Lange Nacht der Autor:innen am DT Berlin - Von brechenden Zungen und sprechenden Augen

So 19.06.22 | 12:51 Uhr | Von Barbara Behrendt
Szene aus "Das Augenlid ist ein Muskel" vom Deutschen Theater Berlin (Quelle: Arno Declair)
Bild: Arno Declair / Deutsches Theater Berlin)

Aus 160 Einreichungen hat die Jury der Autorentheatertage drei Stücke ausgewählt. In Kooperation mit Graz und Leipzig wurden sie nun am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Eine Nacht der Sprachkunst. Von Barbara Behrendt

25 Jahre Autor:innentheatertage. Das Alter eines Festivals und dessen gewachsene Tradition ist nicht zwingend gleichzusetzen mit Erfolg. Doch wenn man auf die Liste der Autor:innen schaut, die hier mit einem frühen Text auf die Bühne gebeten, zum Teil erst entdeckt worden sind, liest sich das prominent: John von Düffel ist darunter, Moritz Rinke, Albert Ostermaier – und vor einigen Jahren die heutige Gewinnerin des Mülheimer Dramatikpreises Sivan Ben Yishai.

Viele Namen sind auch vollkommen in der Versenkung verschwunden – was nicht nur mit der Qualität der Stücke zu tun hat, sondern auch mit den unfassbar schlechten Autor:innen-Honoraren und einem Betrieb, der (jedenfalls in Deutschland) die Regisseurin hofiert, nicht die Autorin.

Kein Meisterwerk, aber bemerkenswerte Schreibstile

Werden die drei Namen, die in diesem Jahr der Dramatiker und Juryvorsitzende Ferdinand Schmalz (auch er eine Entdeckung des Festivals) federführend ausgewählt hat, also bleiben? Schwer zu prognostizieren. Ein Meisterwerk ist nicht darunter – aber durchaus bemerkenswerte Schreibstile.

Während die Dramatikerin und Jurorin Dea Loher 2020 dialogreiche Stücke ausgewählt hatte, die einfühlsam Figuren zeichnen und Geschichten erzählen, hat Schmalz die Sprachkunst ins Zentrum gerückt – ohne gewichtige Themen aus dem Auge zu verlieren. Wie er es in seiner Eröffnungsrede angekündigt hatte: "Der viel zu früh verstorbene Wiener Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler hat mal geschrieben, dass man das Thema nur in den Text hineinretten kann, indem man sich aus dem Würgegriff des Themas befreit. Was heißt: Will man ein Thema verhandeln auf der Bühne, braucht es den Umweg über die poetische Form."

Szene aus "Fischer Fritz" vom Schauspiel Leipzig (Quelle: Rolf Arnold)
Bild: Rolf Arnold / Deutsches Theater Berlin

Alliterationen, Reibe- und Bilabiallaute im Fokus

Raphaela Bardutzkys "Fischer Fritz" etwa ist thematisch zwar eher ein Sozialstück, in dem eine junge polnische Pflegerin einen wortkargen alten Fischer in der bayerischen Einöde versorgt. Doch es entwickelt sich über die Sprache und das linguistische Spiel mit ihr. Von Zungenbrechern wie "Fischers Fritz fischt frische Fische" ausgehend entwickelt sie zuerst die gebrochene Zunge der Hauptfigur Fritz, zu Bruch gegangen durch einen Schlaganfall. Und landet bei der gebrochenen deutschen Sprache seines Gegenübers, der polnischen Pflegerin Piotra.

Allerdings merkt man dem Stück deutlich an, dass sich die Autorin mehr für Alliterationen, Reibe- und Bilabial-Laute interessiert als für das Innenleben ihrer Figuren – thematisch wirkt der Text etwas unmotiviert und brav, die naheliegendsten Volten bedienend.

Enrico Lübbes Leipziger Inszenierung setzt ganz auf diesen sprachverspielten, kunstvollen Ton und schafft mit seinen drei bewundernswert zungenbrechenden Schauspieler:innen eine angenehm leichtfüßige Inszenierung, die aber wenig Spuren hinterlässt.

Es spricht der Kloß im Hals

Auch Jorinde Dröse, die Alexander Stutz’ Text "Das Augenlid ist ein Muskel" in der kleinen Box des Deutschen Theaters inszeniert, bedient sich dem comic relief. Sozusagen als Ausgleich zum schweren Thema: Das Stück erzählt auf sehr intime Weise vom Missbrauch, den der heute erwachsene Aaron jahrelang durch seinen Cousin erlitten hat. Der Clou des Dramas liegt in seinen Perspektiven: Weil Aaron die Worte oft nicht über die Lippen gehen, der Horror dafür aber durch seinen Körper, spricht der Kloß im Hals, die Augen, die Muttermale, der Magen: "Was lässt mich, deinen Magen, die ganze Zeit drehen und drehen und drehen und drehen und drehen? Frag deinen Vater! Sag es ihm, los. Lass es raus."

Aarons Trauma steht im krassen Gegensatz zur hübschen familiären Sonntagsidylle, die der Text und auch die Inszenierung beschreiben. Mit Slapstick treibt es die Schauspielerin Hilke Altefrohne allerdings viel zu weit, wenn sie sich etwa durch das mümmelnde Keksefuttern der Großmutter grimassiert. Trotzdem: Mit einem furiosen Paul Grill als Aaron und einem großartig hyperventilierenden Niklas Wetzel als aufgerissenes Auge, sprechender Kaugummi und kleiner Bruder bleibt es die eindrücklichste Inszenierung – und der gelungenste Text.

Szene aus "Judith Shakespeare" vom Schauspiel Graz (Quelle: Lex Karelly)
Bild: Lex Karelly / Deutsches Theater Berlin

Gegenwartsdramatik äußerst lebendig

Kaum mehr als feministisch-aktivistischen Diskurs-Mainstream hat dagegen Paula Thielecke mit "Judith Shakespeare – Rape and Revenge" zu bieten. Dabei ist die Grundidee schön: Die Autorin verarbeitet ein Zitat von Virgina Woolf, die einmal schrieb, es wäre jeder Frau im Zeitalter Shakespeares ganz und gar unmöglich gewesen, Stücke zu schreiben. Thielecke entwirft die Figur Judith Shakespeare, Williams Schwester, die, das ist der Kniff, noch heute keinen Zugang zum Theater bekommt.

Leider hat das Stück schon deshalb Schieflage, weil sich diese Judith stets über den Namen ihres berühmten Bruders Zugang zur Bühne verschaffen will. Neben unzähligen Fäkal-Flüchen hat sie zudem nur dozierende Standpauken zum Thema Gewalt an Frauen parat.

Was Ferdinand Schmalz an diesem Aktivismus-Stück interessiert hat, bleibt bei seinem Faible für Sprachgenauigkeit etwas rätselhaft. Trotzdem hat es sich auch in diesem Jahr als gute Entscheidung erwiesen, den Juryvorsitz einem Dramatiker zu überlassen, der eine eigene Poetik vertritt – statt, wie bis zum Jahr 2019, Theaterkritiker:innen über die Stückauswahl entscheiden zu lassen.

Insgesamt lässt sich sagen: Nach zwei coronabedingt arg ausgedünnten Ausgaben hat das Festival zum Jubiläum wieder voll aufgefahren und vor allem mit großen Gastspielen namhafter Autor:innen über zehn Tage hinweg gezeigt, dass die Gegenwartsdramatik äußerst lebendig ist.

Sendung: rbbKultur, 20.06.2022, 07:10 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

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