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Quelle: dpa/Marijan Murat

Überlastete Sozialämter

Warum Berliner Pflegedienste beim Tod der Patienten auf den Kosten sitzen bleiben

Wer sich die Kosten für die Pflege nicht leisten kann, hat Anspruch auf Hilfe vom Sozialamt. Doch die Bewilligung dauert mitunter Monate. Versterben die Patienten vorher, zahlen die Pflegedienste drauf. Von Ute Barthel

Die letzten Tage vor ihrem Tod brauchte Brigitte K. Pflege rund um die Uhr. Sie konnte ohne Hilfe weder essen noch trinken oder gar zur Toilette gehen. Alle zwei Stunden musste sie im Bett umgelagert werden, damit sie keine Druckgeschwüre bekam. Beinahe im Minutentakt habe sie gerufen, weil sie etwas brauchte, erinnert sich Elke Roll im Gespräch mit rbb24 Recherche. Sie ist die Leiterin der Pflege-Wohngemeinschaft in Berlin-Wittenau, in der Brigitte K. im letzten Jahr ihres Lebens untergebracht war. "Zum Schluss wollte sie auch nicht mehr allein sein. Da haben wir uns dann auch die Zeit genommen und haben sie begleitet. Es war sehr intensiv."

Im September 2022 zieht Brigitte K. in die Pflege-Wohngemeinschaft. Doch die Pflegekasse übernimmt nur einen Teil ihrer Kosten, 3.500 Euro muss sie selbst aufbringen. Weil Brigitte K. das nicht kann, wird gleich nach ihrem Einzug ein Antrag für die "Hilfe zur Pflege" beim Sozialamt gestellt.

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Sozialamt schließt im Todesfall die Akte

Anfang September 2023 ist Brigitte K. gestorben. Bis zu ihrem Tod hat das Sozialamt nicht über die Bewilligung des Pflegegeldes entschieden. Nun befürchtet Jan Basche, Geschäftsführer des ambulanten Pflegedienstes "Sozialstation Mobil", der die 75-Jährige betreut hat, dass er auf den Kosten von ca. 40.000 Euro sitzen bleibt. Es bestreitet niemand , dass die Pfleger:innen Brigitte K. über Monate versorgt haben. Doch ob das Sozialamt noch zahlt, ist unsicher.

"Das ist wahnsinnig ärgerlich, weil wir kein großer Konzern sind und das Geld natürlich brauchen. Ende des Monats müssen wir ja auch die Gehälter bezahlen", sagt Jan Basche im rbb-Interview. Der Grund für die Unsicherheit sei die aktuelle Rechtslage, so der Geschäftsführer, der zugleich stellvertretender Vorsitzender des Berliner Landesverbands der privaten Anbieter sozialer Dienste (bpa) ist.

"In dem Moment, in dem die Antragstellerin stirbt, ist es so, dass sich die Akte für das Sozialamt wie von Geisterhand schließt", so Basche. "Und dann gibt es keine Ansprüche des Leistungserbringers mehr." Helfen die ambulanten Dienste, bevor die Ämter das Pflegegeld bewilligt haben, tragen sie das Risiko, wenn die Patientin vorher verstirbt. Die Alternative wäre, dass sie die Pflege der Patientin abgelehnt hätten. Dann hätte Brigitte in den letzten zwölf Monaten nicht die notwendige Hilfe bekommen.

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Stadtrat für Soziales: "Mitarbeiter sind am Limit"

Der Pflegefall Brigitte K. ist kein Einzelfall. Sechs Monate wartete zum Beispiel die Häusliche Pflege GmbH in Neukölln auf den Bescheid für einen 81-jährigen Herrn. Kurz nachdem ein Gutachter den Hilfebedarf festgestellt hatte, verstarb der Mann. "Damit fiel den Sachbearbeitern im Bezirksamt der Stift aus der Hand und sie verwiesen darauf, dass eine Bewilligung nach dem Tod nicht ausgestellt werden könne", berichtet Geschäftsführerin Doreen Friedrich.

Der Stadtrat für Soziales von Neukölln, Hannes Rehfeldt (CDU), bestätigt diese Praxis. Die Ämter hätten in solchen Fällen auch gar keine andere Wahl: "Wenn der Leistungsgrund entfallen ist, weil eben niemand mehr zu pflegen ist, weil der Mensch verstorben ist, dann gibt es da kein Ermessen zu sagen: Na, jetzt zahlen wir doch noch."

Rehfeldt räumt ein, dass die Bearbeitungszeiten für die Anträge sehr lange sind, es fehle an Personal. "Wenn mir gestandene Sachbearbeiter gegenübersitzen, mit Tränen in den Augen, und sagen, sie können nicht mehr, sagt das eigentlich alles über die Lage der Ämter für Soziales in Berlin aus", berichtet er. Wenn bei Pflegebedürftigen absehbar sei, dass sie nicht mehr lange leben werden, würden zwar Eilverfahren durchgeführt, aber das löse nicht das grundsätzliche Problem.

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Regelungslücke im Sozialgesetzbuch

Die Pflegeverbände machen die Politiker in Bund und Land schon seit mehreren Jahren auf die Regelungslücke im Gesetz aufmerksam. Denn laut Paragraf 19 im Sozialgesetzbuch XII gehen die Ansprüche für das Pflegegeld nach dem Tod der Antragsteller nur auf sogenannte "Einrichtungen" über. Das sind einem Urteil des Bundessozialgerichts zufolge aber nur stationäre Pflegeheime. Ambulante Pflegedienste zählen nicht dazu und gehen deshalb leer aus.

Trotzdem sieht das zuständige Bundessozialministerium keinen Reformbedarf. Auf Anfrage des rbb heißt es: "Anders als Einrichtungen der (teil-)stationären Pflege erhalten ambulante Pflegedienste vor der Leistungsgewährung in der Regel eine Zusage zur Kostenübernahme durch den Träger der Sozialhilfe, sodass ein geringeres Kostenrisiko vorliegt."

Mit der Pflege-Wirklichkeit hat diese Aussage nur wenig zu tun, meint Jan Basche. Er könne sich das nur so erklären, "dass die Menschen, die dort die Entscheidungen treffen, in einer Blase leben und die Realität total ausblenden", sagt er. Viele Pflegebedürftige würden Monate ohne jede Unterstützung bleiben, wenn sich die ambulanten Dienste so verhalten würden, wie es das Bundesministerium annimmt.

Verband fordert Berliner Bundesratsinitiative

Vom Berliner Senat fordert der Verband bpa nun eine Bundesratsinitiative zur Gesetzesänderung- und eine schnelle und pragmatische Lösung auf Landesebene. "Der wichtigste Schritt vor allen anderen ist, dass es im Land Berlin ein Moratorium gibt, dass die Leistungen auch dann finanziert werden, wenn der Antragsteller verstorben ist, bevor es den Bescheid gegeben hat", fordert Basche.

Grundsätzlich sei dies denkbar, erklärt Donald Ilte, der zuständige Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für Pflege. "Wenn die Dimension so groß ist, dass das tatsächlich existenzielle Probleme sind, dann wäre die Möglichkeit, dass man als Land oder als Kommune sozusagen diese Leistung explizit übernimmt", sagt er im rbb-Interview. Allerdings bräuchte es dafür eine Rechtsgrundlage und dafür sei das Abgeordnetenhaus zuständig.

Eine solche Lösung gibt es in der Stadt Bremerhaven schon seit Jahren: Dort erhalten die ambulanten Pflegedienste ihr Geld für die geleistete Arbeit unabhängig davon, ob das Sozialamt den Antrag noch zu Lebzeiten des Betroffenen bearbeitet hat oder nicht.

Sendung: rbb|24 Recherche, 26.10.2023, 13 Uhr

Beitrag von Ute Barthel, rbb24 Recherche

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