Konzertkritik | Strawinsky-Abend beim Musikfest Berlin - Energie und Ekstase

Di 14.09.21 | 08:09 Uhr
Der Dirigent François-Xavier Roth bei der Arbeit (Quelle: www.imago-images.de/Pepe Torres)
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Audio: Inforadio | 14.09.2021 | Hans Ackermann | Bild: www.imago-images.de/Pepe Torres

Als Strawinskys "Le Sacre du Printemps" 1913 im Pariser "Théâtre des Champs-Élysées" gespielt wurde, kam es zu Tumulten. Das Publikum verstand das avantgardistische Stück nicht. Am Montag stand es in der Philharmonie auf dem Programm. Von Hans Ackermann

Wie gut, dass der Rundfunkchor Berlin zu den besten europäischen Vokalensembles gehört. Denn anders wäre Igor Strawinskys "Canticum sacrum für Tenor, Bariton, Chor und Orchester" sicher kaum zu bewältigen.

Gleich im ersten Satz lässt der Komponist eine Zwölftonreihe in komplexen Verläufen durch die Singstimmen wandern. Dazu gesellen sich Bläserstimmen aus dem Orchester, die den lateinisch gesungenen Bibeltext mit ihren Instrumenten kommentieren.

Der zentrale mittlere Satz handelt dann von den drei christlichen Tugenden "Caritas", "Spes" und "Fides" - Liebe, Hoffnung und Glaube. Trotz dieser "ewigen" Themen wird das musikalisch von Anton Webern inspirierte Werk nur selten aufgeführt.

Uraufführung in Venedig

Fünf Sätze hat Strawinskys "Canticum" insgesamt – genauso viele Türme wie San Marco in Venedig, der Markusdom, in dem das Auftragswerk 1955 uraufgeführt wurde. In der Hoffnung auf ein großes Spektakel war man damals allerdings enttäuscht, dass die Kantate "zum Lobe des heiligen Apostels Markus", wie es im vollständigen Titel heißt, nur gut 17 Minuten dauerte.

Man könne die Musik für den Schutzheiligen der Stadt ja zweimal hintereinander aufführen und damit die doppelte Spieldauer erreichen - soll der eigenwillige Komponist damals entgegnet haben.

Uraufführung in Berlin

Eigenwillig ist von Beginn an auch das "Concerto en ré" - Concerto in D, Strawinskys Violinkonzert, das mit einem kaum greifbaren Akkord beginnt. Isabelle Faust aber meistert die unbequeme Streckung der Finger der linken Hand und auch alle weiteren technischen Schwierigkeiten souverän. Die Geigerin fühlt sich offensichtlich wohl in dieser Komposition, lächelt immer wieder, wenn sie sich mit ihrer Stradivari durch das aufgedrehte, in der "Aria" auch durchaus lyrische Werk bewegt.

Die vier Sätze, die mit einer turbulenten Toccata beginnen und in einem launigen Cappriccio enden, bilden insgesamt ein neoklassizistisches Concerto, das Folklore und Jazz zitiert und weitere Stilrichtungen der Musikgeschichte mit Witz und Humor als gekonnte Montage vorführt.

Strawinskys kuriose, nie alberne Persiflage der großen Violinkonzerte, wurde vor genau 90 Jahren, im September 1931 in Berlin uraufgeführt, als eine der ersten Liveübertragungen aus dem frisch eingeweihten Haus des Rundfunks, mit Samuel Dushkin als Solist - und Igor Strawinsky am Dirigentenpult.

Energieleistung am Pult

Am Pult steht an diesem Abend ein energiegeladener François-Xavier Roth. Sein 2003 gegründetes Projekt-Orchester "Les Siècles" weiß er am Ende bei "Le Sacre du Printemps" mit sparsamen, aber eindeutigen Gesten völlig zu entfesseln.

Und so erlebt man im gut besuchten großen Saal der Philharmonie in etwa die gleiche klangliche Ekstase, die bei der Uraufführung im "Théâtre des Champs-Élysées" im Jahr 1913 noch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen geführt hat. An diesem Abend bleibt alles friedlich, dennoch geht man durchaus avantgardistisch-aufgewühlt nach Hause.

Beim Musikfest Berlin steht Igor Strawinsky noch bis Sonntag bei verschiedenen Konzerten [www.berlinerfestspiele.de] im Mittelpunkt.

Sendung: Inforadio, 14.09.2021, 06:55 Uhr

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