Babyboomer gehen in Rente: Blick ins Ausland - So gehen andere Länder mit dem Fachkräftemangel um

Do 27.10.22 | 06:05 Uhr
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Symbolbild: Eine Baustelle mit Bauarbeitern von oben, OWien, Österreich (Quelle: dpa / McPHOTO).
Video: rbb24 | 26.10.2022 | Interview mit Holger Seibert | Bild: blickwinkel

Deutschlands Bevölkerung altert. Das wird sich deutlich bemerkbar machen: In den nächsten zehn Jahren gehen die geburtenstärksten Jahrgänge in Rente. Was tun andere Länder gegen die Fachkräftelücke - und was kann sich Deutschland abschauen?

Polen

Auch die polnische Bevölkerung wird älter - ziemlich schnell sogar: in den vergangenen zehn Jahren um über drei Jahre auf jetzt durchschnittlich 42,7, hat das polnische Statistikamt vor Kurzem mitgeteilt. Das heißt: Mehr als jeder und jede Fünfte in Polen ist inzwischen im Rentenalter. Trotz Arbeitskräftemangel hatte die polnische Regierung das Rentenalter erst 2017 heruntergesetzt: auf 60 Jahre für Frauen, 65 Jahre für Männer. Aber die Arbeitslosigkeit ist niedrig und der Bedarf an Arbeitskräften hoch, auch weil nach wie vor viele Polinnen und Polen im Ausland arbeiten.

Deshalb ruft dieselbe Regierung jetzt Rentnerinnen und Rentner dazu auf, länger zu arbeiten. Das tun auch immerhin knapp 40 Prozent der Über-60-Jährigen - weil sie noch keine Lust auf Ruhestand haben, oft aber auch, weil die Rente sonst schlicht zu niedrig wäre. Auf die frei werden Arbeitsplätze sind bisher vor allem Menschen aus der Ukraine nachgerückt. Weil aber seit Februar mehrere Zehntausend Ukrainer Polen verlassen haben, um in der Ukraine gegen das russische Militär zu kämpfen, fangen polnische Unternehmen jetzt an, sich woanders auf dem Planeten umzuschauen: in Südamerika, in Asien und auch in afrikanischen Ländern.

Allerdings stehen die nationalkonservative Regierungspartei "PiS" und ihre Koalition, die sich "Vereinigte Rechte" nennt, für eine sehr restriktive Migrationspolitik. Während es für Menschen aus der Ukraine, aus Belarus, Georgien, Moldawien, Armenien und bis zum Angriff auf die Ukraine auch aus Russland vereinfachte Einwanderungsverfahren gibt, beklagen polnische Unternehmen, dass dringend benötigte Arbeitskräfte aus anderen Ländern zu langsam ins Land ins Land kommen und die Zahl der erteilten Arbeitsgenehmigungen sogar zurückgeht.

Martin Adam, ARD-Studio Warschau

Japan

In Japan ist nahezu ein Drittel der Menschen über 65 Jahre alt, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Die Gesellschaft altert rasant, Babys werden hingegen kaum geboren. Ein kleines Plus: Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch aus einem eigenen Selbstverständnis heraus wollen 40 Prozent der Japaner bis ins hohe Alter weiterarbeiten, das ergab kürzlich eine Umfrage. Schon jetzt arbeitet mehr als ein Drittel der Über-65-Jährigen – ein weltweiter Rekord. Viele helfen auf Baustellen als Winkemännchen oder in anderen Sicherheitsbereichen.

Weil das aber den Fachkräftemangel in Japan natürlich nicht beseitigt, setzt die Regierung auf ein generell höheres Rentenalter und damit die Unternehmen. Der Haken: Man kann Mitarbeiter bis 75 beschäftigen, muss aber nicht. Daneben setzt man auf mehr Zuwanderung, allerdings bisher aus unterschiedlichen Gründen mit mäßigem Erfolg. In der Altenpflege sollen unterstützend mehr Roboter zum Einsatz kommen – oder wie gerade in einem Heim im Süden: Babys, die den alten Menschen einfach durch ihre Anwesenheit Freude bereiten.

Ein ausgereiftes Konzept gegen den Fachkräftemangel fehlt noch in Japan - bislang scheint man dort auch ein bisschen auf das Prinzip Hoffnung zu setzen: dass die Menschen zuerst sich selbst helfen, bevor sie den Staat um Hilfe nachsuchen.

Kathrin Erdmann, ARD-Studio Tokio

Portugal

Fachkräftemangel gibt es in Portugal vor allem im Tourismus- und Landwirtschaftsbereich. Das sind Branchen, in denen in Portugal traditionell Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien wie Angola und Mozambique beschäftigt sind. Allein im Gastgewerbe könnten 50.000 zusätzliche Menschen arbeiten, teilte die portugiesische Tourismusministerin zuletzt mit.

Anfang des Jahres änderte die Regierung in Lissabon das Einwanderungsgesetz, um zum Beispiel ausländischen Arbeitern in Portugal das Homeoffice zu erleichtern. Ob das mehr Arbeitskräfte angelockt hat, ist derzeit nicht bekannt.

Klar ist aber, dass noch immer viele gut ausgebildete portugiesische Jugendliche lieber auf Arbeitssuche ins Ausland gehen, weil die Jobs in ihrer Heimat entweder zu schlecht bezahlt werden oder schlicht gar nicht da sind. Die Jugendarbeitslosigkeit in Portugal liegt derzeit bei knapp 16 Prozent und damit rund dreimal so hoch wie in Deutschland.

Ein eventueller Fachkräftemangel durch in Rente gehende Babyboomer scheint damit eines der geringeren Probleme auf dem portugiesischen Arbeitsmarkt zu sein. Die Bevölkerung hat ein Durchschnittsalter von 45,8 Jahre, der dritthöchste Wert der EU - nach Italien und Deutschland.

Nicholas Buschschlüter, ARD-Studio Madrid

Frankreich

In Frankreich war der Erwerbstätigen-Schwund lange Zeit kein größeres Thema. Statistisch gesehen bekommen die französischen Frauen 1,83 Kinder und stehen damit an der Spitze der EU, vor Rumänien und Tschechien. Die Regierungspolitik in Paris war seit den 1960er Jahren darauf angelegt, die Bevölkerung zu vergrößern. Familien, die sich für Kinder entscheiden, haben oft gleich drei, weil es finanzielle Vorteile bringt. So hat Frankreich immer noch ein leicht ansteigendes Bevölkerungswachstum und inzwischen knapp 68 Millionen Einwohner.

Bislang gingen die Statistiker davon aus, dass die erwerbstätige Bevölkerung in Frankreich bis ins Jahr 2070 weiter leicht ansteigen würde. Neueste Tabellen zeigen jedoch, dass die Zahl der aktuell 30 Millionen Erwerbstätigen nur noch bis 2040 ansteigen und dann schon langsam abnehmen wird. Gleichzeitig wächst die Zahl der Rentner. Die Babyboomer machen sich auch hier bemerkbar.

Und das ist der Grund, warum sich seit Jahren französische Regierungen darum bemühen, das Rentenalter von derzeit 63 Jahren auf 64 oder 65 heraufzusetzen. Eine entsprechende Rentenreform wird hier von vielen Experten als Schlüssel zum Umgang mit der alternden Gesellschaft gesehen. Auch Präsident Macron hat sich das auf die Fahnen geschrieben. Aber in Frankreich hat die Frage des Rentenalters ein hohes soziales Konfliktpotential.

Cai Rienäcker, ARD-Studio Paris

Österreich

Die gute Nachricht zuerst: Wo Arbeitskräfte fehlen, geht es der Wirtschaft gut - erstmal. Österreich wertet das als Zeichen eines anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs, über die Jahre, und vergleicht sich dabei gern mit Deutschland. Die Nachbarn seien wie Österreich, nur: mal zehn - so formuliert das die für die junge Generation zuständige Staatssekretärin im Kanzleramt in Wien.

Aber die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) hat umfragen lassen: Drei Viertel der Unternehmen, quer durch alle Branchen, jammern über Nachwuchs- und Fachkräftemangel - und mehr als 80 Prozent sagen: Das wird noch schlimmer, wenn die Babyboomer in Rente gehen und die Millenials und dann die Generation Z nicht so recht in die Gänge kommen. Schlimmer für die Arbeitgeber.

Weniger schlimm für die Jungen, die Arbeit suchen und was können. Die könnten Rosinen picken und Bedingungen stellen, ähnlich wie in Deutschland, sagt ein Experte, der verzweifelnden Personalschefs Lösungen verkauft. Er analysiert gern schonungslos: Viele Probleme seien hausgemacht. Wer in der Pandemie nicht eingestellt hat, wer am Personal spart - nicht nur am Geld, sondern an Wertschätzung, flexiblen Arbeitszeiten, Weiterbildungschancen, modernen Arbeitsplätzen - der verliert eben den Wettbewerb um die besten Köpfe und Hände. In der Industrie passiert das genauso wie in der Gastronomie. Damit wären auch schon die Rezepte aufgezählt, die helfen.

Auf der Liste der Wünsche der Wirtschaftskammer, auch an die Regierung in Wien gerichtet, stehen aber andere Dinge: Mehr staatliche Kinderbetreuung, mehr sogenannte "Beschäftigungsanreize", also Druck auf Arbeitslose, leichteres Einstellen von Arbeitnehmern aus Drittstaaten, also eine Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte. Das ist die begehrte Scheckkarte für eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Dieses Detail nur unterscheidet Österreich von Deutschland: Dort heißt die Karte "Blue Card EU" - Blaue Karte also. Anderer Name, gleiche Absicht.

Wolfgang Vichtl, ARD-Studio Wien

Italien

In den nächsten fünf Jahren werden in Italien rund 2,8 Millionen Menschen in Pension gehen. Das ist das eine Problem. Weitaus schwerer wiegt, dass es an Nachwuchs fehlt - in Italien werden kaum noch Kinder geboren. Seit Jahren fällt die Geburtenrate, zuletzt kamen durchschnittlich je Frau 1,24 Kinder auf die Welt. In Umfragen geben die meisten Frauen an, dass es zu schwierig sei, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

Die Furcht vor schädlichen Auswirkungen auf das Arbeitsleben ist groß und alltäglich zu spüren. Die vorherige Regierung unter Mario Draghi hatte daher ein ganzes Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht: Bau neuer Kinderkrippen, höheres und effizienteres Kindergeld, längerer Elternurlaub, finanzielle Anreize für Unternehmensgründungen von Frauen. Auch der jetzigen Regierung unter Giorgia Meloni sind mehr Geburten wichtig, das Familienministerium ist um den Begriff "Natalità" - Geburtenrate ergänzt worden. Doch es wird von einer klaren Abtreibungsgegnerin geleitet, Kritiker befürchten daher die Rückkehr zu einer reaktionären Familienpolitik.

Im Kampf gegen den Mangel an Arbeitskräften hat Italien vor einiger Zeit mehrere steuerliche Anreize geschaffen: Lehrer und Forscher, die in ihre Heimat zurückkehren, müssen weniger Steuern bezahlen. Ebenso Fachkräfte und Arbeitnehmer mit hoher Qualifikation, die vom Ausland nach Italien kommen und hier Steuern bezahlen. Nach der Corona-Pandemie hat sich der Personalmangel verschärft, vor allem mittlere und kleine Unternehmen wie Hotels, Friseure oder auch Kosmetikläden suchen dringend Personal.

Der Ruf nach einer gesteuerten Migrationspolitik wird lauter, freie Stellen im Zufluchtsland Italien könnten mit Migranten aus Afrika oder Asien besetzt werden. Doch bei der jetzigen rechten Regierung steht die "Nazione", das Italienische, an erster Stelle.

Elisabeth Pongratz, ARD-Studio Rom

 

Sendung: rbb24, 26.10.2022, 21.45 Uhr

Schwerpunkt Babyboomer

Das Schaufenster der Firma "Jesse - Wasser & Wärme" in Berlin-Steglitz (Quelle: rbb).
rbb

Fachkräftemangel im Handwerk - Im roten Bereich

Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge verabschieden sich in den kommenden Jahren in Rente. Berufe wie im Bereich Sanitär, Heizung und Klimatechnik sind davon besonders betroffen - Firmen spüren die Lücke jetzt schon enorm. Von H. Daehler und S. Schneider

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9 Kommentare

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  1. 9.

    Habe ich gelesen. Aber warum geht das Japan so an? Ist das eine Mentalitätsfrage? Irgendwie bringt die Information zu Japan nicht wirklich viel für das Thema. Was soll man daraus lernen für uns, und was kann man nicht so machen und warum?

  2. 8.

    Es steht doch da:

    "Ein ausgereiftes Konzept gegen den Fachkräftemangel fehlt noch in Japan - bislang scheint man dort auch ein bisschen auf das Prinzip Hoffnung zu setzen: dass die Menschen zuerst sich selbst helfen, bevor sie den Staat um Hilfe nachsuchen."

    Und selbstverständlich wird Japan ein massives Problem damit haben, das ist einfache Mathematik. Bisher scheint das Prinzip "Rentenalter rauf, ansonsten Augen zu und durch" zu gelten, um nur keine älteren Menschen zu vergrätzen. Aktionismus zu unterstellen, wenn man das Problem stärker angeht (und trotzdem auch bei uns zu spät), wird der Tragweite nicht gerecht. Da können Sie sich gerne in Betrieben und bei Arbeitsmarktforschern umhören.

  3. 7.

    Ergänzung: Da meine Frage nach Japan vielleicht nicht ganz klar war. Es wird zwar Japan erwähnt, aber Japan scheint nach dem Artikel nicht so richtig ein akutes Problem damit zu haben. Irgendwie ist die Information zum Thema aus Japan inhaltlich dünn oder es ist wirklich nur ein deutsches Problem, darin ein nahezu unlösbaren Problem zu sehen, daß sofort durch viel Aktionismus angegangen werden muß.

  4. 6.

    Wie macht das eigentlich Japan? Die haben eine noch viel ältere Bevölkerung.

  5. 5.

    Da haben sie wohl die Betitelung "Winkelmänchen" missverstanden, die sind nicht als ausführende Bauarbeiter auf den Baustellen tätig, sondern, als erfahrene Fachkräfte, führen sie andere wichtige Dienste auf den Baustellen aus.

  6. 4.

    Genau das haben Tochter- und ander Spar- Unternehmen so gewollt.
    Viele wissen noch nicht einmahl warum sie in diesen Unternehmen Arbeiten viele bleiben wegen ihrer Kollegen. Nicht wegen ihrem Subunternhmen oder wegen deren Tariflichen Konditionen. Mit noch mehr Fremdsprachlern gehen dise Zusammenhänge und Raffinesse verloren und dass Vergessen der Großunternehmen beginnt.
    Bei den Stellenanzeigen durch Kopieren und imitieren bis dann irgendwann mahl Kracht.

  7. 3.

    Soso, ältere, verrentete Japaner arbeiten auf Baustellen als "Winkemännchen" ! Also, wenn diese Betitelung eines Arbeiters nicht herablassende und absolut geringschätzige Großkotzigkeit eines Schreiberlings ist? Was denn dann? Danke für diese - zudem äußerst "intelligente"- Selbstoffenbarung!

  8. 2.

    So ist es. Wir haben genügend Fachkräfte und Arbeiter, die sollen allerdings billig sein, weil die Arbeitgeber keine normalen Löhne zahlen wollen. Da reichen nicht mal mehr Tochterfirmen und Zeitarbeitsfirmen, es soll noch billiger sein.

  9. 1.

    "Er analysiert gern schonungslos: Viele Probleme seien hausgemacht. Wer in der Pandemie nicht eingestellt hat, wer am Personal spart - nicht nur am Geld, sondern an Wertschätzung, flexiblen Arbeitszeiten, Weiterbildungschancen, modernen Arbeitsplätzen - der verliert eben den Wettbewerb um die besten Köpfe und Hände."
    Viel mehr muss man zu diesem Thema nicht wissen. Die jahrzehntelang gefestigte Ausbeutung der Arbeiter scheint sich zu drehen und das schmeckt der Wirtschaft natürlich gar nicht. Daher wehrt sie sich dagegen mit aller Kraft,indem vor allem überall billigere Arbeitskräfte gesucht werden. Nur viel östlicher als die Ukraine wird es nicht gehen..

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