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Video: rbb24 Abendschau | 14.02.2024 | Yasser Speck | Quelle: imago images/Guillem

Interview | Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen

"Diese Mischung mit anderen Substanzen ist wie Russisch Roulette"

Benzodiazepine und Opioide sind Medikamente. Doch immer mehr junge Menschen konsumieren sie ohne Verschreibung. Das Risiko: schnelle Abhängigkeit und die Kombination mit anderen Drogen wie Alkohol, erklärt Suchtberater Arthur Coffin.

rbb|24: Herr Coffin, wie wirken Medikamente wie Benzodiazepine und Opioide auf den Körper eines jungen Erwachsenen?

Arthur Coffin: Da kann man sich ganz gut Interviews mit sogenannten Mumble-Rappern anschauen. Dann bekommt man ein gutes Bild davon. Das sind Musiker aus der Trap-Rap-Szene, die mit halb verschlossenen Augen nur so vor sich hinmurmeln. Das ist eine ganz typische Wirkung. Ansonsten wirken diese Medikamente angstlösend und dämpfend.

Zur Person

Und wofür sind die Medikamente eigentlich gedacht?

Benzodiazepine nimmt man, wenn man Schlafstörungen hat oder wenn man Anspannungen oder Ängste reduzieren will. In der Medizin wird es auch als krampflösendes Mittel eingesetzt. Opioide werden eigentlich nur bei sehr starken Schmerzen verschrieben.

Wieso liegen Benzos und Opioide bei jungen Menschen so im Trend?

Ich habe da mehrere Ansätze. Wir haben einmal das Phänomen des Hedonismus und der Partyhauptstadt Berlin, in der man quasi alle Substanzen in relativ hoher Qualität zu relativ günstigen Preisen bekommt, also Verfügbarkeit ist schon ein Grund.

Das zweite ist die Zeit, in der wir leben. Ich meine den höheren Leistungs- und Schuldruck und die permanenten Krisen um uns herum. Diese permanente Unsicherheit spielt da auch mit rein.

Und die dritte Säule ist eben ganz normales, typisches Pubertätsverhalten. Dass junge Menschen rausgehen und Risiken eingehen gehört zur Pubertät. Und dass man auf Partys, sage ich mal, einen Rausch will oder Ekstase oder auch Eskapismus sucht, ist etwas Menschliches.

Info

Sehen Sie eine Entwicklung in den vergangenen Jahren?

Ja, zu 100 Prozent. Dieses Medikamentenproblem und dieser Wunsch nach Dämpfung ist etwas, was wir immer wieder sehen, und wo sich auch ganz stark seit der Pandemie etwas verändert hat. Ein großes Problem ist der Mischkonsum. Das bedeutet, dass man nicht mehr den typischen Kiffer hat, sondern es muss jetzt immer eine Mischung von mehreren Substanzen sein.

Und bei Benzodiazepinen und Opioiden sind die Wechselwirkungen mit Alkohol, Antidepressiva oder anderen Substanzen die große Gefahr. Diese Mischungen sind wie Russisch Roulette. Dann kann es lebensgefährlich werden, da vor allem Opioide sich atemlähmend auswirken können. Das Gehirn denkt in solchen Fällen: Wir haben genug Sauerstoff im Körper - und setzt dann einfach die Atmung aus.

Wie kommen Jugendliche mit diesen Medikamenten Ihrer Erfahrung nach das erste Mal in Berührung? Und wie kommen sie dann an die Medikamente?

Oft kommen Jugendliche im Partykontext zum ersten Mal mit Medikamenten in Berührung. In der heutigen Zeit scheinen diverse Social-Media Kanäle wie Insta und Telegramm das Mittel der Wahl zu sein, wenn es um die Beschaffung geht.

Wie schnell kann man abhängig werden?

Es kommt darauf an, wie man sie konsumiert. Wenn man zum Beispiel gemobbt wird oder aus einem Sexualmissbrauchsumfeld kommt und die Medikamente zum Verdrängen nimmt, dann kann das gerade bei Opiaten und Benzodiazepinen relativ schnell gehen.

Grundsätzlich ist das sehr individuell und hängt auch von der Dosierung ab. Aber gerade bei medizinisch legalen Opiaten sagt man, dass man die am besten nach zwei bis drei Wochen wieder absetzen sollte. Sonst läuft man Gefahr, süchtig zu werden.

Zahlen der gesetzlichen Krankenkassen zeigen, dass bei Benzodiazepinen die Zahl der verordneten Packungen in Berlin seit 2018 um fast 60 Prozent zugenommen hat, bei Opioiden und Opiaten sogar um mehr als 100 Prozent. Spielt das auch ein Rolle, wenn es darum geht, warum junge Menschen in eine Sucht abrutschen?

Das kann der Fall sein. Hier ist vor allem eine strenge medizinische Überwachung notwendig. Vor allem sollten Mediziner:innen – wenn sie denn bei bestimmten Symptomen keine andere Wahl sehen – die Zeitspanne ihrer Verschreibungen im Blick haben und darauf achten, ein gutes Ausstiegsszenario zu haben. Bei der ersten Tablette sollte schon ein gewisses Bild darüber herrschen, wann die letzte einzunehmen ist. Nach dem Motto: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.

Steigende Zahlen

Wenn Jugendliche medikamentensüchtig werden

Immer mehr junge Menschen konsumieren Medikamente wie Opioide und Benzodiazepine: aus Lust am Ausprobieren oder als Mittel gegen Stress und Angst. Zu den Risiken gehört nicht nur die schnelle Abhängigkeit. Von Yasser Speck

Wie lebensgefährlich ist die Sucht nach diesen Medikamenten?

Ich würde sagen, teilweise kann das sehr lebensgefährlich sein, weil es ganz krass in die Hirnchemie eingreift. Wenn man das wirklich regelmäßig und hoch dosiert nimmt, kann es zu Krämpfen kommen bis hin zum Koma.

Ein Symptom von Sucht ist die Gewöhnung. Man hat dann eine gewisse Toleranz erreicht. Und um die gleiche Wirkung beizubehalten, muss man immer wieder ein bisschen mehr drauflegen. Wenn man dann ein relativ hohes Level hat, wird es gefährlich.

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Was kann ich tun, wenn ich sehe, dass eine Freundin von mir, mein Kind oder vielleicht auch ich selbst da reingerutscht und süchtig nach Medikamenten bin?

Wenn man so etwas sieht, sollte man eine Suchtberatungsstelle aufsuchen. Am besten eine, die auch einen Familienschwerpunkt hat. Wir von der LogIn-Suchtberatung arbeiten immer mit der kompletten Familie zusammen, weil wir sagen, das bringt nichts, wenn man das Kind nur zur Reparatur hier abliefert. Dann kommt das Kind wieder raus und dann fängt die ganze Sucht von vorne an. Es muss das ganze Familiensystem mitmachen

Wie läuft eine Suchtberatung bei Ihnen ab?

Wir nehmen uns in einem Erstgespräch ganz viel Zeit. Es geht potenziell auch um illegalen Konsum. Das heißt, wir versuchen zu vermitteln, dass hier ein geschützter Raum ist, in dem sie offen reden können, wir haben Schweigepflicht. Und dann wird erst mal ein bisschen sondiert, wohin die Reise gehen kann.

Das können total unterschiedliche Themen sein. Es kann sein, dass es dem Menschen so schlecht geht, dass er sofort in ein Krankenhaus muss. Oder die Person hat es im Griff, will aber nicht weiter reinrutschen. Wir müssen dann immer schauen: Wollen wir über Gespräche eine Konsumreduktion erreichen? Wollen wir eine Therapie vermitteln? Oder geht es um eine Schuldnerberatung? Denn so eine Sucht zieht ja oftmals auch einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich. Dann gehen wir in den Beratungsprozess, der kann dann auch gerne über mehrere Wochen gehen, bis wir einen Weg gefunden haben. Bei uns bekommt keiner einen Stempel aufgedrückt. Die Klienten sind die Experten ihrer selbst, und wir haben einfach nur den Bauchladen mit den ganzen Angeboten.

Wie läuft ein Entzug von Benzodiazepinen und Opioiden? Schafft man das auch allein?

Es kann sehr anstrengend sein. Im Grunde genommen wird im Rahmen einer Krankenhausbehandlung "warm" entzogen. Das bedeutet, dass man entweder das gleiche oder ein ähnliches Präparat als Substitut bekommt, das dann wiederum unter Beobachtung ausgeschlichen wird. Ausschleichen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeden Tag mit der Dosis runtergegangen wird, solange, bis man auf null ist. Somit kann sich der Körper mit der schrittweise gemachten Entwöhnung besser arrangieren. Ein derartiger Entzug dauert in diesem Kontext sieben bis 14 Tage. Oft ist der Prozess mit zehn Tagen abgeschlossen.

Ganz allein einen Entzug von Benzodiazepinen zu machen, birgt lebensgefährliche Risiken. Es kann zu Krampfanfällen und Delirium kommen.

Studie zu den Motiven für den Konsum

Infos

Das Forschungsprojekt BOJE (Benzodiazepin- und Opioidkonsum bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen) hat in qualitativen Interviews die Motive für den Medikamentenmissbrauch erfragt. Die Auswertung zeigt: Benzodiazepine werden häufiger allein konsumiert als Opioide und deutlich häufiger zur Alltagsbewältigung oder zur Selbstmedikation. Party-affine Konsumierende nutzen Benzos am Ende der Nacht, um schlafen zu können.

Für Opioide dagegen, also vor allem Tilidin, wird deutlich häufiger auf das Genießen der Wirkung verwiesen, zum Beispiel beim gemeinsamen Konsum mit Bekannten. Dabei wird dann oft zusätzlich Alkohol und/oder Cannabis konsumiert.

Die komplette Studie wird am 15. Februar vom Center for Drug Research [uni-frankfurt.de] an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main veröffentlicht.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Yasser Speck für rbb|24.

Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 14.02.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Yasser Speck

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