Absturz der Interflug vor 50 Jahren - "Mayday! Kurs 90 Grad, unmöglich Höhe zu halten."
Der Absturz einer Interflug-Maschine bei Königs Wusterhausen am 14. August 1972 ist bis heute das schwerste Flugzeugunglück auf deutschem Boden. 156 Menschen starben. Grund war ein Konstruktionsfehler, doch die DDR-Führung schwieg. Von Benjamin Denes und Andreas Spaeth
Wenn Wolfgang Krüger heute am Rande von Königs Wusterhausen von der Kirchsteig-Siedlung in den Fasanenweg abbiegt, muss er heftig schlucken, derart drastische Erinnerungen werden sofort bei ihm wach. Der heute 83-Jährige, war vor 50 Jahren Tischler und im Nachbarort Senzig bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv.
Am späten Nachmittag des 14. August 1972 wurde er mit seinen Kameraden zu einem Großeinsatz gerufen. Ein Flugzeug des Typs Iljuschin Il-62 der Interflug war vor einer geplanten Notlandung in Schönefeld abgestürzt. Die Flugzeugnase bohrte sich in eine Wiese zwischen Nottekanal und dem Wasserwerk, der Rumpf lag in einem nahen Waldstück.
Den ersten eintreffenden Helfern bot sich ein entsetzliches Bild: In den Baumkronen hingen Leichen, einige waren verkohlt. "Da drüben lag die Spitze der Maschine mit Cockpit und Bordküche", erzählt Krüger, seine Stimme bebt. "Die Küche sollten wir ausräumen. Darin waren noch alle Stewardessen, die sich hier wohl zum Schluss versammelt hatten. Ihre Körper waren intakt."
"Das tut mir heute noch weh"
Dann berichtet Wolfgang Krüger, wie sie damals nach dem Einsatz geweint haben. Noch heute kommen ihm die Tränen, wenn er davon erzählt. Die alten Traumata sind unbewältigt, psychologische Hilfe wurde damals nicht angeboten.
Von Beginn an versuchte die DDR-Führung das Thema klein zu halten. Mehrfach gab es lediglich kurze faktische Beschreibungen der Abläufe und des Brandvorgangs in den Staatsmedien. Auf dem Wildauer Friedhof fand eine Gedenkfeier statt. DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, heute selbst in der Nähe des erst später errichteten Gedenksteins begraben, hielt eine bewegende Rede, berichteten Zeitzeugen. Viele davon gab es nicht. Denn selbst die Angehörigen der Opfer waren weitgehend ausgeschlossen von der Zeremonie. "Zum Trauerakt waren nur fünf Personen zugelassen, wir durften einen einzigen Kranz nehmen", klagt Christa Mertin, die ihre Eltern auf Flug IF450 verloren hatte. "Das tut mir heute noch weh."
Im Heck nahm ein Inferno seinen Lauf
Am 14. August 1972 wollten 148 Urlauber von Schönefeld nach Burgas an die bulgarische Schwarzmeerküste fliegen. Die vierstrahlige Il-62 war mit 168 Sitzen nicht nur das größte Flugzeug der ostdeutschen Flotte. Es konnte auch viel weitere Strecken fliegen als die bisher vorhandenen Maschinen.
Um 16:29 Uhr erteilte der Tower dem erfahrenen Flugkapitän Heinz Pfaff und seiner Besatzung die Startfreigabe. Flug IF450 hob ab. Als man um 16:43 Uhr in 8.900 Metern Höhe an Cottbus vorbeikam, traten erste Probleme mit der Trimmung des Höhenleitwerks auf. Das Flugzeug flog 10 Grad neben dem eigentlich vorgesehenen Kurs. Um 16:44 Uhr wurde daher in Absprache mit der Flugsicherung die Rückkehr nach Berlin-Schönefeld eingeleitet.
Was die Besatzung nicht wissen konnte: Zu dieser Zeit war bereits im Frachtraum im Heck der Maschine ein Feuer ausgebrochen. Dort nahm ein Inferno seinen Lauf, das direkt mit dem Design der Il-62 zusammenhing.
Heiße Luft blies auf einen Kabelbaum, bis er verkohlte
Bei diesem Flugzeugtyp waren alle vier Triebwerke in zwei Paaren nebeneinander hinten am Leitwerk montiert. Um die Kabine zu heizen, wird bei Strahltriebwerken stets Druckluft aus dem Verdichter der Turbinen gezapft. In diesem Fall führte daher die unter Druck stehende Heizluftleitung aus dem Heck in den Passagierbereich.
"Es gab hier Probleme mit den Dichtungen der Leitung, die undicht waren", erklärt Wolfgang Katzer, ein ehemaliger Flugingenieur der Interflug. Daher konnte über längere Zeit wie aus einem Fön extrem heiße Luft ausströmen. 300 Grad heiße Luft blies so lange auf einen benachbart liegenden Kabelbaum, bis dessen nicht brennbare Isolation verkohlte und abplatzte. Dies führte zu Geräteausfällen und Kurzschlüssen schon kurz nach dem Start.
Die Crew wuchs in aussichtsloser Lage über sich hinaus
Um 16:51 Uhr begann die Besatzung damit, fünf Tonnen Treibstoff abzulassen. Das Flugzeug musste leichter werden für die geplante Notlandung in Schönefeld. Über Zossen wurde die Lage dann schnell aussichtslos: Ein Kurzschluss verursachte einen elektrischen Lichtbogen im Heck. Dieser löste eine Kettenreaktion aus, und die Magnesiumlegierungen der Flugzeugstruktur entzündeten sich bei Temperaturen von bis zu 2000 Grad.
Um 16:59 Uhr meldete das Cockpit verzweifelt: "Mayday! Kurs 90 Grad, unmöglich Höhe zu halten." Wenige Sekunden später, um 17 Uhr, funkte der Kapitän ein letztes Mal. "Wir haben Schwierigkeiten mit der Höhensteuerung, steigen leicht und hatten Brand", waren seine letzten Worte.
Inzwischen war die Struktur entscheidend geschwächt. Sekunden nach dem letzten Funkspruch riss das mächtige Leitwerk über Königs Wusterhausen unweit des Flughafens Schönefeld ab. Selbst in dieser aussichtslosen Lage wuchs die Crew noch über sich hinaus. "Die Piloten im Cockpit waren die Helden, weil sie den drohenden Absturz direkt auf den Bahnhof verhinderten", sagt Heinz-Dieter Kallbach, ein ehemaliger Il-62-Kapitän der Interflug.
Die Trümmerteile schlugen um 17:01 Uhr 400 bis 600 Meter östlich des Stadtrands auf. Alle 156 Insassen waren sofort tot. Bis heute ist der Absturz der Interflug. das schlimmste Flugzeugunglück auf deutschem Boden.
Schweigen über die Konstruktionsfehler der Sowjets
Die akribischen Ermittlungen ergaben, dass Konstruktions- und Wartungsfehler vorlagen – beides ging auf das Konto sowjetischer Ingenieure. Intern benannte die DDR-Führung die Vorgänge und Verantwortlichen überraschend klar. Auf öffentliche Schuldzuweisungen wurde hingegen verzichtet, um das Verhältnis zum großen Bruder Sowjetunion nicht zu belasten. Iljuschin setzte bald konstruktive Veränderungen im Heckbereich der Il-62 bei den Nachfolgemodellen zügig um. Das Politbüro wollte die Sache daher auf sich beruhen lassen.
Das offizielle Schweigen segnete der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker im Dezember 1973 mit der handschriftlichen Bemerkung "einverstanden" persönlich ab.
Für noch lebende Anwohner, Augenzeugen und Angehörige ist die Katastrophe von 1972 dagegen auch nach einem halben Jahrhundert noch sehr präsent.
Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 14.08.2022, 19:30 Uhr