rbb24
  1. rbb|24
  2. Panorama
Video: rbb Abendschau | 09.01.2024 | Quelle: dpa/Soeren Stache

Berlin

Warum der Kalte Krieg bis heute bei der S-Bahn seine Spuren hinterlässt

Das Schienennetz der Region leidet immer noch an Spätfolgen von Krieg und Teilung. In West-Berlin geriet es durch den S-Bahn-Boykott sogar zwischen die Fronten des Kalten Krieges. Ein Irrweg, der vor 40 Jahren endete, aber immer noch nachwirkt. Von Frank Drescher

Wer im Norden Berlins auf die U6 angewiesen ist, muss irgendwann notgedrungen das Transportmittel wechseln. Ein Streckenabschnitt wird saniert, und dort ist Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet. Dabei könnten die Fahrgäste auf den Schienen bleiben - wenn sie denn genügend Zeit mitbrächten. Es gibt nämlich eine Alternative, die S25. Aber: Die fährt nur alle 20 Minuten. Ein dichterer Takt ist nicht möglich. Denn die S-Bahnstrecke von Hennigsdorf Richtung Berliner Innenstadt bis Schönholz hat zumeist nur ein Gleis. Dabei hatte sie mal mehr - wie viele andere Bahnstrecken in Berlin und Brandenburg.

Verspätungen wegen Demontagen nach dem Zweiten Weltkrieg

Zur Entschädigung für den Zweiten Weltkrieg, den Deutschland verbrochen hatte, beschlossen die Siegermächte 1945 den Abbau und Abtransport von Industrieanlagen. Deshalb brachte die Rote Armee von vielen Bahnstrecken ihrer Besatzungszone das zweite Bahngleis in die Sowjetunion. In der Folge sind im Bahnnetz von Berlin und Brandenburg viele Streckenabschnitte bis heute eingleisig: zwischen Lübbenau und Cottbus [bauprojekte.deutschebahn.com] und zwischen Berlin und Küstrin-Kietz etwa, auch die S-Bahnlinien nach Bernau und Hennigsdorf.

"Das ist immer noch etwas, was die S-Bahn heute beeinträchtigt", sagt Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Denn ist ein Zug verspätet, verspätet sich der ihn abwartende Zug der Gegenrichtung zwangsläufig.

Defekte Aufzüge im ÖPNV

Wie eine S-Bahn-Fahrt im Berliner Osten für einen Rollstuhlfahrer zur Odyssee wurde

Mehr als 400 Aufzüge verzeichnen BVG und Deutsche Bahn in Berlin – ein guter Wert im internationalen Vergleich. Doch was tun, wenn nahezu 50 davon nicht funktionieren? rbb|24-Autor Frank Preiss sitzt im Rollstuhl und berichtet von einem düsteren Tag.

West-Berlins S-Bahn zwischen den Fronten des Kalten Krieges

Der komplizierte Status Berlins unter den vier Besatzungsmächten brachte es mit sich, dass die Deutsche Reichsbahn, ein Staatsbetrieb der DDR, auch in den West-Sektoren für den Eisenbahnverkehr zuständig war. Nach dem Mauerbau riefen Politik und Gewerkschaften in West-Berlin zum Boykott der S-Bahn auf.

Mit Erfolg: Die Passagierzahlen brachen nach 1961 dramatisch ein. Die Verluste, die Ost-Berlin zu tragen hatten, beliefen sich in den 1970er Jahren auf jährlich 100 Millionen Mark und mehr. "Das heißt: Alles, was die S-Bahn an Geld ausgab, musste sie selbst erwirtschaften beziehungsweise musste aus dem maroden Haushalt der DDR kommen, auch die Devisen für die Gehälter", erzählt Udo Dittfurth, Leiter des S-Bahnmuseums und im Hauptberuf Stadtplaner. Denn viele Reichsbahn-Beschäftigte lebten in West-Berlin und mussten in D-Mark bezahlt werden.

Verwahrloste Rolltreppe auf dem S-Bahnhof Westkreuz | Quelle: dpa/United Archives/Kindermann

Schleichender Verfall bis 1984

Das Geld der Reichsbahn reichte nur, die S-Bahn so instandzuhalten, dass der Betrieb technisch gerade noch sicher war. Schon für die Beseitigung witterungsbedingter Abnutzung der Anlagen reichte es oft nicht mehr. Denn in West-Berlin hatte die S-Bahn kaum noch Passagiere: 1981 beförderte sie laut DDR-Verkehrsministerium nur noch 3,5 Millionen Menschen – so viele, wie sie heutzutage in drei Tagen durchs gesamte Netz fährt. Düstere, verfallende Bahnhöfe und museumsreife Züge aus den 1920er Jahren mit hölzernen Sitzbänken, die auf den ausgeleierten Gleisen mitunter bedrohlich schaukelten, schreckten potenzielle Kundschaft ab.

Einfach aufgeben wollte Ost-Berlin den Betrieb aber auch nicht. Denn mit ihrem Bahnbetrieb kreuz und quer durch West-Berlin konnte die DDR Einfluss nehmen auf die Stadtplanung West-Berlins, so Dittfurth. Ein Beispiel: Der Tunnelbau für die U7 unter dem Nordring. "Wir haben in unserem Museum die Baugenehmigung für den U-Bahnhof Jungfernheide, abgestempelt von der staatlichen Bauaufsicht der DDR mit Hammer und Sichel. Das heißt die DDR hat den U-Bahn-Bau in West-Berlin genehmigt", erzählt er. Dass die Stadtautobahn am heutigen Südkreuz jahrelang nicht die Anhalter Bahn queren konnte und den Sachsendamm zur Staufalle machte, ist noch so eine Begebenheit.

Die Reichsbahn musste trotzdem eisern sparen – so sehr, dass ihre West-Belegschaft 1980 empört die Arbeit niederlegte. Der sozialistische Großbetrieb kündigte daraufhin die Streikenden - und musste ohne sie das halbe West-Berliner S-Bahnnetz stilllegen. Staaken, Spandau, das nördliche Moabit und Neukölln verloren ihre Bahnanschlüsse. "Insofern ist die S-Bahn ein Opfer des Kalten Krieges", sagt Udo Dittfurth, der sich damals in einer Bürgerinitiative für den Wiederaufbau der West-Berliner S-Bahn engagierte.

Berlin und Brandenburg

Im Öffentlichen Nahverkehr ziehen ab Januar deutlich die Preise an

Fahrgäste in Berlin und Brandenburg müssen im neuen Jahr erneut tiefer in die Tasche greifen. Nach nur acht Monaten erfolgt eine weitere Preiserhöhung im Öffentlichen Personen-Nahverkehr - nicht nur bei den Einzeltickets. Ein Überblick.

Vor 40 Jahren: Ende des S-Bahnboykotts

Der begann erst, nachdem im Januar 1984 die BVG die West-Berliner S-Bahn für einige Jahre übernahm. Der Jahrestag markiert einen Wendepunkt. "Es war ein ungeheurer politischer Einschnitt für die S-Bahn, der unmittelbare Einfluss der DDR endete", so schätzt Udo Dittfurth das Ereignis ein. "Es war auch die Möglichkeit für ein integriertes, stärker auf den öffentlichen Nahverkehr ausgerichtetes Verkehrsangebot. Ein wirklich wichtiger und positiver Einschnitt in der Geschichte des Eisenbahnverkehrs in Berlin", erklärt er weiter. Denn vor diesem Termin waren für BVG und S-Bahn separate Fahrscheine erforderlich.

Zäher Wiederaufbau

Der BVG gelang auch, womit sich die Deutsche Bahn bis heute schwer tut: Sie baute das zweite Gleis auf einigen eingleisigen Abschnitten wieder auf. Eingleisig blieben auch die nach dem Mauerfall wiedererrichteten Umlandverbindungen der S-Bahn – bis heute eine Ursache für Zugverspätungen.

Erst 2002 waren die wichtigsten Strecken wiederhergestellt. Manche, wie die Siemensbahn in Spandau, sind es immer noch nicht. "Naja, bei der S-Bahn sind es gar nicht so viel Strecken", sagt Bahn-Regionalchef Kaczmarek. "Da reden wir von der Siemensbahn sicherlich, die Stammbahn zum Beispiel ist ja als Regionalbahn zum Wiederaufbau vorgesehen."

Zwischen Gesundbrunnen und Südkreuz

Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn wird für sechs Wochen gesperrt

Von Freitagabend bis zum 16. Februar wird die Berliner S-Bahn umfangreiche Bauarbeiten im Berliner Nord-Süd-Tunnel durchführen. Fahrgäste müssen andere Linien nutzen und auf Busse umsteigen.

Gegensätzliche Interessen von Berlin und Brandenburg

Tatsächlich kündigte voriges Jahr Brandenburgs Infrastrukturministerium die Wiedereröffnung der Strecke für 2038 an. Warum nicht eher? Dazu Alexander Kaczmarek: "In den Neunziger Jahren ist zur Stammbahn eine Untersuchung gemacht worden, da hat man herausgefunden: Lohnt sich überhaupt nicht, brauchen wir gar nicht. Das war nicht die Situation wie heute, wo man sagt: Stadt und Umland wachsen dynamisch. Damals waren wir im Schrumpfungsprozess begriffen."

Teil des Problems waren aber auch jahrelange Debatten zwischen den beteiligten Landesregierungen, ob die Strecke nun als S-Bahn oder als Regionalbahn wiedererrichtet werden soll. Wegen der unterschiedlichen Stromversorgungssysteme ist das keine triviale Abwägung. Ähnliche Debatten lähmen auch auf anderen Strecken den Wiederaufbau. Wenn es bei 2038 bleibt, wird die Strecke, die bis 1945 Berlin über Kleinmachnow mit Potsdam verbunden hat, fast 100 Jahre außer Betrieb gewesen sein.

Sendung: rbb Abendschau, 09.01.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Frank Drescher

Artikel im mobilen Angebot lesen