Kommentar | Wegners erste Monate im Amt - 100 Tage Multivitaminsaft

Fr 04.08.23 | 06:18 Uhr | Von Sebastian Schöbel
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Kai Wegner, Regierender Buergermeister von Berlin (Quelle: dpa/Janine Schmitz)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.08.2023 | Sebastian Schöbel | Bild: dpa/Janine Schmitz

Versprochen hat die schwarz-rote Koalition "das Beste für Berlin". Nach gut drei Monaten lässt sich festhalten: Ein konservativer "Rollback" war es schon mal nicht - aber auch kein visionärer Neuanfang, kommentiert Sebastian Schöbel.

Wenn ich mit meinen beiden Kindern im Supermarkt vor dem Saftregal stehe, schaffen sie es selten, sich auf eine Sorte zu einigen. Am Ende wird es deswegen fast immer: Multivitaminsaft. Da ist so viel unterschiedliches Obst drin, dass er irgendwie nach nichts Bestimmtem schmeckt. Das löst keine Begeisterung aus, aber auch keinen Streit.

Man könnte also sagen, Kai Wegner ist der Multivitaminsaft unter den Regierungschefs: Er will es allen recht machen, ohne bei irgendwem einen schlechten Nachgeschmack zu hinterlassen. Wegner tanzt auf dem Christopher Street Day, will aber im Verwaltungsalltag nicht gendern. Den Görlitzer Park will er mit Härte "aufräumen", die Schuldenbremse hingegen aufweichen. Immobilienkonzerne wegen fehlender Neubauerfolge oder mangelhaftem Mieterschutz enteignen will er nicht, dafür aber noch mehr Wohnberechtigungsscheine verteilen, auch an Menschen mit mittleren Einkommen.

Und im Doppelhaushalt wird einfach überall etwas draufgepackt, statt signifikant zu sparen, auch wenn dafür die letzten Reserven aufgebraucht werden müssen.

Die Vision fehlt

Aus Wegners Sicht ist das der pragmatische, verbindende und "unideologische" Weg, den er versprochen hat: Ein fruchtiger Cocktail mit ein bisschen von allem für jeden, der am Ende irgendwie undefinierbar schmeckt. Aber das Glas ist voll.

Eine konkrete Vision ist bei Wegner hingegen nicht zu erkennen. An der könnte man sich ja reiben, sie könnte für Konflikte sorgen - was Wegner offensichtlich vermeiden will. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass dieser schwarz-rote Senat die unbequemen Themen, etwa die Schuldenlast oder die Vergesellschaftungsfrage oder die Verkehrswende, umschifft, um sich möglichst gut für die Wahlen 2026 zu positionieren.

Die großen Herausforderungen kommen noch

Dass es auch anders geht, dass hinter verschlossenen Türen durchaus kontroverse, ideologische Vorstellungen lauern, hat allein Verkehrssenatorin Manja Schreiner erkennen lassen - weil sie ungeschickt war. Am Ende blieb von der Überprüfung diverser Radwegeprojekte nämlich nichts Zählbares übrig, außer dem Eindruck, dass die CDU den Abschied von der autogerechten Stadt eben doch hinauszögern will, so oft sie auch das Gegenteil behauptet. Es war in den ersten 100 Tagen allerdings auch der einzige geschmackliche Ausreißer im schwarz-roten Saftgemisch.

100 Tage sind allerdings auch keine sinnvolle Messlatte, schon gar nicht bei den großen, langfristigen Herausforderungen, die auch dieser Senat bewältigen muss. Es werden aber die Situationen kommen, in denen Wegner den Berlinerinnen und Berlinern politisch etwas einschenken muss, was wirklich nicht allen schmeckt - vielleicht sogar sehr vielen.

Etwa die Erkenntnis, dass seine versprochene Verwaltungsmodernisierung mitnichten so schnell umzusetzen ist, wie erhofft, weil zum Beispiel die elektronische Akte ein Desaster ist. Oder wenn die sich Lage am Wohnungsmarkt von bedenklich zu katastrophal verändert und der Neubau endgültig den Anschluss an den Bedarf verliert.

Dann tut es Multivitaminsaft nämlich nicht mehr.

Sendung: rbb24 Abendschau, 03.08.23, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

44 Kommentare

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  1. 44.

    Ein bestechlicher Bürgermeister in Berlin?
    Manch einer ist sich für die übelste Unterstellung nicht zu schade!

    Übrigens, die Parteispende an die CDU ist geklärt worden, es gab keine "Einflussnahme".
    Außerdem, eine Bestechung steht immer im Zusammenhang mit Ausübung eines Amtes, und Herr Wegner ist erst seit 100 Tagen im Amt.

  2. 43.

    An die Mär vom unbestechlichen Bürgermeister zu glauben, ist genauso naiv, wie an eine unabhängige Justiz. Natürlich gibt das keiner zu, dass Interessen und damit auch verbundene Konflikte hier eine große Rolle spielen. Erinnert sei an die Fußball-Schande von Gijon 1982. Da gab es auch keine Absprachen, aber jeder wusste, was zu tun ist und wie er sich verhalten muss.

  3. 42.

    Wegner war immer ein Langweiler und wird auch immer einer bleiben. Seine netten PR-Bildchen werten ihn nicht auf.

  4. 41.

    Sowas kann man parallel lösen, ist keine Raketenwissenschaft, man muss nur die richtigen Weichen stellen.

  5. 40.

    Es wird wohl niemand annehmen, dass Wegner wegen seiner hervorragenden Agenda oder wegen seiner hervorragenden politischen Performance gewählt wurde.

  6. 39.

    Also Multivitaminsaft kann auch sehr herb sein und muss nicht nur aus süßen Früchtchen bestehen. Die Geschmacksrichtung Zitrone/Limette/Knoblauch gibts dann bei den "Bad News".

  7. 38.

    Das gesellschaftliche Klima in Deutschland?
    Die Gesellschaft, die ist für die derzeitige hiesige Spaltung hauptverantwortlich, leider reagiert die Politik nur noch..

  8. 36.

    Vor allem haben die Bürger ein Recht auf einen unbestechlichen Bürgermeister. Gröner hat noch immer nicht eine eidesstaatliche Erklärung abgegeben.

  9. 35.

    Diese Biosphäre, ist in Wahrheit eine Großstadt mit bereits 3,8 Millionen Einwohnern und jährlichen Zuwachs um ca 20- 30 Tausend weitere., und diesen Tatsachen muss sich die verantwortliche Politik endlich stellen, und nicht die von Ihnen beschriebene Vogel-Strauß Politik betreiben. Die Bürger haben ein Recht darauf!

  10. 34.

    "man diskutiert hinter verschlossener Tür und trägt es dann gemeinsam!"

    Nicht einfach den Satz "halbieren"!
    M.E. ist das "trägt es dann gemeinsam!" DAS entscheidende.
    Die Menschen haben keinen Bock mehr jeden Tag eine "Neuerung" von wem auch immer zu hören und erst dann wird öffentlich diskutiert bzw. zurückgerudert.
    Mitunter weiß keiner mehr, was nun eigentlich zur Diskussion steht ...
    Und dies hat nichts mit "Hinterzimmerklüngeleien und Intransparenz" zu tun.

  11. 33.

    Die Klimaziele sind bereits klar geregelt, und zu erfüllen.
    Berlin hat aber akute Probleme, die keinen Aufschub mehr dulden, und endlich gelöst werden müssen, mit oberster Priorität!

  12. 32.

    Ja auch Berlin gehört klar zur Biosphäre der Erde und natürlich müssen die Länder vereinbarte Ziele zur Senkung der Treibhausgasemissionen erfüllen. Das werden nun zusätzliche aber dringende Aufgaben gerade in versiegelten Großstädten wie Berlin.
    Eine Vogel-Strauß-Politik wird zukünftig in Verbindung des eintretenden Wohlstandsverlustes bei einem Weiterso auch durch den Wähler bestraft. Aber ich denke dass das Wegner verstanden hat.

  13. 31.

    Herr Wegner ist für Berlin verantwortlich, und daraus ergben sich klare Prioritäten: eine funktionierende Verwaltung herstellen, Bildungssektor auf die Höhe der Zeit bringen und sozialen Wohnungsbau ankurbeln.

  14. 30.

    Die fossile Sackgasse, sie bleibt ja nur übrig bei Atomaustieg und Zappelstrom. Das Problem liegt in der fehlenden Speicherkapazität. An allen Juli-Sonntagen überstieg das Stromangebot deshalb die Nachfrage, der Strompreis an der Börse kippte ins Negative. Besonders drastisch am 2. Juli: An diesem Tag bekam jemand, der im Ausland eine Megawattstunde aus Deutschland abnahm, an bestimmten Stunden noch 500 Euro obendrauf.

  15. 29.

    Sie haben scheinbar nicht viel Ahnung.
    Wohl wissen sie auch nicht, dass in Krakow 200k US Amerikaner leben. Die Slowakei, die Tschechische Republik, Finnland und auch Ungarn, sind neben der Republik Polen hoch interessante Länder.
    Sie bieten Komfort, zeitgemäße Kommunikationsmöglichkeiten und Lebensqualität.
    Lebensqualität ist von besonderer Bedeutung.
    Ich kann nicht erahnen, ob sie das Wort Lebensqualität und die Bedeutung davon adäquat interpretieren können.
    Die meisten Leute in Deutschland sehen Osteuropa aus dem Augenwinkel der 90er Jahre.
    Das ist der selbe Augenwinkel, der zu Überheblichkeit und letztlich zu Nachlässigkeit im eigenen Land führt.
    Das kann man heute alles hautnah und in Echtzeit erleben.
    Deutschland träumt sich in den 100jährigen Schlaf...

  16. 28.

    "Budapest, Krakow, Prag oder (nach Kriegsende) St. Petersburg, Kiew uns so weiter...
    Nationalistische Strömungen, Gewalttaten und jegliche Art von Chauvinismus sind schlecht für das gemeinsame Lebensklima und werden mit Verlust zahlungskräftiger aber auch intelligenter Personengruppen verbunden sein, was letztendlich zu einem schlechten Kreditrating auf globaler Ebene führt. "

    Da haben Sie ja tolle Städte/Länder herausgesucht, die aufgrund der dortigen, jetzt praktizierten Politik längst den Anschluss verloren haben dürften. Ist aber nicht so.

    Ungarn, Polen, Russland...die Städte ziehen trotzdem.

  17. 27.

    Konkurrenz schafft Intelligenz
    Viel Vorarbeit für das, was CDU / SPD nun tun, leistete RRG. Das muss klar sein.
    Berlin steht in direkter Konkurrenz zu diversen europäischen Großstädten. Auf dieser Liste sind Städte wie Budapest, Krakow, Prag oder (nach Kriegsende) St. Petersburg, Kiew uns so weiter...
    Die Leute steigen heute später in das Arbeitsleben ein, weil Studium und Praktika viel Zeit fressen. Sie wollen älter werden und in Sicherheit ihre Kinder aufziehen.
    Berlin wird, wie auch Hamburg oder München, in Sachen Modernität und Lebensqualität umdenken, sich anpassen müssen.
    Nationalistische Strömungen, Gewalttaten und jegliche Art von Chauvinismus sind schlecht für das gemeinsame Lebensklima und werden mit Verlust zahlungskräftiger aber auch intelligenter Personengruppen verbunden sein, was letztendlich zu einem schlechten Kreditrating auf globaler Ebene führt.
    Das hat, glaube ich, Wegner verstanden.

  18. 25.

    Multivitaminsaft. Pragmatisch, verbindend und nach der unsäglich grün-linken Vergangenheit endlich unideologisch. Zupackend und ausgleichend. Aus meiner Sicht das was Berlin nach RRG dringend braucht und eine bislang ganz gute Bilanz der ersten 100 Tage.

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