Interview | Prozess um Terroranschlag in Nizza - "Bis heute gibt es keine Anklageschrift wegen Beihilfe zum Mord"

Mo 05.09.22 | 07:48 Uhr
Polizei und Ermittler stehen am 15.07.2016 neben dem LKW, mit dem ein Täter in eine Menschenmenge gefahren ist. (Quelle: dpa/Andreas Gebert)
Audio: rbb24 Inforadio | 05. September 2022 | Ricardo Westphal | Bild: dpa/Andreas Gebert

Vor sechs Jahren starben bei einem Attentat in Nizza 86 Menschen, unter ihnen drei aus Berlin. Ab Montag stehen acht Angeklagte vor Gericht. In dem Prozess gehe es auch darum, die Angehörigen anzuhören, sagt Strafrechtler Stephan Maigné.

Vor einem Pariser Sondergericht wird ab Montag der Prozess gegen sieben Männer und eine Frau wegen des Terroranschlags zum französischen Nationalfeiertag in Nizza 2016 beginnen. Zwei Berliner Schülerinnen und eine Lehrerin gehörten zu den insgesamt 86 Todesopfern und über 400 Verletzten. Was passiert im Prozess und warum dauerte es über sechs Jahre, bis das Verfahren stattfindet? Ulf Morling sprach mit dem deutsch-französische Strafrechtler Stephan Maigné, der in großen Terrorverfahren bereits über 40 Opfer vertrat.

rbb|24: Herr Maigné, Sie sind im weiteren Sinn persönlich betroffen vom Anschlag am französischen Nationalfeiertag am 14. Juli 2016. Ihre Mutter lebt in der Nähe von Nizza. Wie haben Sie den Tag erlebt?

Stephan Maigné: Meine Mutter sieht sich üblicherweise das Feuerwerk an. Ich erfuhr von dem Anschlag im Radio, und glücklicherweise rief gleich darauf meine Mutter an, dass sie nicht dort gewesen war, weil sie krank war. Ich war sehr erleichtert. Natürlich habe ich mich dann vor den Fernseher gesetzt und mir die französischen Nachrichten angesehen. Leider kannte man das alles schon aus Frankreich: Zuvor waren ja die schrecklichen Anschläge in Paris und die hatten die Nation schon sehr verändert in Richtung Angstzustand. Es war das Gefühl: "Nicht schon wieder!" Auch in Nizza sind wieder Personen getroffen worden, die mit Politik überhaupt nichts zu tun haben. Es waren auch viele Muslime unter ihnen.

Zur Person

Stephan Maigne (Quelle: Ulf Morling)
Ulf Morling

Stephan Maigné ist Rechtsanwalt in Berlin. In Terrorverfahren hat er sowohl in Deutschland als auch in Frankreich mehrere Opfer vertreten. Er arbeitet außerdem als Vertrauensanwalt für die französische Botschaft.

Für den Anschlag auf den Breitscheidplatz in Berlin fünf Monate später soll der Anschlag in Nizza unter Umständen das Vorbild gewesen sein. Gab es - wie in Berlin - ernstzunehmende Hinweise und Vorwürfe, dass es bei der Observation des Täters und bei den Ermittlungen zu Pannen gekommen ist und dass deshalb der Prozess erst sechseinhalb Jahre nach der Tat stattfindet?

Der Täter war ja bei der Tat in Nizza erschossen worden. Man musste also erst einmal puzzlehaft konstruieren, wie es dazu gekommen war und welche Helfershelfer es gab. Es hat langwierige Ermittlungen gegeben. Letztendlich gibt es bis zum heutigen Tag keine Anklageschrift wegen Beihilfe zum Mord. Das heißt, die Ermittlungen haben nicht ergründen können, inwieweit die hier angeklagten Personen direkt wussten, was an dem Tag passiert. Einer der Beschuldigten hatte sich darüber hinaus 2018 in der Haft erhängt und einer der Beschuldigten, der auf freiem Fuß war, hatte sich nach Tunesien abgesetzt und wurde in Italien später wieder festgenommen. Es gab viele Pannen bei dem Prozess. Aber da ich solche Prozesse gut kenne, habe ich ein gewisses Verständnis, dass man über sechs Jahre brauchte bis zum Prozess. Sechs Jahre sind auch in Deutschland kein Einzelfall.

Zum Anschlag

Am 14. Juli 2016 fuhr gegen 22.35 Uhr ein 31-Jähriger mit einem gestohlenen LKW in Schlangenlinien über den Strandboulevard "Promenade des Anglais" in Nizza, auf dem Tausende Menschen auf ein Feuerwerk warteten. Bis der Täter selbst getötet wurde, soll er in den etwa zwei Minuten seiner Fahrt 86 Menschen aus 21 Nationen ermordet haben, über 400 Feiernde wurden zum Teil schwer verletzt. Eine direkte Beziehung zum IS, der sich später zu der Tat bekannte, soll nicht festgestellt worden sein. Die Tat soll dem Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz fünf Monate später als Vorbild gedient haben.

Es gibt jetzt 865 Nebenkläger im Prozess um den Terroranschlag in Nizza 2016 ...

Mit den Familienangehörigen gibt es insgesamt 2.500 Opfer, alle sind mittlerweile entschädigt. Für die Opfer aus 21 Nationen bzw. deren Hinterbliebenen gab es nach dem Anschlag in Frankreich relativ schnell Hilfe. Weil man leider in Frankreich solche Anschläge schon kannte, war man zumindest erst einmal mit der psychologischen Hilfe und der Begleitung der Opfer recht flott.

Aber wenn sie Todesopfer aus 21 Nationen haben, deren Angehörige viele Sprachen sprechen, ist es natürlich auch ein Problem, alles so einfach zu handhaben, also schwieriger, als wenn sie Franzosen wären, beziehungsweise aus einem Land kämen.

Der Prozess soll bis Dezember in dem Saal im Pariser Justizpalast stattfinden, wo bereits die Pariser Anschläge vom November 2015 mit 130 Todesopfern - unter anderem beim Konzert im "Bataclan" - bis zum Juni 2022 verhandelt wurden. Wie wird der Prozess um den Terroranschlag in Nizza ablaufen?

Im Prozess wird alles in die englische Sprache übersetzt und per Video aufgenommen, damit man auch für die Geschichte später genau weiß, wie er abgelaufen ist. Es wird ohnehin im Prozess vornehmlich darum gehen, den Opfern ein Spracherecht einzuräumen, damit man deren Geschichte hört. Es gibt keine Anklagen wegen Beihilfe zum Mord, sondern wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen, beziehungsweise kriminellen Vereinigung. Der französische Justizminister sagte, es sei jetzt wichtig, den Opfern zuzuhören und zu wissen, was solche Taten verursachte und welche Leben zerstört worden sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Ulf Morling.

Sendung: rbb24 Inforadio, 05.09.2022, 10 Uhr

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