Porträt | Alba Berlins Meistertrainer Aito - Freigespielt

Fr 14.08.20 | 14:10 Uhr | Von Sebastian Schneider, rbb|24
  6
Aito Garcia Reneses, Trainer von Alba Berlin, bei der Siegerehrung nach dem Gewinn des Doubles aus Pokal und deutscher Meisterschaft am 28.06.20 in München (Quelle: imago images / Eberhard Thonfeld).
Bild: imago images / Eberhard Thonfeld

Aito Garcia Reneses wagte im Alter von 70 Jahren ein Abenteuer im Ausland: Er hob Alba Berlin auf ein neues Niveau. Mit dem Pokal und der deutschen Meisterschaft hat er seine Mission gekrönt - und macht trotzdem weiter. Porträt eines besonderen Lehrers. Von Sebastian Schneider

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis

Hinweis: Dieser Text wurde erstmals am 14.08.2020 veröffentlicht. Autor und rbb|24-Redakteur Sebastian Schneider ist für seinen Text in der Kategorie "Beste Sportreportage" für den diesjährigen Reporterpreis nominiert.

Er ist außerdem in der Kategorie "Beste Lokalreportage" nominiert.

Im Alter von 73 Jahren, sechs Monaten und neun Tagen wird Aito Garcia Reneses zum ersten Mal deutscher Basketball-Meister, aber das sieht man ihm nicht an. Er steht vor der Bande der fast leeren Münchner Halle, weißes Oberhemd und blaue Krawatte, die linke Hand auf die Hüfte gestützt. Als die Schlusssirene Tatsachen schafft, dreht er sich nach links und läuft den Verlierern entgegen, gibt ihnen die Hand und nickt ihnen kurz zu: Gutes Spiel, gutes Spiel, gutes Spiel, gutes Spiel. Nicht weit entfernt hüpfen seine Berliner Basketballer auf dem Parkett herum, sie schreien sich an, das Glück springt aus ihren Gesichtern.

Bei der Siegerehrung hängt der Trainer jedem eine Medaille um, er umarmt seine Spieler vorsichtig, klopft ihnen mit der Hand auf den Rücken. Sie gucken ihn an, wie Schüler einen Lehrer angucken, der sie durch den Abschluss gepaukt hat. Alba hat es geschafft. Garcia Reneses lächelt an diesem Junitag mit geschlossenen Lippen. Sein Blick sagt: Ich war, wo ihr jetzt seid. Das ist euer Moment, nicht meiner.

Ästhet des freien Spiels

Alejandro Garcia Reneses ist einer der höchstdekorierten europäischen Basketballtrainer der Geschichte, aber vor allem ist er ein Ästhet des freien Spiels. Der Spanier hat fast jeden wichtigen Pokal gewonnen - aber um Titel ging es ihm nie. Reneses ist der Überzeugung, dass kein Spieler jemals auslernt. Er hat diese Überzeugung nie für seinen Job oder zumindest den nächsten Sieg geopfert und das macht ihn zu einem außergewöhnlichen Coach. So brachte er auch Alba Berlin den Erfolg zurück.

Manche Trainer verstehen Basketball, als wären die Akteure auf dem Feld dribbelnde Schachfiguren. Sie geben in jedem Angriff vor, wer als nächstes an exakt welcher Stelle den Ball bekommen soll um zu werfen. Sie misstrauen der Kraft der Intuition. Man kann damit sehr erfolgreich sein. Aber Aito hat Basketball so nie gesehen.

"Ich wollte das Spiel in jedem Moment genießen. Ich wollte nichts anderes", sagt er.

Was ich von ihm gelernt habe? Ich habe gelernt, Basketball zu spielen.

Der frühere Alba-Profi Spencer Butterfield

Spanischer Vizemeister und Entwickler einer Anzeigetafel

Geboren wird Alejandro als Sohn einer Apothekerin und eines Arztes 1946 in Madrid. Schon bald rufen ihn alle nur bei seinem Spitznamen Aito. Seine Eltern interessieren sich nicht für Sport, aber sie schärfen ihm und seinen Geschwistern ein, immer ihr Bestes zu geben, erinnert er sich. Als zehn Jahre alter Schüler entdeckt er das Spiel, dem er sein Leben widmen wird. Bei Estudiantes wird er ausgebildet, mit dem Klub seiner Heimatstadt bringt er es zum spanischen Vizemeister. Daneben trainiert er die Minis.

Aito wechselt 1968 zum großen FC Barcelona und wird dort Kapitän. Nebenbei studiert er Physik und Telekommunikation, um nicht dauernd bloß an Basketball zu denken. Er entwickelt Spaniens erste elektronische Anzeigetafel für Sporthallen, viel billiger als die importierten Dinger aus den USA. Bald hängt sie in 30 Arenen. Er erzählt das noch heute gerne, das merkt man ihm an.

Aito Garcia Reneses (links), heutiger Cheftrainer von Alba Berlin, Anfang der 60er Jahre als Spieler von Club Baloncesto Estudiantes Madrid (1963-1968) (Quelle: Club Baloncesto Estudiantes).
Mit zehn verliebt sich Aito in das Spiel auf zwei Körbe. Bei Estudiantes wird er ein ambitionierter Basketballer (links).Bild: Club Baloncesto Estudiantes

Er hört früh auf, weil er seine Grenzen sieht

Auf Fotos aus seiner aktiven Zeit erkennt man ihn sofort. Ein drahtiger Typ mit stechendem Blick, er trägt die Nummer 7. Mittelmäßige Technik, mittelmäßige körperliche Verfassung, trifft kluge Entscheidungen, aber weder ein guter Schütze noch schnell: So beschreibt sich Aito viele Jahrzehnte später selbst [rtve.es]. Schon früh beherrscht er, woran andere Basketballer ihre ganze Karriere lang scheitern: Er erkennt seine Grenzen. Vielleicht hilft ihm das, später die Rolle jedes Einzelnen im Team so gut einzuschätzen, so intuitiv zu verstehen. 1973 hört er als Spieler auf, weil er seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr genügt. Da ist er 26 Jahre alt.

Drei Monate später klingelt sein Telefon. Circul Catolic de Badalona, nicht weit von der katalanischen Hauptstadt, bietet ihm einen Job als Trainer. Er bleibt dort zehn Jahre. Nebenbei spricht er so viel wie möglich mit Basketballlehrern, deren Arbeit er bewundert. Er lernt. "Das Wichtigste ist, verliebt in das Spiel zu sein und viel darüber nachzudenken. Es geht darum, sich alles einzuprägen, nicht nur spektakuläre Aktionen, sondern jede Kleinigkeit”, sagt er einmal. 1985 verpflichtet ihn der FC Barcelona. Zu der Zeit dominiert gerade Real Madrid den spanischen Basketball. Damit ist nun Schluss.

Aito Garcia Reneses (Mitte,aufgehellt), heutiger Cheftrainer von Alba Berlin, Mitte der 60er Jahre als Spieler von Club Baloncesto Estudiantes Madrid (1963-1968) (Quelle: Club Baloncesto Estudiantes)
Nicht schnell, nicht kräftig, kein guter Schütze - aber ein schlauer Spieler, der Spielsituationen vor anderen erkennt: So beschreibt sich Aito (Mitte) später selbst.Bild: Club Baloncesto Estudiantes

Audie Norris wird ein Anderer

Dabei fordert Aito nur selten fertige, teure Stars, sondern ist selbstbewusst genug, mit Jüngeren ins Risiko zu gehen. In den meisten Spielern entdeckt er Fähigkeiten, die andere übersehen haben. Auf Aitos Wunsch holt der Verein den Power Forward Audie Norris. Der hat in der NBA gespielt und war dort für seine Dunks gefürchtet, deshalb reduzieren ihn die Fans auf das Klischee des athletischen Springinsfeld. Aber im Herzen ist er ein anderer. Der Coach erkennt das. "Er hat mir die Freiheit gegeben, meinen Stil zu verfolgen. Ich war ein guter Passer und sehr schnell für meine Größe, ich konnte weiter draußen spielen als nur am Brett. Von Amerikanern waren sie damals gewohnt, dass sie erst werfen und dann fragen", erzählt Norris am Telefon.

Norris' Problem: Seine Knie lassen ihn im Stich. Er ist einer der höchstbezahlten Profis der spanischen Liga, aber fehlt jedes Jahr zwei bis drei Monate. "Andere hätten mich so schnell wie möglich rausgeschmissen. Aito hat mich nie fallen lassen, weil er meine Einstellung kannte. Das ist für mich bis heute unbezahlbar", sagt Norris. Es ist erstaunlich, wie sehr der Trainer von damals dem zu gleichen scheint, der mehr als 30 Jahre später mit Alba den Titel holt.

 

Audie Norris, früherer Basketballprofi des FC Barcelona während der Zet des Trainers Aito Garcia Reneses, im Jahr 2019 (Quelle: privat).
Das Klischee des Dunking-Königs erfüllte Audie Norris durchaus - aber er hatte Potential für viel mehr. | Bild: Privat

Seine Ausstrahlung erlaubt es ihm, nicht laut werden zu müssen

Aito lässt hart verteidigen. Seine Spieler starten koordinierte Gegenattacken, haben sie den Ball geklaut, geht es sofort ab nach vorn. Schon in Barcelona passt er seine Ideen ans Team an, er fordert die Spieler heraus, ihre Gedanken einzubringen. Er hat eine Ausstrahlung, die es ihm erlaubt, nicht laut werden zu müssen. Diese Art habe er nie wieder bei einem Coach gesehen, sagt Norris. Das einzige, was genervt habe: "Er hat im Training immer unterbrochen, um uns zu korrigieren. Selbst wenn wir in einen Rhythmus gekommen sind. Aber würde ich mich darüber beschweren? Vermutlich nicht", sagt Norris und lacht ein tiefes Lachen.

Er lebt heute wieder in Barcelona. Dort trainiert er junge Spieler und bringt ihnen das wichtigste bei, das er gelernt hat: Geduld und den Mut, eigene Entscheidungen zu treffen.

Mehrmals nimmt er sich ein Jahr Pause

Viermal in Folge wird Aito mit Barca spanischer Meister, dazu kommen zwei spanische und zwei europäische Pokalsiege. Der Grübler, den Journalisten anfangs als naiv und übertrieben stur kritisiert haben, ist jetzt ein Gewinner. Das gibt ihm ausreichend Kredit, sein Ding zu machen. Er fördert die späteren Weltmeister Juan Carlos Navarro und Pau Gasol, Spaniens goldene Generation.

Aito tut dabei etwas Eigenartiges: Er spricht mit den jungen Männern darüber, Zeitung zu lesen, Kreuzworträtsel zu lösen, wie man an der Börse investiert. "Er betonte einfach den Wert eines Lebens und einer Bildung außerhalb von Basketball. Am Ende des Tages sind Trainer nicht nur auf der sportlichen, sondern auch auf der menschlichen Ebene Lehrer", sagt Pau Gasol rbb|24 heute über seinen Mentor. Gasol spielt seit 20 Jahren in der NBA, er hat eine unfassbare Karriere hingelegt. Wie wichtig Details auf dem Feld sind, lernte er von Aito. "Er ist ein Student des Spiels. Er arbeitet noch heute im Sommer mit Kindern genauso wie mit Profis. Das zeigt dir, wieviel Leidenschaft er hat", sagt Gasol.

Ein einfacher Typ aber ist dieser Trainer keinesfalls, bei aller Zurückhaltung scheint er seinen Wert sehr genau zu kennen. Er schmeichelt weder Journalisten noch Fans, sondern pflegt eine bewusste Distanz [es.sports.yahoo.com]. Wird ihm der Zirkus zuviel, oder hat er Stress mit der Vereinsführung, steigt er aus. Mehrmals in seiner Karriere macht Aito ein Jahr Pause, arbeitet als Fernsehkommentator und Vereinsmanager. Er lernt das Geschäft von allen Seiten kennen. Von außen begreift er, wo sein Platz ist.

Archivfoto vom 08.08.08: Aito Garcia Reneses, Trainer der spanischen Nationalmannschaft, trifft bei den Olympischen Spielen von Peking seinen Spieler bei Badalona, Jan Jagla, der für die deutsche Nationalmannschaft antritt (Quelle: imago images / Cordon Press/Diario AS).
"Er war ein sehr zurückhaltender Mensch", sagt der Berliner Jan Jagla über seinen Coach (links). | Bild: imago images / Cordon Press/Diario AS

Verfranst im Untergrund

Bei Joventut Badalona fängt er 2002 nochmal neu an. Bei dem Verein, der den Namen "Jugend" trägt, bringt er den frühreifen Point Guard Ricky Rubio im Alter von nicht mal 15 Jahren in der ersten Liga. Rubio hält dem Druck stand. Er entwickelt sich im Laufe seiner Karriere zu einem Weltklassespieler.

In Badalona trainiert Aito auch den Neuköllner Jan Jagla. Der spätere Alba-Profi hält sich damals schon für einen recht kompletten Basketballer. Doch sein neuer Coach bringt ihm bei, wie man den Gegner in der Verteidigung aktiv zu Fehlern zwingt, anstatt nur zu reagieren. Wer vorne frei ist, darf werfen, immer wieder neu auf die Situation reagieren - bis er die beste Lösung findet. "Wenn du für Aito spielst, musst du bereit sein, dein Team vor dich zu stellen. Und du musst eine unglaublich hohe Selbstmotivation mitbringen. Deshalb funktionieren gerade junge Spieler so gut bei ihm. Sie wollen dazulernen und sich beweisen", sagt Jagla heute.

Auch ihm gefällt, dass dieser Coach neben der Arbeit kaum über Basketball redet, sondern lieber über die Natur, Tiere, interessante Gebäude. Einmal sind sie bei einem Auswärtsspiel in Moskau und Aito will seinem Team unbedingt eine besonders schöne Metro-Station zeigen, aber er hat den Namen vergessen. Sie gurken eine Dreiviertelstunde lang durch den Moskauer Untergrund. Sie finden gar nichts. "Das ist eben Aito", sagt Jagla am Telefon und man hört, dass er lächelt.

Porzingis lernt, zu denken wie ein Aufbauspieler

2008 verlässt Aito Badalona, um die spanische Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen in Peking zu trainieren. Er führt sie bis ins Finale. Dort setzen sich die USA erst zwei Minuten vor dem Ende durch. Bei Joventut beerbt ihn sein Assistenz-Trainer, der ähnlich spielen lassen will wie sein Mentor. Aber die Kunst des Don Alejandro lässt sich nicht einfach kopieren. Nach nicht mal einer Saison wird sein Nachfolger gefeuert.

In Sevilla trifft Garcia Reneses 2012 auf den dürren Letten Kristaps Porzingis. Er wirft den 17-Jährigen ins Spiel der Veteranen, probiert ihn auf jeder Position aus, wie er das bei Lehrlingen immer tut [youtube.com]. Eine seiner Devisen lautet: Um etwas zu verbessern, muss man es in kleine Stückchen zerteilen und immer und immer wiederholen. Porzingis ist 2,21 Meter lang. Er lernt zu dribbeln, zu passen und von weit draußen zu treffen – er lernt, zu denken wie ein Aufbauspieler.

Früher hätte man einen Giganten wie ihn einfach unter dem Korb geparkt. Heute ist Porzingis ein Superstar in der NBA, der von überall treffen kann. "Er hatte die Autorität und die Erfahrung, einem jungen Kerl wie mir zu vertrauen, Minuten zu geben und Fehler zuzugestehen", sagt er.

Aito kommt nach Berlin und geht auf Insta

Während seiner Zeit auf Gran Canaria, wo er von 2014 bis 2016 lehrt, hat Aito immer wieder mit dem Scout Himar Ojeda zu tun. Als er danach wieder mal eine Pause einlegt, ruft ihn Ojeda an, der mittlerweile einen neuen Job hat: Als Sportdirektor soll er Alba zurück zum Erfolg führen. Es gebe da ein interessantes Projekt in Berlin, erzählt er seinem Landsmann Aito: Ob er sich das nicht vorstellen könne?

Schon 2005 hat sich Alba Berlins Führung entschieden, etwas anderes zu probieren. Der Klub sucht eine neue Identität. Aus der Not entsteht eine simple Überlegung: In Berlin gibt es zwar nicht besonders viele zahlungskräftige Sponsoren – aber es gibt 3,4 Millionen Einwohner, den Speckgürtel nicht eingerechnet. Es ist das größte Sportlerpotenzial des Landes. Alba schickt Trainer in Schulen und Kitas, in abgeranzte Turnhallen, wo die Lehrer froh über jede Unterstützung sind. So bringen die Basketballer pro Woche 10.000 Kinder mit ihrem Spiel in Berührung. Nach zwölf Jahren Arbeit sind die ersten Talente reif für die Höhenlagen.

Aber um den neuen Boom des Berliner Basketballs glaubwürdig mit dem Anspruch auf Titel zu verbinden, braucht es den richtigen Trainer. Im Sommer 2017, da ist er 70 Jahre alt, nimmt Aito Garcia Reneses seinen ersten Job im Ausland an. In seiner Freizeit spaziert er fortan gerne durch die Parks und Straßen Berlins, fotografiert Schwäne, Turmfalken, den Landwehrkanal. Er legt sich einen Instagram-Account zu. Basketballfotos postet er nie.

Die Macht der Gelassenheit

Aitos Lieblingsplatz in der Berliner Arena ist der Stuhl hinter der Bande. Die Arme verschränkt, die Beine übereinandergeschlagen, sitzt er dann da. Hat er einen Einfall, nimmt er die Kappe seines Eddings ab, steckt sie zwischen seine Lippen wie eine Zigarre und notiert etwas auf dem Taktikbrett. Ob seine Mannschaft mit 10 führt oder mit 20 zurückliegt, verrät sein Gesicht selten.

Der Coach sagt jedem, was er von ihm erwartet. Er spricht leise, damit alle zuhören. Schreit nicht herum, weil sich das abnutzt. Nimmt in Spielen kaum Auszeiten, weil er seiner Mannschaft nicht verraten will, worauf sie selber kommen soll. Taktische Fouls lehnt er ab. Wer nach dem zweiten oder dritten Mal nicht umsetzen kann, was er verlangt, guckt zu. Aber wird nicht vor den anderen gedemütigt. Es gab Alba-Trainer, die das anders handhabten.

"Es gibt zwei Arten von Ratschlägen", beschreibt Aito seine Philosophie. "Eine ist, genau zu erzählen: 'Mach es so oder mach es so.' Die zweite ist: Du sagst nicht viel, sondern machst es vor – und die anderen verstehen, dass es gut und interessant wäre, das auch auszuprobieren. Es ist die beste Art um zu lernen, davon bin ich überzeugt." Man könnte sagen, dass Aito seine Mannschaft auf einen Weg mit vielen Abzweigungen führt. Welche sie wählen, müssen sie alleine entscheiden.

Der jüngsten Bundesligaspieler der Geschichte

Der 16-jährige Franz Wagner wird zum bisher jüngsten Bundesligaspieler der Geschichte, der Abiturient Jonas Mattisseck knallt den Bayern unter dem Getöse ihrer Fans fünf Dreier rein und befördert sie aus dem Pokal. Aito bewerte, was er im Training sehe, nur danach entscheide sich, wieviel man spiele, sagt Mattisseck im Podcast "Got Nexxt" [gotnexxt.de]. Ob einer dann im Ernstfall die Lichter ausschießt oder alles vergeigt, ist erstmal wurscht. Das nimmt den Talenten den Zwang, in den wenigen Minuten, die sie kriegen, ihr Bestes zeigen zu müssen. Der Preis dafür ist, dass Alba auch mal Spiele verliert, die es nicht verlieren müsste.

Dass es Spaß macht mit diesem Trainer, spricht sich rum. Alba bekommt plötzlich Profis, die sonst nicht zu haben wären. Sportdirektor Ojedas Stärke ist es, sie dem Coach genau am richtigen Punkt ihrer Karriere hinzustellen – Mitte zwanzig, gutes Fundament, aber noch kein Dachgeschoss. Weiter entwickelte Spieler kann man sich in München leisten, für Alba wären sie zu teuer. Luke Sikma zum Beispiel ist bei seiner Ankunft sicher kein Schlechter, aber eben noch nicht ansatzweise der Typ, der später den Meisterpott umklammert.

Oder der Kalifornier Spencer Butterfield: Er kann wahnsinnig gut Dreier werfen, aber ansonsten viel weniger als er dachte, fällt ihm bald auf. "Aito brachte mir bei, wie ich meinen Gegner nicht nur körperlich ausspielen, sondern auch mental austricksen konnte. Ich fühlte mich, als ob mein Basketball-IQ extrem nach oben ging", sagt Butterfield, der heute wieder in den USA lebt und dort Häuser verkauft.

Natürlich gab es eine lange Entwicklung in meiner Karriere, aber ich konnte sie nie besonders gut beschreiben. Ich ändere mich bis heute jeden Tag ein bisschen.

Aito Garcia Reneses

Erfolgreich, aber zunächst nicht erfolgreich genug

Die ersten Jahre sind erfolgreich, aber für manchen Kritiker irgendwann nicht mehr erfolgreich genug. Bundesliga, Eurocup, Pokal: Ins Finale finden die Berliner fast jedes Mal, aber dann verfransen sie sich. Ist der alte Aito zu passiv? Zumindest hinter vorgehaltener Hand wird die Frage gestellt. Müsste er vielleicht aktiver eingreifen? Muss er nicht ans Steuer, wenn das Navi streikt? Muss er nicht, findet Aito. Kritik lässt er abperlen.

In der dritten Saison schließlich fällt der Groschen. Alba macht immer noch genug Fehler und steht auf dem vierten Platz. Aber der Gewinn des BBL-Pokals gegen Oldenburg beweist den Männern in den gelben Leibchen, dass sie nicht immer dazu verdammt sein müssen, am Ende bloß artig zu gratulieren. In der Euroleague zeigen sie, dass sie inzwischen mit den Besten mithalten können. Dann kommt Corona.

Die zwei Monate Pause treffen die Berliner weniger schlimm als ihre Konkurrenten. Als das Finalturnier in Münchens Geisterhalle startet, hilft ihnen, dass sie seit Jahren eingespielt sind. Jeder kann übernehmen. Das Team findet Lösungen, egal was die Gegner ihm auch entgegenwerfen. Alba verliert kein einziges Mal. Im Hinspiel des Finals wird Ludwigsburg mit 28 Punkten Vorsprung perforiert. Ein paar Tage später regnet silberblaues Konfetti vom Hallenhimmel.

Alba Berlins Kapitän Niels Giffey (links) hängt seinem Cheftrainer Aito Garcia Reneses nach dem Gewinn der deutschen Meisterschaft am 28.06.20 in München gegen Ludwigsburg die Siegermedaille um (Quelle: imago images / BBL-Foto).Der Kapitän hängt seinem Trainer die Meistermedaille um.

Der 22. Pokal seiner Trainerlaufbahn

In der Münchner Halle ist die letzte Medaille für den Chef. Der Kapitän Niels Giffey hängt sie ihm um und Aitos fast schüchternes Lächeln wird breiter, er sieht Giffey in die Augen und wirkt jetzt stolz. Es ist ein rührender Augenblick. Er hat soeben den 22. Pokal seiner Trainerlaufbahn gewonnen, aber wichtiger ist ihm, dass alle Spieler sich verbessert haben, sagt er. Dass sie den Wert des Teams erkannten. Der Perfektion in manchen Augenblicken nahe gekommen sind, ohne wie Roboter zu spielen.

Der großen Basketballwelt entgeht nicht, was der Señor im Rentenalter mit seinen Jungs geschafft hat. Natürlich haben seine ehemaligen Schüler genau zugeschaut, Porzingis und Gasol, Jagla, Butterfield und Norris. Sein Handy, das er in einem Lederetui am Gürtel trägt, brummt immerfort.

"Es ist schon schade, dass diese Momente so schnell vergehen", sagt Aito am Telefon in seiner Berliner Wohnung, wenige Tage nach dem Triumph. Da überlegt er noch, ob er weitermachen will. "In manchen Augenblicken denke ich daran, ob es jetzt nicht besser wäre, mich etwas mehr auszuruhen", sagt er. Im Dezember wird er 74. Er ist an beiden Augen operiert worden, er spürt sein Alter. Alle wollen wissen, ob er bleibt, aber Aito sagt nix. Bei Alba wissen sie, dass es keinen Sinn hat, ihn zu drängen.

Altersteilzeit mit Spitzenspielern

Nach dem Telefonat fährt er erstmal in den Urlaub. Er bestaunt Surfer im Münchner Eisbach, Fachwerkhäuser in Rothenburg ob der Tauber, Flamingos im Delta des Flusses Ebro, er schnorchelt mit Quallen. Der Lehrer fühlt nach, ob die Liebe zu seinem Beruf noch groß genug ist.

Währenddessen dreht sich das Karussell weiter, wie jeden Sommer: Sechs Spieler verlassen Berlin, die Zeit mit Aito hat ihnen gute Verträge eingebracht. Fünf andere ersetzen sie, auf den ersten Blick sieht es nicht aus, als würde sich Alba verschlechtern. Aus der Ferne beschließt Aito: Er kann ihnen noch was beibringen. Drei Tage vor dem Start der Vorbereitung verkündet der Klub seine Vertragsverlängerung.

Der wichtigste Mann wird Alba noch ein Jahr erhalten bleiben, aber er muss nicht mehr jede Gegnerhand in, sagen wir, Vechta schütteln oder in Belgrad am Gepäckband warten. Ob es wirklich nötig ist, dass er seinen Koffer packt, entscheidet nur er. Seine Assistenten haben gelernt, das Spiel mit seinen Augen zu sehen. Der Altersteilzeit-Aito darf ihnen dann Tipps am Telefon durchgeben, sich ansonsten seinem Werk in der geliebten Trainingshalle sowie Spechten oder Buntmeisen widmen.

Natürlich freue er sich für seine Mannschaft, wenn sie einen Titel gewinne, sagt Aito. "Aber für mich ist nur entscheidend, ob du das Maximum gibst. Das ist der Weg, glücklich zu sein. Er macht dich unabhängig vom Ergebnis."

Falls Ihnen die Bildergalerie ohne Unterzeilen angezeigt wird, klicken Sie bitte hier, um alles zu lesen.

Beitrag von Sebastian Schneider, rbb|24

6 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 6.

    welch eine Freude, diesen Text über diesen großartigen Trainer zu lesen.

  2. 5.

    Seit 30 Jhren bin ich in verschiedenen Positionen mit diesem wunderbren Sport verbunden.
    Ich habe nie annährend so einen wunderbaren Trainer und Menschen erlebt.
    Danke für den tollen Artikel.

  3. 4.

    Ja, für mich ist es vor allem die Begeisterung, die Aito entfacht ... bei Spielern und Zuschauern.
    Es ist die Intuition, die sein Denken und Handeln für Basketball leitet.
    Analyse und Statistik spielen Nebenrollen.
    War selbst 41 Jahre lang aktiv auf dem Spielfeld ... und nebenbei auf Korbjagd.
    Was ich oben gelesen habe, spricht mir aus dem Herzen.
    Ein toller Sport gewinnt weiter durch Aktive, die sich Aito's Einstellung zum Vorbild nehmen.

  4. 3.

    Fantastisches Portrait dieses großartigen Menschen, der uns den schönsten Sport der Welt noch einmal attraktiver und mit sehr viel Spielfreude versehen, präsentiert hat. Das dies auf einer außergewöhnlich menschlichen Ebene geschehen ist, ist aller Ehren wert und passt als positives Beispiel vorzüglich in die heutige Zeit!
    Danke für diesen Beitrag.

  5. 2.

    ein toller artikel, vielen dank dafür!!!

  6. 1.

    Ein sehr schöner, menschlicher Beitrag über eine interessante Persönlichkeit. Danke.

Nächster Artikel

Das könnte Sie auch interessieren

Pal Dardai
IMAGO/Matthias Koch

Hertha empfängt den Club - Topspiel im Tabellen-Niemandsland

Hertha und der 1. FC Nürnberg zeigen bislang einen ähnlichen Saisonverlauf. Nach Aufs und Abs stecken beide jungen Teams im Mittelfeld der Tabelle fest. Doch nach dem furiosen 5:2-Sieg gegen Schalke schöpfen die Berliner noch einmal Hoffnung.