Eröffnung im Haus der Berliner Festspiele - Internationales Literaturfestival versucht das Unaussprechliche auszusprechen
Rund 200 Autoren werden zum Internationalen Literaturfestival in Berlin erwartet. Die Veranstaltung mit weltweiter Strahlkraft eröffnete am Mittwoch der belgische Bestsellerautor David van Reybrouck - mit einem eindringlichen Appell an die Welt. Von Corinne Orlowski
Es steht viel auf dem Spiel, eigentlich sogar alles. Es sind zwei Wörter mit fünf Buchstaben beginnend mit K, die die Welt, wie wir sie kennen, im Augenblick zerstören: Krieg und Klima. Darauf macht der nachdenkliche Eröffnungsabend des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) am Mittwoch aufmerksam.
Für Festivaldirektor Ulrich Schreiber ist die Zeit, in der das Festival stattfinde, überschattet "vom Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine, der in jedem Haushalt Europas schon durch die Teuerung zu spüren ist, die längst nicht nur die Energiekosten betreffen." Das werde gravierende geopolitische und kulturelle Brüche zur Folge haben, die auch tief in die sprachliche Kommunikation eingehen und die auf Jahrzehnte nicht mehr rückgängig zu machen sein werden, so Schreiber.
Die Landschaften leer, die Kühlschränke voll
Zur Eröffnung des Festivals hat das ilb den belgischen Starautor David van Reybrouck eingeladen und der eröffnet das Festival mit einem dringlichen Appell. In seiner fesselnden Rede erzählt er von einem Fuchs, der seinen Fluchtinstinkt abgelegt hat, um zu überleben. Er kommt zum Menschen, weil die Landschaften leer, die Kühlschränke aber voll sind.
"Der Sommer 2022 ist der Sommer der Wahrheit. Ich sah Wälder, die zu Asche geworden sind. Ich roch kilometerweit Holzkohle. Ich hörte Geschichten von Wildschweinen, die in Dörfer eingedrungen sind und um Nahrung gebettelt haben und ja, ich spüre immer noch die Zunge des jungen Fuchses an meinen Fingern. Die Hungrigen kommen zu den Schuldigen und die Schuldigen hatten nichts zu sagen - bis jetzt."
Mit Tinder Zeugen ausfindig gemacht
Seit 15 Jahren untersucht der Schriftsteller, Dramatiker und Historiker van Reybrouck den Kolonialismus mit den Mitteln der Oral History, also mit Interviews und Geschichten von Zeitzeugen. Er hat mit Hunderten Menschen im Kongo gesprochen, um die Vergangenheit des Landes zu verstehen. Daraus ist 2012 der weltweite Bestseller "Kongo: Eine Geschichte" entstanden. Ein Sachbuch, so literarisch, dass es sogar mit einem Belletristikpreis ausgezeichnet wurde.
Jetzt war van Reybrouck in Indonesien unterwegs, um mit den Menschen vor Ort über die Dekolonisierungsbewegung zu sprechen, denn Indonesien war das erste Land nach dem Zweiten Weltkrieg, das sich unabhängig machte. Dort hat er sich mit Dorfbewohnern, Fischern und Reisbauern zusammengesetzt, scrollte sich durchs Internet und benutzte Tinder, um Zeugen ausfindig zu machen.
"Wir kolonialisieren die Zukunft"
Van Reybrouck erzählt davon, weil er spätestens in Indonesien eines gelernt hat: Kolonialgeschichte ist nicht nur Geschichte, sie ist Gegenwart. Wir hätten nämlich nichts an unserem Verhalten geändert. "Wir kolonialisieren die Zukunft." Den verschwenderischen Umgang mit den Ressourcen - wobei reiche Industrieländer von der Ausbeutung der Entwicklungsländer profitieren - nennt man heute Klimakolonialismus.
"Wir sitzen nicht alle im gleichen Boot, befinden uns aber im gleichen Sturm." Und auch wenn van Reybrouck keine konkreten Lösungsvorschläge benennt, der Belgier spricht so überzeugend, dass er für seine Forderung, Emissionen zu reduzieren Standing Ovations bekommt.
"Die Menschen eignen sich dieses Jahrhundert mit denselben Gefühlen, mit Rücksichtslosigkeit, mit Gier und Kurzsichtigkeit an, mit der einst Kontinente erobert wurden", macht van Reybrouck deutlich. "Wir plündern unsere Enkelkinder aus, wir berauben unsere Kinder, wir vergiften unsere Nachkommen. Inzwischen passiert alles so schnell, dass wir die Konsequenzen selbst zu spüren bekommen."
Lesung aus ukrainischen Kriegstagebüchern - Zeugnisse des Unsagbaren
Zu spüren ist auch der Krieg gegen die Ukraine an diesem Abend. Die Musikerin Hanna Rabenko spielt zu Beginn des Eröffnungsabends im Haus der Berliner Festspiele auf ihrem ukrainischen Folk-Saiteninstrument, der Bandura. Um die ukrainische Literatur zu würdigen, hat das ilb zu einer "Weltweiten Lesung" aufgerufen. 20 Länder sind dem Aufruf gefolgt, zeitgleich aus Texten ukrainischer Autorinnen und Autoren zu lesen. So war gleich die erste Veranstaltung des Festivals eine Lesung aus ukrainischen Kriegstagebüchern, die seit dem 24. Februar entstanden sind.
Sie sind erste literarischen Zeugnisse des Unsagbaren. Die Schauspieler Ulrich Matthes und Hildegard Schmahl geben den Texten eine deutsche Stimme, zerbrechlich, eindringlich. Wie jenem der Dramatikerin Natalija Woroschbyt, die aus ihrem Heimatland geflohen ist: "Ich nahm das Wichtigste mit, meine Tochter, meine Mutter, die reinrassige Katze Djuscha, die die ganze Autofahrt hindurch stinkt und schreit. Bald sitze ich 30 Stunden am Steuer. Ich fliehe aus Kiew, weil es von Russen bombardiert wird. Ich möchte so gern schlafen, aber gerade hat die Katze ins Auto geschissen, davon bin ich wieder wach."
Bis zum 17. September findet das Internationale Literaturfestival Berlin statt. Erwartet werden 30.000 Besucherinnen und Besucher - im Gegensatz zu den vergangenen beiden Pandemie-Ausgaben wieder überwiegend live.
Sendung: rbb Kultur, 08.09.2022, 8:30 Uhr