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Video: Jetzt mal konkret | 17.07.2022 | Franziska Martin | Quelle: Alexander Roth

Kurzzeitpflege für Kinder

"Ich hatte seit acht Jahren meinen Geburtstag nicht mehr gefeiert"

Eltern pflegebedürftiger Kinder arbeiten oft rund um die Uhr - im Job und zu Hause. Einrichtungen zur Kurzzeitpflege sollen entlasten. In Berlin fehlen jedoch geeignete Plätze. Eine Mutter will die Dinge nun selbst in die Hand nehmen. Von Franziska Martin

"Oft ist man einfach machtlos", seufzt Ieva Berzina-Hersel. Die 43-Jährige aus Berlin-Kreuzberg pflegt ihren Sohn Lorenz seit seiner Geburt. Wie viele pflegebedürftige Kinder hat Lorenz mehrere Behinderungen: Der Elfjährige ist mit einer Gehirnfehlbildung zur Welt gekommen, hat Epilepsie und ist auf beiden Ohren taub.

Lorenz hat den Pflegegrad 5 zugesprochen bekommen - den höchsten, den es gibt. Das heißt in seinem Fall, dass er auf komplette Unterstützung im Alltag angewiesen ist. Das bestimmt auch Ievas Berzina-Hersels Leben: "Ich bin mittlerweile nicht nur Mutter, sondern auch eine Physiotherapeutin, eine Logopädin, eine Ergotherapeutin, eine Lehrerin und eine Erzieherin." Sie sieht erschöpft aus, wenn sie über ihren Alltag spricht. Denn die Pflege bedeutet nicht nur eine körperliche und finanzielle Mehrbelastung, sondern auch eine emotionale.

Keine kindgerechten Kurzzeitpflegeplätze in Berlin

So wie Berzina-Hersel geht es vielen Eltern der knapp 6.000 pflegebedürftigen Kinder in Berlin. Laut Pflegereport 2021 werden pflegebedürftige Kinder in Deutschland fast ausschließlich zu Hause versorgt. Eine mögliche Entlastung für Eltern soll eigentlich die sogenannte Kurzzeitpflege bieten: In Einrichtungen werden Menschen, die mindestens den Pflegegrad 2 anerkannt bekommen haben, für mehrere Wochen oder Tage betreut - ein wichtiges Entlastungsangebot für pflegende Eltern. Vor allem, wenn sie selbst einmal krank sind oder eine Pause benötigen.

Laut Gesetz haben Pflegebedürftige für bis zu acht Wochen im Jahr einen Anspruch auf Kurzzeitpflege. Auch Lorenz, der Sohn von Ieva Berzina-Hersel, hätte darauf ein Anrecht. Nur: Das Anrecht allein nützt ihr nichts. Sie findet in Berlin seit Jahren keinen Pflegeplatz.

Ieva Berzina-Hersel pflegt ihren Sohn Lorenz seit seiner Geburt - ein "Fulltime-Job" | Quelle: Alexander Roth

Pflege bis zum Burnout

"Da besteht ein großer Handlungsbedarf, weil es derzeit unserem Wissen nach gar keine expliziten Kurzzeitpflegeplätze für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Berlin gibt", beklagt Benita Eisenhardt vom Kindernetzwerk e.V. Der Verband setzt sich für die Belange von Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern ein.

Wenn Eisenhardt von "expliziten" Pflegeplätzen spricht, meint sie vor allem kindgerechte Kurzzeitpflegeplätze. Denn pflegebedürftige Kinder müssen nicht nur gewaschen, gefüttert und angezogen werden. Sie benötigen auch jemanden, der sie betreut, mit ihnen spielt und sie fördert. Auch deshalb sind zum Beispiel Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen oft keine Alternative für pflegebedürftige Kinder und ihre Eltern. "Viele der Eltern gucken dann, dass sie die Betreuung selbst bewerkstelligen, auch über ihre eigenen Kräfte hinaus. Das kann dann mitunter bis zum Burnout gehen", so Eisenhardt.

Pflegenden Eltern in Berlin bleiben zwar noch die Kinderhospize als Anlaufstelle für eine Kurzzeitpflege. Diese nehmen allerdings nur Kinder mit einer sogenannten "lebensverkürzenden Diagnose" auf - und diese haben längst nicht alle pflegebedürftigen Kinder. Auch für Lorenz ist das Kinderhospiz keine Alternative.

Erfolglose Suche nach Kurzzeitpflegeplätzen

Ieva Berzina-Hersel machte sich 2018 das erste Mal auf die Suche nach einem Kurzzeitpflegeplatz für Lorenz in Berlin. Nach acht Jahren Pflege wollte sie etwas tun, was für andere selbstverständlich ist: ihren Geburtstag zu feiern. "Mein Sohn war damals acht Jahre alt und ich selbst hatte seit acht Jahren meinen Geburtstag nicht mehr gefeiert."

Die 43-Jährige suchte im Internet, sprach mit anderen betroffenen Eltern und fand: nichts. "Ich habe gedacht, ich suche falsch", erinnert sich die zweifache Mutter. Ieva Berzina-Hersel weitete ihre Suche aus, suchte in anderen Bundesländern nach Angeboten und fand unter anderem jeweils einen Platz in Hamburg und Baden-Württemberg - über 600 Kilometer von zu Hause entfernt.

Unterversorgung seit Jahren bekannt

Die Fehlversorgung in Berlin ist schon seit Jahren bekannt. Bereits 2015 wies die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf das Fehlen geeigneter Plätze. In einem Maßnahmenplan für pflegende Angehörige hieß es, dass "ausreichende Entlastungsangebote (vergleichbar mit Kurzzeitpflegeangeboten für Erwachsene)" nicht dem Bedarf entsprechend angeboten werden.

Im Berliner Landespflegeplan von 2016 [berlin.de] hieß es ein Jahr später zudem, dass es "keinen berlinspezifischen Richtwert für den Grundbedarf an Kurzzeitpflegplätzen" gäbe. Wie hoch genau der Bedarf an Pflegeplätzen für Kinder also tatsächlich zum damaligen war, bleibt im Pflegereport unbeantwortet. Es ist ein Feld voll vieler Vermutungen und mit wenigen Gewissheiten.

"Wir gehen von einer Handvoll Einrichtungen aus, die in den letzten Jahren nach und nach zugemacht haben", so Silke Groth von der Fachstelle Menschenkind. Die senatsgeförderte Fachstelle unterstützt pflegebedürftige Kinder und ihre Familien bei der Vernetzung mit der Politik. "Ende letzten Jahres hat dann auch die letzte Kurzzeitpflege-Einrichtung ihr Angebot für Kinder geschlossen."

Auf der Seite des Kinderversorgungsnetzwerks Berlin sind zwar Kontaktdaten von Anbietern für eine Kurzzeitpflege für Kinder angegeben. Im Juni boten allerdings auch die dort angegebenen kontaktierten Ansprechpartner in Berlin momentan keine Kurzzeitpflegeplätze für Kinder an.

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Kindgerechtes Rahmenkonzept fehlt in Berlin

Ein wesentliches Problem, warum die Leerstellen in der Pflege nicht gefüllt werden: Verantwortlich für die pflegerische Versorgung von Kindern sind verschiedene Instanzen. Das Gesetz spricht hier von einer "gesamtgesellschaftlichen Aufgabe": Länder, Kommunen, die Pflegeeinrichtungen sowie die Pflegekassen sollen mit dem medizinischen Dienst gemeinsam die Versorgung sicherstellen.

Darüber hinaus sind die Rechte pflegebedürftiger Kinder in mehr als fünf unterschiedlichen Gesetzbüchern geregelt - etwa im elften Sozialgesetzbuch, das die Pflegeversicherung regelt, oder im achten Sozialgesetzbuch, in dem die gesetzlichen Vorschriften zur Kinder- und Jugendhilfe zu finden sind.

Für eine kindgerechte Kurzzeitpflege in Berlin heißt das: "Die Senatsjugendverwaltung müsste ebenso involviert werden wie die Senatsgesundheitsverwaltung. Und bisher ist es daran noch gescheitert", sagt Benita Eisenhardt vom Verein Kindernetzwerk. Ein kindgerechtes Rahmenkonzept für eine Kurzzeitpflege gäbe es in der Stadt nämlich bisher noch nicht. Dieses wäre allerdings laut Eisenhardt wichtig, um einen unbürokratischeren und schnelleren Aufbau für Einrichtungen zu ermöglichen, die Kurzzeitpflegeplätze für Kinder anbieten wollen. So soll auch die Qualität der Leistung gesichert werden.

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"Man kann sich das vorstellen, wie die Basisanleitung einer solchen Einrichtung", so Eisenhardt. "Darin können dann Sachen stehen, wie beispielsweise, dass Kinder pädagogisch betreut werden sollen oder wie die medizinische Versorgung umgesetzt werden soll." Mit einem solchen Rahmenkonzept könne auch die Finanzierung von einem kindgerechten Konzept erleichtert werden. Denn: "Sobald nur die Pflege finanziert wird, kann der Träger momentan kein zusätzliches pädagogisches Personal finanzieren, um ein kindgerechtes Angebot zu schaffen", sagt sie.

Wesentliches Problem bleibt Finanzierung

Auf rbb-Anfrage erklärt die Senatsverwaltung, dass die Situation um die Kurzzeitpflegeplätze in Berlin bekannt sei, verweist aber auch darauf, dass es sich hierbei um ein bundesweites Problem handele. Außerdem sei "die Schaffung von Pflegeeinrichtungen Aufgabe gemeinnütziger und privater Träger" und unterliege den Regeln des "Marktwettbewerbs", so die Pressestelle der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Die zuständigen Senatsverwaltungen würden bereits eng in der Kurzzeitpflege für Kinder zusammenarbeiten.

Allerdings: Auch ein Rahmenkonzept würde laut Senat nicht alle finanziellen Probleme von Kurzzeitpflegeeinrichtungen lösen. Der Betrieb von Kurzzeitpflegeeinrichtungen gilt als wirtschaftlich schwierig, weil die Belegung der Betten stark schwanken könne. Bei Kindern seien beispielsweise primär die Wochenenden und Ferienzeiten stark nachgefragt, sagt Silke Groth von der Fachstelle Menschenkind.

Pflegende Mutter will jetzt selbst Kurzzeitpflegeplätze schaffen

Ieva Berzina-Hersel will die Angelegenheit jetzt selbst in die Hand nehmen: "Ich konnte es einfach nicht akzeptieren, dass es so etwas wie eine funktionierende Kurzzeitpflege für Kinder in Berlin nicht gibt." Sie möchte nun selbst Kurzzeitpflegeplätze für Familien in Berlin schaffen. 2019 gründete die studierte Volkswirtin zusammen mit ihrer Freundin Annika Eysel den Verein "Eine Pause". Ihr Projekt: das Eine-Pause-Haus. Dort sollen pflegende Familien eine Auszeit erfahren.

Momentan ist Berzina-Hersel im Gespräch mit verschiedenen Senatsverwaltungen und auf der Suche nach einem passenden Haus. Sie hofft, dass sie bald verlässliche Kurzzeitpflegeplätze schaffen kann. Für ihren Sohn Lorenz, aber auch für andere pflegende Eltern. Denn sie hat gemerkt, Pausen sind für sie als pflegende Mutter unverzichtbar. "Wenn solche Momente öfter da wären, dann hätte ich viel mehr Spaß und viel mehr Kraft den Alltag zu bewältigen", sagt sie. Ihr Beispiel könnte wegweisend sein. Laut Berliner Koalitionsvertrag möchte der Senat zumindest bis Ende 2022 einen Plan vorlegen, wie die Kurzzeitpflege in Berlin dauerhaft ausgebaut werden kann.

Sendung: "Pflegende Mutter: allein gelassen von der Politik!?", Episode der rbb|24-YouTube-Reihe "Jetzt mal konkret", online seit 06.07.2022

Beitrag von Franziska Martin

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