnis von Dingen: wir glauben, wir verstehen die Welt, aber wir verstehen sie nicht."

"Ich fürchte nichts und niemanden außer den Menschen“– schrieb Goya noch im Exil in Bordeaux, wo er 1828 starb. Die kleine Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg bestätigt dieses Statement einmal mehr.

Sendung: radioeins, 19.08.2022, 13:50 Uhr

Beitrag von Michaela Gericke

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