Konzertkritik | Jazzfest Berlin - Erleuchtung und höhere Mathematik

Fr 04.11.22 | 09:08 Uhr | Von Hans Ackermann
Brian Marsella, Pianist im Haus der Berliner Festspiele beim Soundcheck, beim Jazzfest Berlin 2019 (Bild: dpa/Brian Marsella, Pianist im Haus der Berliner Festspiele beim Soundcheck, beim Jazzfest Berlin 2019 (Bild: dpa/POP-EYE/HEINRICH)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.11.2022 | Hans Ackermann | Bild: DPA/POP-EYE/HEINRICH

Das Jazzest Berlin ist eröffnet. Zum Auftakt gab es am Donnerstagabend ein Streichquartett, einen außergewöhnlichen Schlagzeuger und eine komplexe Klang-Collage. Von Hans Ackermann

Beim Eröffnungskonzert der 59. Ausgabe des Jazzfests Berlin im frisch renovierten Haus der Berliner Festspiele steht an diesem Donnerstagabend zum Auftakt des Festivals das Mutterland des Jazz im Mittelpunkt: Aus Chicago und New York kommen die Ensembles, die hier nacheinander in drei ganz unterschiedlichen Konzerten zu erleben sind.

Jazz als Kammermusik - "Hemphill Stringtet"

Der Jazz-Klassiker von Charles Mingus bringt das Streichquartett aus Chicago richtig schön in Fahrt: "Better Git It in Your Soul", diese Aufforderung richtet sich in Mingus’ Original an Saxofone und Posaunen, hier wechseln sich zwei Geigen beim Solo ab.

Wie verwandelt sich der Jazz, wenn er von einem Streichquartett in eine andere Klangwelt transportiert wird? Diese Frage beantwortet die Cellistin Tomeka Reid mit ihrem Hemphill Stringtet durchaus eindrucksvoll. Mit charmanten Grooves, mitreißenden Soli, aber - weil es eben ein Streichquartett ist - natürlich ohne Schlagzeug.

Spiritueller Jazz mit Hamid Drake

Das hat dann aber im zweiten Konzert einen wirklich großen Auftritt. Denn mit dem ebenfalls aus Chicago stammenden Hamid Drake ist hier einer der weltweit phantasievollsten Jazz-Schlagzeuger zu erleben. In der ersten Konzerthälfte schöpft er sein Drumset in jede nur denkbare Richtung aus, legt eine Wolldecke über die Trommeln, erzeugt auf diese Weise geheimnisvoll gedämpfte Klänge, reißt dann den Stoff herunter und lässt die Felle wieder mit voller Wucht klingen - ein Schlagzeugspiel, das man nicht alle Tage sieht.

"Honoring Alice Coltrane"

So virtuos der Beginn, so spirituell die Fortsetzung, wenn der Schlagzeuger sein Set verläßt und nur mit einer einfachen Rahmentrommel im Arm nach vorn tritt.

Mit bloßen Händen erzeugt Drake nun hypnotische Grooves und singt dazu altindische Worte aus dem Sanskrit. Inspiriert von Alice Coltrane, der Pianistin und Sängerin, die Drake als Jugendlicher kennengelernt hat. Ihr spiritueller Umgang mit dem Jazz, erzählt Hamid Drake dem Publikum, habe ihn Anfang der 1970er Jahre geprägt, sei bis heute seine Inspiration.

Coltranes Kompositionen wie "Turiya and Ramakrishna" zählen zu den meistgehörten Stücken des spirituellen Jazz - mit dem die 2007 gestorbenen Musikerin und Ehefrau des Saxophonisten John Coltrane eigentlich eine viel grössere Bekanntheit verdient hätte.

Craig Taborn: Höhere Mathematik

Spiritueller Jazz ist beim diesjährigen Jazzfest einer der Themenschwerpunkte. Ein anderer wird in verschiedenen Konzerten den Einfluss des Folk auf den Jazz untersuchen. In größtmöglicher Entfernung zu folkloristischen Tendenzen bewegt sich an diesem abwechslungsreichen Abend allerdings der New Yorker Avantgardist Craig Taborn.

Die komplexe Klangcollage, die hier in der Besetzung Klavier, Bratsche, Kontrabass und Drumset vorgetragen wird, ergänzt um zahlreiche Geräte der Live-Elektronik, trägt den Titel "Incept Method". Ein Begriff aus der höheren Mathematik, die in der Musik ja schon immer eine Rolle gespielt hat.

Folk trifft Freejazz

Wer nach vier Stunden und drei Konzerten auf der Hauptbühne immer noch nicht genug vom Jazz hat, kann an diesem ersten Abend dann noch auf der Bühne der Kassenhalle Lumpek erleben, eine französische-polnische Formation, die auf hinreißende Weise den Freejazz mit der Folklore verbindet.

Am zweiten Tag wird es dann munter weitergehen, mit "Free Jazz und Gnawa-Grooves", einem Konzert mit Peter Brötzman, Hamid Drake und Majid Bekkas, das um 19:30 Uhr beginnt, vorher eine Performance des Künstlers Sven-Åke Johansson, gefolgt vom zeitgenössischen Klaviertrio-Jazz der Estin Kirke Karja.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.11.2022, 08:55 Uhr

Beitrag von Hans Ackermann

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