Digitales Bezahlen - Der Trick mit dem Trinkgeld

Di 07.11.23 | 16:57 Uhr | Von Konrad Spremberg
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Bezahlszene (Quelle: rbb)
Video: rbb24 Abendschau | 07.11.2023 | Material: rbb24 Abendschau | Bild: rbb

Wie viel Trinkgeld ist angemessen? Beim Bezahlen ohne Bargeld macht neuerdings das Kartengerät Vorschläge dazu. Wer keins geben möchte, muss dann aktiv Nein sagen. Praktisch oder aufdringlich? Von K. Spremberg, H. Daehler und J. von Bülow

"Möchten Sie Trinkgeld geben?" Wer in der hippen Bäckerei in der Berliner Hermannstraße so direkt fragt, ist kein selbstbewusster Verkäufer, sondern ein Kartenlesegerät. Die Frage erscheint auf dem Touch-Display und die Kundin mit Kaffee und Croissant muss sich nun entscheiden: Möchte sie 10, 15, 20 oder sogar 25 Prozent Trinkgeld geben? Auch kein Trinkgeld ist eine Option - sie steht unten rechts auf dem Display. Erst nachdem sie, beobachtet vom Verkäufer, mit dem Finger eine Auswahl getroffen hat, wird die Kartenzahlung aktiviert.

Bezahlszene (Quelle: rbb)
Bezahlszene Bäckerei | Bild: rbb

Ungefähr die Hälfte der Kundschaft zahle Backwaren und Kaffee hier inzwischen ohne Bargeld, sagt der Geschäftsführer der Bäckerei. Ihm zufolge war es ein Wunsch der Kundinnen und Kunden, auch per Karte Trinkgeld geben zu können. Ganz selbstverständlich läuft das aber noch nicht. Ein Gast nach dem anderen tritt an die Kasse, wieder und wieder muss das Personal erklären: "Hier müssen Sie eine Entscheidung treffen."

Im Laufe der nächsten Jahre könnte das sehr viel selbstverständlicher werden. Immer mehr Anbieter von Kartenzahlungssystemen bieten das Konzept mit Auswahlmöglichkeiten zur Trinkgeldzahlung auch in Deutschland an. Ein profitables Geschäft: In der Regel verdienen sie einen festen Anteil an den Kartenumsätzen - also auch vom Trinkgeld. In den USA ist das System schon länger etabliert. Nun verändert sich auch die deutsche Trinkgeldkultur.

"Stimmt so!" reicht nicht mehr

Denn ohne Bargeld ist es mit einem schnellen "Stimmt so!" nicht mehr getan. Stattdessen also Trinkgeld per Touchscreen – die Kundin, die sich gerade ein Croissant geholt hat, sieht so einen Vorschlag zum ersten Mal. Zum Trinkgeld sagt sie: "Hier ist ja Selbstbedienung, da finde ich das eigentlich gar nicht nötig. Aber wenn man, wie hier, eine Entscheidung treffen muss - irgendwie MUSS man dann ja."

Wenn so ein Gefühl entsteht, dann liegt das am "Nudging". Der Ökonom Christian Traxler von der Berliner Hertie School erklärt den Begriff aus der Verhaltensökonomik als "das Anstupsen von Verhalten, um es in bestimmte Richtungen zu lenken - man könnte auch bösartig sagen: zu manipulieren." Nudge bedeutet Stups oder Schubs.

Dieses Anstupsen hat im Fall des Trinkgelds zwei Ebenen. Erstens macht es Kundinnen und Kunden darauf aufmerksam, dass sie überhaupt Trinkgeld geben könnten - auch zum Beispiel in einer Bäckerei mit Thekenverkauf, wo das weniger üblich ist als in Restaurants.

Wirtschaftswissenschaftler Christian Traxler (Quelle: rbb)
Ökonom Christian Traxler | Bild: rbb

Höhere Vorschläge - mehr Trinkgeld?

Zweitens beeinflusst der "Nudge" die Frage nach dem "Wie viel?". Der Ökonom Christian Traxler sagt, hier werde implizit der Rahmen kommuniziert, in dem Trinkgeld erwartet wird - zum Beispiel durch Standardwerte von 10 bis 25 Prozent. Zwar bieten die Kartengeräte auch die Möglichkeit, einen abweichenden Betrag einzugeben. Diese Option nutze aber nur ein Bruchteil der Leute.

Die Höhe der Standardwerte, die mit nur einem Fingertipp ausgewählt werden können, wirkt sich Traxler zufolge doppelt aus: Programmiert der Anbieter eher hohe Werte ein, fallen auch die einzelnen Trinkgeldbeträge tendenziell höher aus. Gleichzeitig sinke aber die Zahl der Menschen, die überhaupt Trinkgeld geben. Zahlungsanbieter und Gastronomen suchen also den Kompromiss: Sie wollen Kundinnen und Kunden anstupsen, aber nicht verprellen.

"Menschen sind höchst manipulierbar"

Wenn es beim Bezahlen ums Trinkgeld geht und das Kopfrechnen beginnt, dann sei das eine Stresssituation. So formuliert das der Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius, der dazu geforscht hat, wie sich die Trinkgeldhöhe beeinflussen lässt. Moderne Geräte zur Kartenzahlung, die konkrete Prozentwerte vorschlagen, sieht er prinzipiell positiv: "In dieser Stresssituation ist das eine mentale Abkürzung."

Problematisch sei, dass schon der niedrigste vorgeschlagene Wert häufig über dem liege, was Kundinnen und Kunden normalerweise an Trinkgeld geben würden: laut Hoffmanns Studie im Schnitt etwa acht Prozent. Schlägt die Kasse 10 bis 25 Prozent vor, dann sei das für deutsche Verhältnisse zu viel. "Genau hier sind Menschen höchst manipulierbar", so Hoffmann, "indem ich ihnen Alternativen unterjubele, die sie bei längerem Nachdenken gar nicht gewählt hätten."

Kellner Jizhong (Quelle: rbb)
Kellner Jizhong W. | Bild: rbb

Früher fünf, jetzt bis zu zehn Prozent im Durchschnitt

Am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte kommen viele Tourist:innen in das Grillrestaurant von Veiko Narten. Er hat vor einigen Wochen auf neue Kartengeräte umgestellt. Wenn sie Trinkgeld geben möchten, bekommen die Gäste hier nun Werte zwischen fünf und 20 Prozent vorgeschlagen. Seine Servicekräfte hätten sich das neue System gewünscht, sagt Narten.

"Früher waren wir unter fünf Prozent. Jetzt sind wir zwischen fünf und zehn Prozent Trinkgeld. Das ist eine deutliche Verbesserung", sagt Kellner Jizhong W., der in dem Restaurant arbeitet. Er sei mit dem Trinkgeld zufrieden, die Abrechnung jeden Tag transparent, so W. Das Kartensystem trennt Rechnungssummen und Trinkgelder automatisch. Was an Trinkgeld per Karte reinkommt, nimmt sich das Team zum Feierabend bar aus der Kasse. Dann wird mit Küchen- und Barpersonal geteilt.

Sebastian Riesner, Gewerkschaft NGG (Quelle: rbb)
NGG-Geschäftsfüher Sebastian Riesner | Bild: rbb

"In den meisten Betrieben gibt es keine Transparenz"

So transparent laufe das nicht immer, sagt Sebastian Riesner. Der Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Berlin-Brandenburg sieht darin einen zentralen Nachteil digitalen Trinkgelds. Die Beschäftigten seien darauf angewiesen, dass der Arbeitgeber die Mehreinnahmen wirklich weitergibt, so Riesner. "Daran gibt es erhebliche Zweifel. In den meisten Betrieben gibt es darüber keine Transparenz."

Die Gewerkschaft NGG ist dem Thema Trinkgeld gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt. Was die Beschäftigten in der Gastronomie zum Leben brauchen, müsse per Lohn gezahlt werden – und nicht vom Wohlwollen der Gäste abhängen. "Gastronomen stehlen sich aus der Verantwortung", sagt Riesner - immer wieder würden niedrige Löhne mit dem Zusatzverdienst Trinkgeld gerechtfertigt. Anders als beim Lohn gehen vom Trinkgeld keine Steuern ab, aber auch keine Rentenbeiträge. Je größer der Anteil des Trinkgelds am Verdienst der Beschäftigten ist, desto größer ist ihr Risiko, in Altersarmut zu rutschen. Dabei ist egal, ob das Trinkgeld in bar oder per Karte kommt - die Regeln sind dieselben.

Sendung: rbb24 Abendschau, 07.11.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Konrad Spremberg

116 Kommentare

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  1. 116.

    Ja und deswegen gibt es auch fast überall Sparschweine für verschiedene Bereiche. Habe ich jedenfalls gerade so erlebt. Für den Zimmerservice kann man ja sowieso Geld auf dem Zimmer hinterlegen, wenn man will. Oder man hinterlässt einen Umschlag am Empfang und schreibt drauf, für wen das sein soll. Das wäre auch eine Möglichkeit.

  2. 115.

    Nicht alles was aus den USA nach Deutschland schwappt, ist gut. Ich gebe gerne Trinkgeld für guten Service, aber auch bei kartenzahlung nur in bar.

  3. 114.

    In größeren Gastrobetrieben/Hotels arbeiten viele im Hintergrund mit am erbringen der Leistung. Nur weil sie sich aussuchen wem sie ne "Mark" in die Hand drücken, heisst das noch lange nicht, dass sich das dann gerecht verteilt auf die Beteiligten.

  4. 113.

    Aber Herr Wossi, "(Schwarz)Trinkgeld", nicht doch. Sehen sie es als steuerfreies, legales Geschenk - und ehrlich, die zulässige Maximalhöhe dürfte höchstens der Scheich von Ölland ausnutzen.

  5. 112.

    1. Als der Griff des Personals abends in die Barkasse geht gar nicht. Das ist ein absolutes Tabu, abends muss die Kasse auf den Cent genau stimmen. Dann sollte der Betreiber das Trinkgeld am Monatsende auf alle verteilt mit dem Gehalt überweisen.
    2. Super, und mit dem Trinkgeld verdient wieder der Betreiber des Kassensystems. Die Umsatzbeteiligung müsste ja eigentlich vom Trinkgeldbetrag vor Verteilung der Trinkgelder abgezogen werden.
    3. Die Nötigung zur Zahlung von Trinkgeld, und das ist es, auch wenn es die Option "Nein" gibt, ist für Kunden eigentlich nicht hinnehmbar.
    4. Ein Trinkgeld höher als 10% sollte nur in absoluten Ausnahmefällen gezahlt werden. Ansonsten hat man hier tatsächlich bald us-amerikanische Verhältnisse.
    5. Eine bessere Vorlage für das Finanzamt kann man gar nicht geben.

  6. 111.

    Und auch nochmal ein freundliches hallo zurück: Hab ich gelesen [toberg] hab ich. Ich denke trotzdem, dass jeder es doch so machen kann, wie er will. Ich empfinde es nicht als "verlangt werden", sondern eher als versuchte Manipulation, wie ja auch im Artikel geschrieben. So viel Durchsetzungkraft traue ich einfach jedem zu, sich da nicht manipulieren zu lassen. Aber vielleicht ist es auch wirklich ein Fehler, von sich auf andere zu schließen, mag sein. Wenn ich eine Art der versuchten Manipulation bemerke, dann werde ich extra stur oder kann es zumindest sein. Deshalb gebe ich Trinkgeld nur in bar. Wie schon geschrieben; da kann ich auch sicher sein, dass es an der richtigen Stelle ankommt.

  7. 110.

    Neid?? Klar, wenn man simpel ist, dann ist das das einzige was einem dazu einfällt. Wenn man aber das grosse Bild sieht, wird einem klar, wie ungerecht und verzerrend es ist, wenn einige Berufsgruppen zusätzliches Geld bekommen sollen, dafür, dass sie ihren Job machen.

  8. 109.

    Neid? Eher ist es unmoralisch zu nehmen, zu beanspruchen, wenn Not herrscht, aber nicht so einzuzahlen wie andere. Wir hatten diese soziale Stellung vor 89 schon. Mit bedenklichen Auftreten der Trinkgeldkassierer.

  9. 107.

    Das größte Problem daran ist aber doch, dass durch die ganze Kartenzahlerei das "Problem" mit dem Trinkgeld erst auftaucht.
    Bei Barzahlungen runden fast alle einfach auf, passt.
    Gerade die junge Generation weiß doch kaum, wie Bargeld aussieht.
    Die zahlen auch zwei Schrippen im Supermarkt mit Karte.
    Dass man damit dem Händler/Gastronom etc. nur noch zusätzliche Kosten aufbürdet, verdrängen die meisten gerne.
    Mein Mann arbeitet als Lieferfahrer einer Apotheke und wird oft gefragt, ob man per EC-Zahlung Trinkgeld geben kann. Weil er abends um 22 Uhr noch extra das Medikament bringt, obwohl schon offiziell Feierabend ist. Geht in seinem Fall nicht und da man kein Bargeld im Haus hat, Pech gehabt.

  10. 106.

    Wertschätzung?? Wofür?? Dass jemand seine Arbeit macht?? Wer wertschätzt meine Arbeit finanziell? Warum sollen manche Wertschätzung (zusätzlich zum Gehalt) bekommen, während die anderen nichts bekommen?? Ich gebe grundsätzlich kein Trinkgeld, wenn ich nicht muss. Also an so einem Terminal, immer nein, ganz besonders, wenn ich mir mein Zeug selber hole. Wenn ich bar bezahle und am Tisch bedient werde, wird maximal zum nächsten Betrag aufgerundet. Und da ist gar nichts widerlich dran.

  11. 104.

    Guten Morgen dann auch Turtle... und hoffentlich den Artikel richtig gelesen? Es geht nicht ums Trinkgeld allgemein, sondern die Art und Weise, wie dies fast schon verlangt wird.

  12. 103.

    Abgaben sind in Deutschland viel zu hoch. Da muss man nicht noch weiter "rentenwirksam" handeln. Trinkgelder sind eine gute Sache da sie weder versteuert noch noch durch die Sozialversicherungen entwendet werden. Abgaben in Deutschland sollten fallen und nicht steigen. Alles andere ist weder sozial noch förderlich für den Wohlstand.

  13. 102.

    Ganz klar eine Entwicklung die mit den Lohnerhöhungen in der letzten Zeit zurück zu führen ist. Die Leute haben exorbitant mehr Geld und da ist es umso einfacher die Leute zu manipulieren die Extraeuros wieder abzudrücken. Dann braucht man sich auch nicht so schuldig fühlen wenn man seinen Arbeitgeber bzw. am Ende die Gesellschaft abzieht... Man gibt das Geld ja wieder zurück.

    Echt nur egoistisch und kurzsichtig.

  14. 101.

    Kein unsoziales (Schwarz)Trinkgeld mehr. Null. Wie kann man den Servicekräften helfen, damit rentenwirksamer Lohn mit dem richtigen Maß gezahlt wird? Wie gesagt...helfen. Denn für Löhne muss man organisiert kämpfen. In Kommentarfunktionen wird dies nicht entschieden. Auch nicht von Politikern.

    P.S. Die immer Einzahlenden wollen nicht die Dummen sein.

  15. 100.

    Guten Morgen erstmal: Warum diese Aufregung? Wem das System nicht gefällt, der gibt das Trinkgeld eben bar oder gar nicht. Das kann doch jeder selber entscheiden. Es bar zu geben, ist wahrscheinlich sowieso besser, weil man dann sicher weiß, dass es auch dort ankommt, wo man will.

  16. 99.

    "Service compris" - ja, das kenne ich gut, ebenso das Bezahlen am Tresen - eine Wohltat!

  17. 98.

    Das Gehalt ist in der Ware eingeprrist. Diese Trinkgeld Unsitte greift immer nehr um sich.

  18. 97.

    Top! Das ist wohl die Beste Wahl, den Leuten klar zu machen, dass sie da gerade betteln und genau dieser Umstand als Nötigung empfunden wird und zu keinem Trinkgeld führt!

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