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Quelle: IMAGO / Nordphoto

Analyse | Hertha-Pleite auf Schalke

Ein Gesamtkunstwerk des Grauens

Mit einem desolaten Auftritt hat sich Hertha dem FC Schalke 04 zum Fraß vorgeworfen. Die 2:5-Niederlage gegen den Tabellenletzten hat jede Hoffnung genommen, die Klasse zu halten – und vermutlich Trainer Schwarz den Job gekostet. Von Marc Schwitzky

Armutszeugnis, Bankrotterklärung, Totalausfall, Zusammenbruch – die deutsche Sprache birgt viele Möglichkeiten, das zu beschreiben, was Fußball-Bundesligist Hertha BSC am Freitagabend auf Schalke abgeliefert hat. Und all diese Begriffe wirken doch nur wie Floskeln, denn schon zu oft mussten sie als Beschreibung der Berliner Auftritte herhalten. Das Vokabular ist nach vier Jahren im Abstiegskampf aufgebraucht und macht es der schreibenden Zunft immer schwieriger, die Situation von Hertha neuartig festzuhalten.

Mittlerweile lässt sich die Ästhetik der jahrelangen sportlichen Krise des Vereins nur noch mit der eines barocken Gemäldes vergleichen, das Qualen der Menschheit visualisiert. Egal wohin der Blick geht: ein schwarzer, tiefer Hintergrund; langgezogene Gesichter, gezeichnet von Schmerz, Trauer und Horror; keine Farbkleckse der Freude, nur kalte Trostlosigkeit.

Hertha im April 2023 ist ein Gesamtkunstwerk des Grauens – und die 2:5-Niederlage gegen den FC Schalke 04 ist womöglich der letzte Pinselstrich.

2:5 bei Schalke 04

Hertha rutscht auf letzten Tabellenplatz ab

Hertha BSC hat zum Auftakt des 28. Spieltags der Fußball-Bundesliga bei Schalke 04 verloren und damit den letzten Tabellenplatz übernommen. Vor allem defensiv zeigte die Mannschaft dabei keine gute Leistung.

Hertha war der Bedeutung des Spiels nicht gewachsen

Die Ausgangslage vor der Partie war so klar wie dramatisch: Schalke gegen Hertha, Tabellen-Schlusslicht gegen den Vorletzten, 21 gegen 22 Punkte, das schwächste Heim-Team gegen die schlechteste Auswärtsmannschaft der Liga – dazu der Druck, den 28. Spieltag am Freitag im Einzelspiel vor den Augen der gesamten Liga zu eröffnen. Fressen oder gefressen werden. Schalke-Torhüter Ralf Fährmann sprach im Vorfeld von einem "Finale". Es war eine auf die Spitze getriebene Dramaturgie, welche die Spielplan-Erstellenden der Bundesliga sicher frohlocken ließ.

Wer die Bedeutung des Spiels wirklich verinnerlicht hatte, wurde von der ersten Spielminute an ersichtlich. Es hatte keine drei Minuten gebraucht, bis der Ball das erste Mal im Tornetz landete. Schalkes Tim Skarke durfte samt Ball nahezu unbedrängt bis vor den Berliner Strafraum laufen, denn niemand bei Hertha fühlte sich für den Zweikampf verantwortlich. Dass Skarke die Kugel anschließend unhaltbar an den Querbalken setzte, von wo aus sie ins Tor knallte, mag besonderes Pech sein, wurde aber von Herthas miserablem Abwehrverhalten erst ermöglicht.

Kollektives Abwehrversagen zu Beginn

Gerade als sich Hertha scheinbar geschüttelt hatte und ein paar Mal selbst vor das gegnerische Tor kam, setzte es bereits das 0:2. Erneut erfolgte der Gegentreffer aus einem kollektiven Abwehrversagen, das auf Bundesliga-Niveau nicht zu erklären ist. Flügel schließen, klare Manndeckung im Strafraum – Anweisungen, die es bereits in der Kreisliga gibt, wurden in der 13. Minute von Herthas Verteidigern sträflich ignoriert und so hatte Marius Bülter nach Flanke von Skarke leichtes Spiel. Bevor die Partie wirklich begonnen hatte, war sie aus Hertha-Sicht auch schon wieder vorbei.

Es war eine erste Halbzeit zum Vergessen. Hertha vermochte es nicht, das einfachste Mittel des Fußballs – lange Bälle auf Wandspieler Simon Terodde, der sie festmacht und auf Außen weiterleitet – in den Griff zu bekommen. Schalke hatte am Freitagabend eine Passquote von 64 Prozent, knapp 40 Prozent der Pässe waren lange Bälle, im Spiel nach vorne gab es genau ein Stilmittel und defensiv immer wieder Unzulänglichkeiten. Dennoch: In einer Partie auf gruseligem Niveau war Hertha trotz ein paar brauchbarer Tor-Chancen noch die unterlegene Mannschaft.

Es braucht nicht einmal einen Totalausfall

Vermutlich ist die bitterste Erkenntnis, dass die erste Halbzeit der Begegnung im durchschnittlichen Leistungsvermögen Herthas nicht einmal einen Totalausfall darstellte. Frühe Gegentore, desolates Abwehrverhalten, Kontrollverlust im zentralen Mittelfeld, offensiv die verzweifelte Hoffnung, dass Dodi Lukebakio ein Geniestreich gelingt, ein individuell herausragender Moment von Stevan Jovetic zum Anschlusstreffer – all das ist Hertha BSC eigentlich schon seit Jahren, aber vor allem in der Saison 2022/23. Die vernichtende Analyse ist, dass eine weitestgehend durchschnittliche Halbzeitleistung Herthas mittlerweile nicht einmal mehr für den FC Schalke 04 reicht, der selbst viele fußballerische Aspekte erschreckend schlecht umsetzt.

Der tatsächliche Zusammenbruch der Mannschaft ereignete sich erst im zweiten Durchgang und nahm zum Schluss dramatische Züge an. Nach gerade einmal zwei Minuten kassierte Hertha das 3:1, erneut machten die Hauptstädter es den Hausherren denkbar einfach, erneut nahmen sie sich selbst ein mögliches Momentum. Schließlich fehlte zuvor nur ein Tor zum Ausgleich und Schalkes Abwehr präsentierte sich ebenfalls nicht sattelfest. Zu diesem Zeitpunkt war das Spiel entschieden, denn Schalke ging nun darin auf, jeglichen Rhythmus zu brechen und Hertha in keinen Spielfluss mehr kommen zu lassen. Die letzte halbe Stunde war geprägt von Chaos, Verunsicherung, Fouls, unerklärlichen individuellen Fehlern und Herthas ideenlosen langen Bällen in die Gefahrenzone.

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Schwarz vor dem Aus

Die drei noch folgenden Tore des Spiels zum 5:2-Endstand änderten nichts mehr an den Kräfteverhältnissen, sondern verdeutlichten nur den Eindruck, dass Hertha durchaus Möglichkeiten gehabt hätte, Schalke wehzutun (der Konter zum zwischenzeitlichen 4:2 war hervorragend gespielt), die vogelwilde Abwehrleistung allerdings jede Chance auf ein gutes Ergebnis verhinderte. Insgesamt steht ein völlig unwürdiger Auftritt zu Buche, der Hertha nach 28 Spieltagen die rote Laterne der Bundesliga verdient übernehmen lässt.

Die enttäuschende Niederlage wird wohl das Ende von Trainer Sandro Schwarz sein. Zu wenige Punkte in der spielerisch ordentlichen Hinrunde, ein unerklärlicher Leistungseinbruch zu Jahresbeginn, Systemwechsel, die Hereinnahme von Feuerwehrspieler Kevin-Prince Boateng – Schwarz wirkt in seinen Analysen, die trotz ihrer Sachlichkeit allmählich immer mehr in Floskeln ausfransen, allmählich ratlos. Er scheint alles probiert zu haben, nichts hat über einen längeren Zeitraum echte Wirkung gezeigt. Ein heruntergewirtschafteter, schief zusammengestellter, demoralisierter Kader und ein äußerst exzentrischer Verein scheinen den nächsten Trainer verdaut zu haben.

Sportdirektor Benjamin Weber vermied nach dem Schlusspfiff ein Bekenntnis zu Schwarz. Vor dem kommenden Spiel gegen Werder Bremen wird Hertha wohl die Reißleine ziehen und Schwarz ersetzen. Sechs Spieltage vor Schluss gehört auch zur Wahrheit, dass der Relegationsplatz nur wenige Punkte entfernt ist. Eine Situation, in der ein Verein alles versuchen muss. Wer Schwarz‘ Nachfolger wird und wie der hoffnungslosen Mannschaft noch der berüchtigte "Impuls" zum Klassenerhalt gegeben werden soll, ist unklar. Nur eins steht fest: Der Trainerstuhl bei Hertha BSC bleibt maximal unbequem.

Sendung: rbb24|Inforadio, 15.04.2023, 10:15 Uhr

Beitrag von Marc Schwitzky

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