Hertha siegt gegen Schalke - Überweisung vom Karma-Konto
Hertha BSC zeigt eine der schwächsten Leistungen der bisherigen Saison – und holt dennoch die immens wichtigen drei Punkte gegen den FC Schalke 04. Grund dafür waren die nötige Portion Glück und ein filmreifes Ende. Von Marc Schwitzky
Die Situation, in der sich der FC Schalke 04 derzeit befindet, kennen Hertha-Fans nur allzu gut. Drei Jahre lang durchschritten sie ein trockenes Tal, gepflastert mit Enttäuschung, Schmerz und Häme. Am Sonntagabend aber steht die "alte Dame" beinahe schon ungewohnt am anderen Ende eines Spielverlaufs, der geprägt war von Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten. Trotz einer der schwächsten Leistungen in der bisherigen Saison gewinnen die Berliner mit 2:1. Es ist die Definition eines "Irgendwie"-Sieges und die Rückzahlung des zuvor prall gefüllten Karma-Kontos.
Ganz unterschiedliche Voraussetzungen
Die Ausgangslage war klar: Hertha ging als Favorit in das Spiel gegen den FC Schalke 04. Zwar trennten die beiden Bundesligisten vor dem Spieltag nur zwei Plätze und drei Punkte in der Tabelle, die Ausgangslage war dennoch eine grundsätzlich verschiedene. Trotz nur eines Sieges aus den ersten zehn Spielen ist die Stimmung beim Hauptstadtverein eine deutlich andere als noch in der vergangenen Saison. Grund dafür sind die bisher erbrachten Leistungen, die teilweise begeistern und mit deutlich mehr Punkten hätten belohnt werden müssen.
Schalke hingegen sah sich vor dem Aufeinandertreffen gezwungen, Trainer Frank Kramer zu entlassen. Fünf Pflichtspielniederlagen in Serie, eine völlig verunsicherte Mannschaft ohne ansatzweise erkennbaren Plan brauchte einen neuen Impuls. Kurzum: Um endlich in der Saison anzukommen, musste Hertha dringend einen Sieg einfahren, während Schalke sich nur möglichst teuer verkaufen musste.
Hertha fremdelt mit der Favoritenrolle
So entstand bereits vor Anpfiff eine gewisse Drucksituation für Hertha – das zweite Muss-Spiel seit der Begegnung mit dem FC Augsburg am 5. Spieltag (2:0). Und so wie damals war der Mannschaft die Gemengelage anzumerken. Trainer Sandro Schwarz setzte den Ton bereits mit der Aufstellung, indem er erstmals Stevan Jovetic und Wilfried Kanga zusammen stürmen ließ. Das Duo hatte sich bei der beinahe geglückten Aufholjagd gegen RB Leipzig (2:3) durch Spielwitz, Wucht und Torgefahr ausgezeichnet. "Wir wollen diese Offensivpower auf den Platz bringen", erklärte Schwarz vor dem Anpfiff.
Zwar gehörte Hertha in der 2. Spielminute durch eben jenen Kanga die erste Chance des Spiels, von der erwünschten offensiven Durchschlagskraft war in den ersten 45 Minuten jedoch wenig zu sehen. Viel eher kamen die Gäste in Königsblau mit jeder Minute besser in die Partie. Ohne den Anspruch, viele eigene Momente zu kreieren, konzentrierten sich die Schalker auf ein aggressives, wie sauberes Spiel gegen den Ball – und zogen so Hertha längere Zeit den Zahn. Schalke wirkte von der Trainerentlassung regelrecht wachgeküsst, mit der durchaus mutigen Spielweise wusste man zu überraschen.
Hertha fremdelte hingegen offensichtlich mit der Favoritenrolle, teils unerklärliche Stockfehler im eigenen Ballbesitz sorgten dafür, dass das Momentum immer deutlicher auf die Seite Schalkes rutschte. In der 15. Minute hatten die Berliner sogar größeres Glück, da Schütze Marius Bülter beim vermeintlichen 1:0 der Schalker minimal im Abseits stand. Während Schalkes Verunsicherung im ersten Durchgang immer weiter abnahm, wurde Hertha immer nervöser und passiver. Bei langen Bällen auf die eigene Abwehrkette verteidigten die Blau-Weißen fahrig, das Zentrum hatte Schalke inne und im eigenen Ballbesitz versagten Positionsspiel wie auch Passschärfe.
Angst frisst Seele
Zum Ende der ersten Halbzeit konnte sich Hertha etwas stabilisieren, sodass es mit 0:0 in die Kabine ging. Trainer Schwarz reagierte auf die mehr als durchwachsene Leistung und brachte Marco Richter für den blass gebliebenen Chidera Ejuke. Nur vier Minuten nach dem Wiederanpfiff fiel dann das 1:0 für die Berliner. Ein absolut haltbarer Distanzschuss von Lucas Tousart rutschte Ex-Herthaner Alexander Schwolow unglücklich ins Netz – aus dem Nichts die Führung.
Doch auch das Tor sollte Herthas Leistung nur bedingt stabilisieren. Zwar wirkten die Berliner nun etwas aggressiver und handlungsschneller, ein Schalke, das sich nach dem Rückschlag sichtlich erst einmal schütteln musste, wurde jedoch kaum weiter unter Druck gesetzt. Wie schon bei der Partie gegen den FSV Mainz 05 (1:1) wurden die Berliner Köpfe von dem Gedanken dominiert, die Führung irgendwie über die Zeit zu retten. Die Angst, doch noch den Ausgleich zu kassieren war erneut größer als der Mut, die Führung aus der eigenen Kraft heraus auszubauen. Hertha wirkte gelähmt, ständige technische Fehler im eigenen Ballbesitz oder bei aussichtsreichen Umschaltmomenten holten Schalke zurück in die Begegnung.
So spielten die Hausherren exemplarisch eine perfekte Kontergelegenheit in der 78. Minute so unpräzise aus, dass es nicht einmal zum Abschluss kam. In der 85. Minute die Quittung: Florent Mollet erzielt, nachdem Hertha abermals zu passiv verteidigte, den 1:1-Ausgleich.
Kanga mit dem "perfekten Moment"
An diesem Punkt hätte die Partie auch zu Ende erzählt sein können – doch sie hatte noch eine spektakuläre Wendung parat. In der 88. Minute gewann Jonjoe Kenny den Ball in der eigenen Hälfte, über Dodi Lukebakio und Stevan Jovetic gelangte der Ball in Sekundenbruchteilen beim lauernden Kanga, der die nötigen Meter marschierte und die Kugel zum erlösenden 2:1 versenkte. Ein perfekter Konter. Ansatzlos setzte der Ivorer seinen Sprint fort und stürzte sich in das blau-weiße Meer der Berliner Ostkurve. "Ein perfekter Moment", wie ihn Kanga selbst beschrieb. Da Hertha die anschließenden Minuten schadlos überstand, wurde der erste Heimsieg der Saison eingefahren.
Es ist wohl die Ironie dieses Sports, dass Hertha sich in den letzten Wochen nie für die imponierenden Leistungen mit drei Punkten belohnte und nun mit der schwächsten Darbietung seit dem verlorenen Stadtderby als Sieger vom Platz ging. Genauso ironisch ist es, dass ausgerechnet der bis dahin so glücklose Wilfried Kanga mit seinem Debüttreffer für Hertha den so immens wichtigen Sieg ermöglicht. Nachdem Hertha wochenlang auf das Karma-Konto eingezahlt hatte, war es nun an der Zeit, etwas zurückzubekommen. "Wir haben schon schöner gespielt und am Ende stand ein Remis, jetzt haben wir die drei Punkte geholt – so ist der Fußball manchmal", fasste Torhüter Oliver Christensen zusammen.
Hertha lebt
All die Lobpreisungen für die zuletzt erbrachten Leistungen wären so verdient wie wertlos gewesen, wenn auch im direkten Duell mit einem Konkurrenten um den Klassenerhalt kein Dreier heruntergefallen wäre. Fußball wird – diese Erfahrung musste Hertha nun schon mehrmals machen - eben nicht in der B-Note entschieden. Trotz des unstrittig schweren Auftaktprogramms wurden die Stimmen allmählich lauter, dass nun einmal auch gewonnen werden muss. Man wolle "nicht in Schönheit sterben", hieß es vereinzelt aus dem Umfeld. Die erfüllte Pflichtaufgabe, ein nach Schlusspfiff bebendes Olympiastadion und ein vor Rührung weinender Präsident Kay Bernstein zeigen: Hertha lebt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 24.10.2022, 9:00 Uhr