70 Jahre Maxim-Gorki-Theater - Wenn Langhoffs "Schwestern" im Boden versinken möchten

So 02.10.22 | 12:01 Uhr | Von Barbara Behrendt
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Fotoprobe: Drei Schwestern von Anton Tschechow im Studio des Maxim Gorki Theaters. Regie Christian Weise Bühne Jeeyoung Shin Kostüme Pina Starke Musik Falk Effenberger Dramaturgie Maria Viktoria Linke. Mit Emre AksÄzoÄülu, Karim Daoud, Tim Freudensprung, Kinan Hmeidan, Oscar Olivo, Falilou Seck. (Quelle: imago images/C. Bach)
Audio: Kulturradio | 30.09.2022 | Gespräch mit Christian Weise | Bild: imago images/C. Bach

Zum 70-jährigen Bestehen möchte das Maxim-Gorki-Theater an alte Erfolge erinnern: die Inszenierung und Verfilmung des Tschechow-Dramas "Drei Schwestern". Regisseur Christian Weise setzt auf nachspielen - und endet in sinnfreien Effekten und Blasen. Von Barbara Behrendt

Die unangenehmste Szene ereignet sich beim Schlussapplaus. Da deutet der Regisseur Christian Weise ins Publikum – normalerweise ein Zeichen dafür, dass ein an der Produktion beteiligter Mensch doch bitte auf die Bühne kommen und sich feiern lassen möge: Doch die beiden Damen, die gemeint sind, kommen nicht.

Und sie klatschen so spärlich, dass es gerade noch als höflich durchgehen kann. Erst als die Intendantin Shermin Langhoff von ihrem Platz in der ersten Reihe aus die beiden Frauen bittet, sich wenigstens am Platz zu erheben, tun sie es schließlich. Da stehen sie für eine Sekunde: Ruth Reinicke, 40 Jahre Schauspielerin am Maxim-Gorki-Theater, bevor sie 2020 das Haus verließ - und Monika Lennartz, ab 1962 ebenfalls viele Jahre lang am Gorki engagiert. Gedankt wird ihnen dafür, dass sie der "Produktion zur Verfügung standen", wie Langhoff es ausdrückt.

Regisseur ohne Interesse an Theater- und Zeitgeschichte

Man kann Reinicke und Lennartz natürlich nicht in den Kopf gucken, doch ihre verhaltene Reaktion auf dieses "Reenactment" der "Drei Schwestern"-Inszenierung von Thomas Langhoff, bei der sie damals selbst tragende Rollen spielten, wirkt jedenfalls verständlich. Schließlich hat der Regisseur Christian Weise mit seinem Abend auf der kleinen Studio-Bühne bewiesen, dass er sich weder für Theater- noch für Zeitgeschichte die Bohne interessiert. Erstens.

Zweitens hat er drei Schauspielerinnen, die damals in den "Drei Schwestern" mitspielten – neben den beiden im Publikum ist das noch Ursula Werner – in eingeblendeten Interview-Schnipseln auf rückwärtsgewandte "Früher-war-alles-besser"-Nörglerinnen reduziert, was ihnen sicher nicht gerecht wird.

Aber der Reihe nach. Das Maxim-Gorki-Theater feiert sein 70-jähriges Bestehen und möchte, zumindest punktuell, in die Geschichte des Hauses blicken. Ein überwältigender Erfolg des Ostberliner Theaters war in DDR-Zeiten Thomas Langhoffs Inszenierung des Tschechow-Dramas "Drei Schwestern". 1979 feierte sie Premiere und wurde bis 1993 ganze 157 Mal gespielt. 1984 kam die Verfilmung der Inszenierung ins DDR-Fernsehen, auch hier führte Langhoff Regie. Bis heute ist die unbedingte Sehnsucht nach Freiheit von den Zwängen der DDR diesem Film unausgesprochen eingeschrieben – ein eindrückliches Beispiel, wie die Kunst ihren Gegenstand ohne sichtbare Aktualisierung politisch auflädt, wie das Theater zum Ort des subversiven Widerstands wird.

Bewundernswert - aber ohne Mehrwert

Was hätte es also nicht alles auszuloten gegeben. Die Frage nach der politisch aufgeladenen Kunst von heute etwa, die im deutschen Theater ja fast ausschließlich als Aktivismus daherkommt. Oder die Frage nach dem "Moskau" unserer Tage: Welche Freiheit, welches Leben wird heute ersehnt? Was lehrt uns die Geschichte? Was lehrt Langhoffs Inszenierung? Man hätte sich auch vorstellen können, dass Schätze aus den Archiven des Theaters dazu beigetragen haben, sich für eine Neubetrachtung der Langhoff-Interpretation zu entscheiden. Aber: nada.

Christian Weise begnügt sich damit, den Film mit einem sechsköpfigen Ensemble zu "reenacten", also Wort für Wort nachzusprechen und nachzuspielen, was auf den kleinen und großen Fernsehern am hinteren Bühnenrand abspult. Dass es sich um ein reines Männer-Ensemble handelt, tut nichts zur Sache - kann man doch unter den Masken und Perücken ohnehin kaum einen Schauspieler erkennen.

Technisch ist es bewundernswert, wie genau die Schauspieler die Texte und Gesten einstudiert haben und wie präzise sie sie mit dem Rücken zum Fernsehbild synchron performen. Doch einen Mehrwert hat das nicht. Denn die Schauspieler treten hier nicht als denkende und fühlende Menschen einer anderen Generation auf, die sich mit dem Film, mit seiner Geschichte, mit der Geschichte der DDR oder des Gorki-Theaters auseinandersetzen, sondern als Kaulquappen in grünen Catsuits, jeder Individualität beraubt, die den Text wie Roboter herunterrattern. Oder so pathetisch aufladen, dass man es für eine Parodie halten kann. Manchmal sogar muss. Später mutieren sie zu Klonen mit blauen 1980er Jahre Perücken. Am Ende treten sie in kosmischen Space-Anzügen auf. Das soll wohl in die Zukunft weisen.

Drei Schwestern von Anton Tschechow im Studio des Maxim Gorki Theaters. (Quelle: imago images/C. Bach)

Sinnfreies Reenactment verbraucht sich schnell

Weil sich dieses sinnfreie Reenactment schnell verbraucht, greift Christian Weise in die Unterhaltungstrickkiste der Pop-Kultur: Da stockt dann das Filmband, so dass Worte oder Szenen vier- oder fünfmal wiederholt werden. Der Live-Musiker am Keyboard wechselt zu Synthie-Pop, zu dem die Schauspieler dann einzelne Zeilen singen oder beinahe rappen. Was da gesagt oder gesungen wird - völlig egal.

Bis irgendwann die Interviews über die Fernseher flimmern - ebenfalls mitgesprochen von den Spielern, was sich als irritierendes Störgeräusch erweist. Thomas Langhoff darf da in einer alten Aufzeichnung noch mal erklären, dass er Tschechow für einen Revolutionär des Theaters hält, nicht aber, warum. Ursula Werner erzählt in einem aktuellen Gespräch, das für Weises Inszenierung geführt worden ist, eine Gastspiel-Anekdote und schließt, dass es "kaum eine Verbesserung zu nennen" ist, "wohin uns die Geschichte bis jetzt geführt hat".

Und Ruth Reinicke endet damit, dass "die Menschen sich immer wieder alles verbauen". Die enttäuschte Hoffnung, die hier mitschwingt, schließt einer der Spieler dann mal eben in einem Halbsatz mit den Revolutionen im Mittleren Osten kurz. Iran oder DDR, ist ja irgendwie alles eins.

Vielleicht ist es nicht so schlimm, dass ein deutscher Theaterregisseur nichts mit deutscher (Theater-)Geschichte anfangen kann. Warum er sich dann allerdings die Blöße gibt, das in der Jubiläumsinszenierung zu "70 Jahre Maxim Gorki Theater" so deutlich auszustellen - es bleibt sein Geheimnis.

Sendung: rbbKultur Radio, 30.09.2022, 16:00 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

1 Kommentar

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  1. 1.

    5 Sterne für den sachlichen, fachlichen , nicht oberflächlichen , qualitativ hochwertigen Kommentar.

    So wünsche ich mir Journalismus .

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