rbb24
  1. rbb|24
  2. Wirtschaft
Audio: rbb24 Inforadio | 24.05.2022 | Ann Kristin Schenten | Quelle: DPA/Heiko Rebsch

Sonderstatus für ukrainische Flüchtlinge

Gleiches Asylrecht für alle gefordert

Geflüchtete aus der Ukraine können auch ohne Asylantrag in Deutschland arbeiten. Das sollte auch für Menschen aus anderen Ländern gelten, fordern immer mehr soziale Einrichtungen. Doch kann die neue Regelung einfach übertragen werden? Von Ann Kristin Schenten

Exakt drei Monate sind vergangen, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. Schon in den ersten Stunden des Krieges zeigte das ukrainische Fernsehen kilometerlange Autoschlangen auf den Straßen der Hauptstadt Kiew. Die Menschen wollten raus aus der Stadt, viele von ihnen direkt raus aus der Ukraine. In den letzten 90 Tagen sind über 600.000 Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland geflohen, die meisten über Berlin.

Am Berliner Hauptbahnhof wurden sie in den ersten Wochen des Krieges von Hunderten Freiwilligen empfangen. Sie bekamen Lebensmittel, Handykarten und Kleidung. Im Internet konnten Geflüchtete unbürokratisch eine Unterkunft für die ersten Nächte oder sogar Monate finden. Viele Berlinerinnen und Berliner stellten ihre Zimmer oder ganze Wohnungen zur Verfügung. Die deutsche und auch die europäische Asylpolitik wurde damit auf den Kopf gestellt.

Asylantrag nicht notwendig, lediglich Registrierung

Das führte dazu, dass nicht mal eine Woche nach dem russischen Angriff die EU-Massenzustrom-Richtlinie aktiviert wurde. Die besteht zwar schon seit den Balkan-Kriegen, kam aber noch nie zum Einsatz. Sie soll verhindern, dass das europäische Asylsystem überlastet wird. Seit Anfang März können sich Ukrainerinnen und Ukrainer nun selbst aussuchen, in welchem EU-Land sie leben möchten. Sie können sofort in eine eigene Wohnung ziehen oder bei Bekannten unterkommen und gleichzeitig anfangen zu arbeiten. Die wichtigste Neuerung: Sie müssen keinen Asylantrag stellen, sondern sich lediglich registrieren. Damit haben sie Anrecht auf Grundsicherung und können bis zu drei Jahre bleiben.

Die EU-Richtlinie gilt allerdings nur für Menschen mit der ukrainischen Staatsbürgerschaft. Bei Menschen aus Drittstaaten, die ebenfalls aus der Ukraine flüchten mussten, wird das Asylverfahren neu aufgerollt. Auch auf ausländische Studierende trifft die Massenzustrom-Regelung nicht zu. Pro Asyl und die Landesflüchtlingsräte fordern daher ein zweijähriges Aufenthaltsrecht für alle Menschen, die aus der Ukraine flüchten müssen. Trotzdem ist die vereinfachte Migrationspolitik ein Novum.

Andere Geflüchtete warten oft Jahre auf ihr Bleiberecht

Als 2015 viele Geflüchtete aus Syrien in Europa Schutz suchten, entschied man sich dagegen, die Massenzustrom-Richtline zu aktivieren. Für Geflüchtete aus anderen Ländern als der Ukraine, etwa aus Afghanistan, Syrien oder afrikanischen Staaten, gilt immer noch, dass sie bei Ankunft in Deutschland sofort einen Asylantrag stellen müssen. Sie sind verpflichtet, mindestens drei Monate in einer sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung zu bleiben. In dieser Zeit dürfen sie nicht arbeiten oder eine Ausbildung anfangen. Ein Recht auf Grundsicherung haben sie nicht, die Unterstützung durch das Asylbewerberleistungsgesetz deckt meist nur die Minimalversorgung.

Je nach Situation müssen die Asylsuchenden deutlich länger als drei Monate in den Erstaufnahmeunterkünften bleiben, berichtet der Neuköllner Fachanwalt für Migrationsrecht Udo Grönheit. Er vertritt seit Jahrzehnten Menschen in Asylverfahren und kritisiert die aktuelle Vorgehensweise: "Unsere Migrationspolitik ist in einem großen Bereich davon bestimmt, Menschen abzuwehren und nicht davon, sie einzuladen zu kommen. Dabei wäre Deutschland wahrscheinlich ohne die vielen Flüchtlinge, die wir in den letzten Jahrzehnten hier hatten, nur noch bei 17 Millionen Einwohnern und nicht bei den 82 Millionen, die den Laden hier am Laufen halten." Die neuen Regeln für ukrainische Geflüchtete betrachte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge, so Grönheit.

Interview | Ukraine-Experte Alexander Wöll

"Es geht um das Überleben der Demokratie weltweit"

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine geht mittlerweile drei Monate. Im Interview mit rbb|24 spricht der Ukraine-Experte Wöll über die aktuelle Situation, Solidarität und mögliche künftige Entwicklung.

"Wir sehen jetzt, was möglich ist"

Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin bei Pro Asyl, sagt ebenfalls, dass sich die Situation von allen Geflüchteten verbessern muss: "Wir sehen jetzt, was bei den ukrainischen Flüchtlingen möglich ist: Direkter Zugang zum Arbeitsmarkt, keine Verpflichtung in großen, abgelegenen Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen und der Wechsel aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in die reguläre Sozialhilfe." Wäre der politische Wille da, könnte Deutschland diese Dinge schnell ändern, so Judith.

Doch die Praxis ist komplizierter. Sogar bei den ukrainischen Geflüchteten zeigt sich momentan, wie hoch die bürokratischen Hürden sind. Judith beobachtet eine große Überlastung bei den Ausländerbehörden: "Es dauert sehr lange, bis man einen Termin bekommt, um einen Antrag zu stellen. Wir sehen Verzögerungen, bis die Menschen aus der Ukraine tatsächlich eine Arbeitserlaubnis bekommen, da sind andere EU-Mitgliedsstaaten schneller. Außerdem sehen wir, dass Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine ohne Staatsbürgerschaft unter Druck gesetzt werden, auszureisen. Dabei ist ihr Aufenthalt in Deutschland auf jeden Fall bis zum 23. August legal." Das hätte auch Auswirkungen auf die Asylanträge anderer Geflüchteter, sagt sie. Viele Anträge und Verlängerungen blieben aktuell auf der Strecke.

Abschaffung von Bürokratie bedeutet Sicherheit

Eine Vereinfachung der Regeln auch für andere Geflüchtete sei aber ein wichtiges Ziel, sagt Udo Gönheit: "Das würde für die Menschen bedeuten, dass sie ein Stück Sicherheit haben und nicht mehr das Gefühl haben, auf Abruf zu sein." Die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag bereits einige Änderungen des Asylrechts beschlossen, beispielsweise beim Familiennachzug. Wiebke Judith sieht jetzt einen guten Moment, dass auch die reguläre Migrationspolitik verändert werden könnte: "Viele Menschen sehen jetzt die Probleme und es wurden für die Ukrainerinnen und Ukrainer Dinge verändert. Ich denke, dass nun viele merken, dass sich die auch für andere Geflüchtete ändern müssen."

Allerdings können nicht alle Punkte im Asylrecht von der Bundesregierung verändert werden. Wie schwer oder leicht man es Menschen macht, über die EU-Grenze zu kommen, das ist Sache der EU-Gesetzgebung. Die Bundesregierung hätte aber durchaus Möglichkeiten, bürokratische Hürden zu senken oder abzuschaffen, damit sich das Zwei-Klassen-System bei Geflüchteten nicht verfestigt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.05.2022, 15 Uhr

Beitrag von Ann Kristin Schenten

Artikel im mobilen Angebot lesen