rbb24
  1. rbb|24
  2. Panorama
Quelle: dpa/akg

Interview | Medizinhistoriker über Pandemien

"Epidemien sind ein Korrektiv - was durchaus große Folgen haben kann"

Pest, Cholera oder eben auch Corona: Über die Jahrhunderte hinweg zeigen sich viele Paralleln in den Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung - und in den gesellschaftlichen Reaktionen darauf, sagt der Medizinhistoriker Axel C. Hüntelmann.

rbb|24: Herr Hüntelmann, Pest, Cholera, Tuberkulose oder Spanische Grippe – immer wieder gab es Epidemie-Ausbrüche in den letzten Jahrhunderten. Wie wurden diese Seuchen früher bekämpft?

Axel Hüntelmann: Nach der Pest im Mittelalter ist die Cholera in der jüngeren Geschichte bis heute der große Bezugspunkt für Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien. Die Seuche brach Ende der 1820er-Jahre in Europa aus, erreichte 1831/1832 Berlin und schwappte dann immer wieder in Wellen über Europa hinweg. Zuletzt trat die Cholera als Epidemie in Deutschland 1892 in Hamburg auf. Die Cholera war für die Europäer eine relativ neue Erkrankung, und in diesem massiven Auftreten war man dem erstmal schutzlos ausgeliefert.

In Berlin forderte die Cholera von September 1831 bis Februar 1832 rund 1.400 Tote. Was sind die Symptome der Krankheit?

Die wesentlichen Symptome sind, nach kurzer Inkubationszeit, dauernder Durchfall und Erbrechen. Die Erkrankten können dann infolge des hohen Flüssigkeitsverlustes an multiplem Organversagen sterben. Die Erkrankten haben früher zum Teil in der Öffentlichkeit die Kontrolle über ihre Ausscheidungen verloren. Diese Schreckensbilder kamen zur eigentlichen Bedrohung, dass man daran sterben kann, hinzu.

Zur Person

Dr. Axel C. Hüntelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité Berlin.

Was wurde damals unternommen, um die Ausbreitung zu verhindern?

Der wesentliche Kern der Maßnahmen war verbunden mit dem Aufstieg der Bakteriologie im 19. Jahrhundert. Die letzte große Cholera-Epidemie in Deutschland war, wie gesagt, im Hochsommer 1892 in Hamburg. Zunächst musste man feststellen, was hinter den Symptomen steckt: Handelt es sich vielleicht nur um eine Lebensmittelvergiftung, hat jemand verschmutztes Wasser getrunken, oder ist es eine infektiöse Erkrankung? Das war eine Frage der bakteriologischen Diagnostik. Aber selbst als die Diagnose Cholera feststand, zögerte der Hamburger Senat, eine politische Entscheidung zu treffen und geeignete Maßnahmen zu veranlassen.

Warum?

Man wusste: Wird publik, dass es einen Seuchenausbruch gibt, hat das wirtschaftliche Konsequenzen. Erst als es ein nicht mehr kontrollierbares Problem zu werden drohte, das nicht nur Hamburg allein betraf, sondern auch die umliegenden preußischen Städte, wurde Robert Koch vom Preußischen Institut für Infektionskrankheiten von der Reichsregierung zur Seuchenbekämpfung nach Hamburg geschickt. Als Koch durch das Arbeiterviertel ging, und die unzumutbaren Hygienezustände dort gesehen hat, sagte er den vielzitierten Satz: "Ich vergesse, dass ich in Europa bin".

mehr zum thema

Spanische Grippe 1918 in Berlin

Das große Sterben

Der Schmutz in den engen Wohnvierteln bot den Bakterien einen idealen Nährboden. Zudem wurde das Trinkwasser damals ungereinigt aus der Elbe entnommen.

Richtig. Man sah vor allen Dingen das Wasser als einen Faktor, über den sich die Mikroben verbreiten konnten. Um den Herd der Infektion einzudämmen, hat man versucht, Wasser abzukochen und Trinkwasser an die Bevölkerung ausgegeben. Ansonsten wurde das öffentliche Leben der gesamten Bevölkerung weitgehend eingeschränkt, leere Märkte, leere Straßen, Schulen wurden geschlossen. Hamburg war 1892 weitgehend abgeriegelt.

Die Schutzmaßnahmen sind ganz ähnlich wie bei der Corona-Krise ...

Bis heute sind Isolation, Desinfektion und Einschränkung des öffentlichen Lebens die Mittel der Wahl bei allen Seuchen, sei es die Pest, die Pocken, Typhus, Cholera, Ebola oder jetzt eben auch Corona. Die Maßnahmen wurden 1900 im Reichsseuchengesetz festgeschrieben und finden sich im Wesentlichen auch im heute gültigen Infektionsschutzgesetz wieder. Wenn möglich, wurden wie bei den Pocken Impfungen vorgenommen oder nach 1900 Antikörper enthaltende Heilseren verabreicht.

mehr zum thema

Maßnahmen gegen Corona-Ausbreitung

Wie wirkungsvoll sind Ausgangssperren bei einer Pandemie?

Stichwort Hygienemaßnahmen: Wie ging das früher konkret vonstatten?

Ein geradezu idealtypisches Beispiel stellen Maßnahmen dar, die 1902 ergriffen wurden, nachdem ein Wiener Arzt in Berlin an der Pest erkrankt war. Er wurde sofort in die Infektionsbaracken der Charité gebracht und dort isoliert. Ein bakteriologischer Test bestätigte die Diagnose. Die Wohnung wurde desinfiziert. Es gab damals den Beruf des Desinfektors, der Karbolsäure in den Wohnungen versprühte und die Räume ausräucherte. Menschen, die im selben Gebäude wie der erkrankte Arzt lebten, wurden mit Pestserum geimpft und unter Quarantäne gestellt, auch die Kinder durften nicht zur Schule gehen. Nach fünf Tagen verstarb der Mann. Mittlerweile war auch der Krankenwärter, der ihn betreut hatte, erkrankt. Daraufhin wurden sämtliche Wärter isoliert, die mit der Pflege betraut waren. Um die Krankenbaracke wurde ein Bretterzaun errichtet. Durch eine Luke wurde Nahrung hereingereicht und der Abfall entsorgt. Nach zwei Wochen galt der Ausbruch als abgeschlossen, weil dann niemand mehr erkrankt ist.

mehr zum thema

Interview | Verschwörungsmythen

Wir sind die Auserwählten, die elitäre Gruppe von Wissenden

Bei diesem Fall betrafen die Einschränkungen nur wenige Menschen. Aber bei großen Seuchen, war – Sie sagten es bereits – das öffentliche Leben eingeschränkt. Wie hat die Bevölkerung reagiert?

Für die Betroffenen stellte sich damals nicht die Frage: Ist das mit meinen Grundrechten oder Menschenrechten vereinbar? Das spielte kaum eine Rolle. Die Leute kamen schlicht und ergreifend in Quarantäne. Und grundsätzlich hat man sich immer gefragt: Wo kommt die Krankheit her, wer ist schuld, wer hat es verursacht?

Welche Erklärungsmuster gab es?

Eine einfache Erklärung war, dass es Gottes Wille sei, und die Krankheit durch das lasterhafte Leben der Menschen verursacht wurde. Andere Erklärungen schoben dem politischen Erzfeind die Schuld zu, das Bürgertum beschuldigte das Proletariat durch mangelnde Hygiene Seuchen auszulösen, die Unterschichten vermuteten, dass die Oberschicht sie durch Krankheitskeime dezimieren wolle. Und als 1874 das Reichsimpfgesetz erlassen wurden, hatten die Gegner ähnliche Argumente wie heute: Man will uns eigentlich vergiften. Es gab zwar noch keinen Bill Gates, der einen Chip einpflanzen will, aber Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien sind ein Dauerthema. Und dann gab es natürlich den Topos, dass die Juden an allem schuld sind. Darauf konnte man sich am leichtesten einigen. Das alles waren auch Formen der Bewältigung von Angst.

Was waren die gesellschaftlichen Folgen?

Natürlich führte die Krise auch zu sozialen Verwerfungen. Die Gerüchteküche brodelte. Menschen starben, Geschäfte hatten geschlossen, der Handel funktionierte nicht mehr, die Arbeitslosigkeit stieg, es gab Verteuerungen. Und dann haben sich Teile der verunsicherten Bevölkerung zusammengerottet, es kam zu Unruhen, die die öffentliche Ordnung bedrohten. Das spielte auch bei früheren Pandemien eine große Rolle.

mehr zum thema

Interview | Corona-Streit in der Familie

"Zuhören, Ordnung reinbringen, Fakten checken"

Wenn Sie auf die Geschichte zurückblicken: Haben Epidemien im Nachhinein gesellschaftlich auch etwas Positives bewirkt?

Die Cholera war in gewisser Weise auch ein Argument, um bestimmte unpopuläre oder kostenintensive Maßnahmen durchzusetzen: In Hamburg hat man beispielsweise danach ganze Stadtviertel saniert. Es wurden verstärkt Abwassersysteme gebaut, die Trinkwasserversorgung ist grundlegend erneuert worden. Hier war die Seuche also der Ausgangspunkt für diese Veränderungen. Neues entsteht natürlich generell eher aus Krisen. Denn normalerweise ist der Status quo so stark, dass sich nur durch eine Krise etwas verändert.

Corona stellt unser Leben, unseren "Way of Live" auf den Kopf. Was vor der Pandemie völlig normal war, etwa unsere Mobilität, ist nun komplett anders. Können wir denn aus der Krise lernen?

Ich tue mich schwer mit einem Lerneffekt. Aber Pandemien bringen eben Veränderungen. Ob die positiv sind, ist auch eine Frage der Interpretation. Aber ich glaube, dass uns Seuchen vor die Frage stellen: Was ist wichtig, was ist nicht wichtig? Epidemien sind natürlich ein Korrektiv – was durchaus große Folgen haben kann. Das zeigt auch die Corona-Epidemie ganz deutlich: etwa wieviel wird man demnächst reisen, auch beruflich? Wie viel macht man virtuell? Natürlich lernt man daraus eine Menge. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichte lehrt uns, dass man in solchen Phasen, wie großen Seuchenzügen, immer auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Die Wissenschaft wird immer ausdifferenzierter, in der aktuellen Corona-Epidemie wurde in kürzester Zeit ein Impfstoff entwickelt. Ist eine Welt ohne Pandemien denkbar?

Das halte ich für eine schöne Utopie. Das hat es bislang noch nicht gegeben, und es gibt den Menschen schon sehr lange. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Epidemien wiederkommen werden, alleine durch die Bevölkerungsdichte und die Ressourcen, die zunehmend zu Ende gehen. Dann gibt es das Problem der Mutationen oder dass alte Erkrankungen, die schon besiegt schienen, wieder zurückkehren, dass sich multiresistente Keime ausbilden, die sich nicht mehr durch bestehende Antibiotika bekämpfen lassen. Ich befürchte eher, dass Epidemien wieder vermehrt auftreten können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mit Dr. Axel C. Hüntelmann sprach Ula Brunner, rbb|24.

Sendung:  

Artikel im mobilen Angebot lesen