Buchvorstellung | "Zwischen Welten" von Juli Zeh und Simon Urban - Was ist los mit der deutschen Debattenkultur?

Sa 28.01.23 | 12:09 Uhr
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Die Moderatorin Marie Kaiser (l-r), und die Autoren Simon Urban sitzen bei der Premiere des Buches "Zwischen Welten" im Großen Sendesaal des RBB. "Zwischen Welten" erschien am 25. Januar 2023 im Luchterhand Verlag. (Quelle: dpa/J. Carstensen)
Audio: rbb24 Inforadio | 28.01.2023 | C. Orlowski | Bild: dpa/J. Carstensen

Der neue Roman von Juli Zeh ist erst diese Woche erschienen – und polarisiert bereits. Am Freitag hat sie "Zwischen Welten" zusammen mit Co-Autor Simon Urban im großen rbb-Sendesaal vorgestellt - und für das Aushalten anderer Meinungen plädiert. Von Corinne Orlowski

Juli Zeh und Simon Urban schreiten winkend auf die Bühne im ausverkauften rbb-Sendesaal und obwohl Zeh sagt, dass sie solche Lesungssituationen nicht so mag, bedankt sie sich bei Radioeins-Moderatorin Marie Kaiser, dass der Abend trotz Streik beim rbb stattfinden kann. "Ich muss einmal ganz kurz sagen, dass wir uns wahnsinnig freuen, dass wir hier sein können. Danke, dass das unter den Bedingungen möglich ist. Der erste Abend mit dem Buch ist etwas ganz Besonderes."

Es ist die Deutschlandpremiere von "Zwischen Welten". Der Roman ist erst vor wenigen Tagen erschienen und hat im Netz schon heftige Kontroversen ausgelöst. Ein Interview mit Zeh und Urban in der "Neuen Züricher Zeitung" hat die sozialen Medien heißlaufen lassen. Aber damit unterstreicht sich im Grunde nur, was das Autoren-Duo mit ihrem Buch aufzeigen wollte: Äußerungen werden aus dem Kontext gerissen, sich empört und eine Debattenkultur verunmöglicht. So zerreiße das Land, vornehmlich in zwei Lager. "Das ist ein akademisches, links-grünes, in Teilen wokes Milieu in der Großstadt und ein ländliches, in Teilen zumindest politikverdrossenes oder -fernes, systemkritisches Milieu auf dem Land", sagt Urban.

Hitziger Schlagabtausch in vertauschten Rollen

Und diese Milieus greifen sie im Roman auf: Da ist Stefan, überheblicher Kulturchef einer großen Wochenzeitung in Hamburg, und Theresa, gestresste Landwirtin auf einem Ökobauernhof in Brandenburg mit Eheproblemen. Zwei Lebenswelten, die gegensätzlicher kaum sein können.

Die zwei Mittvierziger sind alte Studienfreunde. Nach zwanzig Jahren treffen sie sich zufällig wieder und es beginnt ein hitziger Schlagabtausch per Mail und Messenger-Diensten - eben zwischen den Welten, zwischen Mann und Frau, Stadt und Land, Ost und West. "Und das sind auch zwei Berufe, die denkbar gegensätzlich sind", ergänzt Zeh, "Theresa steht morgens um vier mit Gummistiefeln in der Matsche und treibt Kühe in die Melkmaschine, da geht Stefan mit seinen Kulturfreunden gerade ins Bett nach seinem letzten Cocktail."

Online diskutieren sie über die Themen der Zeit: Klima, Gender, Identität, der Ukraine-Krieg. Aktueller geht es kaum. Aber das ist kein klassischer Grabenkampf zwischen links und rechts, eher ein Familienstreit. Und der geht hoch her. Zeh und Urban lesen in vertauschten Rollen. Denn das, versichert Juli Zeh, sie seien wie ein Schreibgehirn gewesen und hätten alles gemeinsam verfasst.

Zeitgenössischer Briefroman als Schreibprojekt

Der schnippische Ton, das Dialogische kommt beim Publikum sehr gut an. Und auch die ruhige und sympathische Art von Zeh und Urban, ihre Vertrautheit. Das Buch wolle ja nicht provozieren, die beiden Autoren auch nicht Stellung beziehen – eher darlegen, wie Kommunikationsverwerfungen entstehen, sagen sie.

Und so verläuft der Abend, auch dank der souveränen Moderatorin Kaiser, ziemlich versöhnlich. Sie kommen auf den Impuls zu sprechen, der am Anfang des Romans stand, die Fragen: Woher kommt die Politikverdrossenheit? Wohin führt der Aktivismus? Dabei hätten beide zu Beginn gar nicht so recht an das Schreibprojekt geglaubt, verrät Juli Zeh: "Als die Rohfassung dann fertig war und wir das Skript von der ersten bis zur letzten Seite vor uns liegen hatten, waren wir beide nicht so richtig in der Lage zu sagen, ob das jetzt lesbar ist", erzählt sie, "es gibt ja auch so wenige zeitgenössische Briefromane. Die Gattung ist ja ein bisschen in Vergessenheit geraten, obwohl eigentlich dieses Kommunikationszeitalter fast schon danach schreit."

Andere Meinungen aushalten, aneinander dranbleiben

Die mündliche Form erhöht die Emotionalität. Auch auf der Bühne. Die Textnachrichten ermöglichen einen ständigen Perspektivwechsel ohne Erzählinstanz. Eindrücklich und humorvoll geht die Kommunikation aneinander vorbei. Und wird vielleicht am Ende doch noch eine Liebesbeziehung daraus?

Zeh und Urban sind sich jedenfalls einig. Sie appellieren daran, dass es durchaus möglich und nötig ist, andere Meinungen auszuhalten, zu diskutieren, aneinander dranzubleiben – so wie Theresa und Stefan. "Wir sprechen die ganze Zeit von Shitstorms und was das mit uns macht. Wir schauen wie Kaninchen auf die Schlange. Aber das hält unser gesamtes Land nicht im Würgegriff. Die meisten Leute sind schlau genug, um entscheiden zu können, welches Buch sie lesen wollen oder nicht, ganz egal was auf Twitter steht. Daran muss man sich nur einmal erinnern und kann wieder etwas tiefer ins Zwerchfell atmen", sagt Juli Zeh zum Schluss.

Dafür gibt es Applaus - und eine endlose Schlange am Büchertisch.

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.01.2023, 08.00 Uhr

36 Kommentare

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  1. 36.

    FRAGEN an 30. AFD Allergiker | Greenland | Samstag, 28.01.2023 | 22:20 Uhr
    "Theresa steht morgens um vier mit Gummistiefeln in der Matsche und treibt Kühe in die Melkmaschine, da geht Stefan mit seinen Kulturfreunden gerade ins Bett nach seinem letzten Cocktail."
    Was machen Sie?
    Das klingt ja alles wie von Kai, Luc, Berliner, Gerd, Jan, ..., der gleiche Schreibstil, die gleiche Denunziation, die gleichen Verunglimpfungen.
    Unter anderen Namen die gleichen kruden Thesen und Pamphläte.
    Sollte es da nicht AFD-Günstling heißen, die machen doch das Gleiche wie Sie: benutzen andere Namen für Ihre sinnfreien Texte. Und bei denen kommt auch nur Grütze raus.
    Zudem glaube ich nicht, dass Sie je mit einem AfDler gesprochen haben. Es sei denn, Sie gehören dazu.

  2. 35.

    Ich würde erstmal sagen, dass es "die Sache" so erstmal nicht gibt, wenn es sich um Umstände handelt, die der Mensch zu verantworten hat. Das klingt hoffentlich nicht als Belehrung, sondern das ist schlichtweg mein Grundverständnis: Überall dort, wo Menschen handeln, gibt es verschiedene Motivationen dabei, die sich einer "sachlichen" Bewertung zumindest ein Stück weit entziehen. Gemessen werden kann Handeln an gesellschaftlichen Übereinkünften und internationalen Vereinbarungen; die Ablehnung von bewusster Tötung bspw. ist bei uns zu 98 % Konsens, bei 2 % nicht unbedingt. ;- (Das ist sowohl in Russland als auch in den USA anders, wo der Waffengebrauch eher ein Mittel der Wahl, als denn eine Ultima Ratio wäre.)

    Über die Abschaffung oder Wiedereinführung der Todesstrafe gibt es bei uns keine Kontrovers; wohl aber darüber, ob neben dem Bühnenstar auch noch die Star:in die Bühne erklimmen soll.



  3. 34.

    Es geht um etwas anderes. Das Kind wusste ja aus der Schule genau, wie es sich mit der Erdrotation um die Sonne verhält u. hat deshalb als vermeintliche Klugheit seine Mutter kritisiert, weil diese den falschen Begriff verwendet hätte. Kinder können manchmal auch neunmalklug sein. ;-

    Ich glaube, dass sich diese Art von Neunmal-Klugheit immer stärker ausbreitet: Es ist die zunehmende Diskrepenz zwischen Demjenigen, was wir wissenschaftlich wissen, was von dieser Warte her zweifellos zutrifft und Jenem, was unsere Anschauung (dagegen) sagt.

    Geling es uns, spielerisch mit der Diskrepanz zw. wissenschaftlich-abstrakten Erkenntnissen einerseits u. tradierten Sinnbildern andererseits umzugehen? Der Bleistift ist auch in den Perioden noch stärkeren Benutzens niemals zu einem Graphit-Ton-Stift geworden, obwohl das doch die beiden wesentlichen Bestandteile von ihm sind und kein Gramm Blei in ihm enthalten ist. Trotzdem gab es keinen Grund dazu, von der Bezeichnung abzugehen.

  4. 33.

    Darf man ihre Idee der Verfahrensweise eines straftätigen Asylbewerbers erfahren?

    Ein AFD Anhänger sagte mal ehrlich zu mir "einfach über dem Mittelmeer aus dem Flugzrug schmeißen."

    Mein erster Einwurf war, dass man aus Flugzeugen im Flug normalerweise nicht aussteigen kann, da meinte er nur, dass man dafür doch A400m hätte.

    Naja ok also Todesstrafe für alle nicht deutschen Straftäter, da hat man schlicht keine gemeinsame Grundlage mehr zur Diskussion.

    Ähnliches gilt für das vehemente Ablehnen von medizinischen Erkenntnissen oder der Leugnung des menschengemachten Klimawandels.

    @RBB: Die Realität der AFD Anhänger darf man nicht schreiben? Es geht darum, dass es für viele Themen keine einfache Lösung gibt wie von "rechts" suggeriert.

  5. 32.

    Tapferer Ansgar

  6. 31.


    ...in der "Neuen Züricher Zeitung" hat..., oh je, oh je..., nicht mal das klappt...

    Die Zeitung heißt "Neue Zürcher Zeitung"! Und das schon seit 12. Januar 1780...

  7. 30.

    Nicht ein bisschen simpel in Großstadt und Land einzuteilen?

    Man könnte auch in Frustrierte und erfolgreiche Glückliche einteilen.

    Dann erwischt man auch die AFD Anhänger in der Stadt und Grüne auf dem Land.

  8. 29.

    Na ich würde meinem Kind erstmal erklären warum die Sonne "auf und untergeht".

    Sonst wäre ein Tag 1 Jahr lang ;)

    PS: Neben dem üblichen Sprachgebrauch könnte man natürlich auch sagen, dass die "Sonne aufgrund der Erdrotation hinter dem Horizont verschwindet"...

  9. 28.

    Interessantes Beispiel, aber ich glaube, heute geht es um mehr als um Begriffe.
    Es geht um Machtwillen, Framing, Machterhalt und damit am Ende auch viel Geld.
    Es wäre für die Gesellschaft deutlich besser, wenn man hart in der Sache debattieren würde und die ganzen Lobbygruppen etwas Abstand von unseren Politikern nehmen würden.
    Und der ÖRR muss seine ausgeprägte Grünen-Freundlichkeit beenden. Wir zahlen nicht für Werbung - sondern Neutralität.

  10. 27.

    Ich habe sie zwar nicht "angesprochen", aber da sie schon beim durchnummerieren sind ...
    Bei Nr. 13 fing es an - unreflektiert.

  11. 26.

    Und ich will noch einen Gedanken ergänzen: mehr als bei einer parteipolitischen Scheidung geht es m. E. um einen Konflikt zwischen einer verwissenschaftlichten und damit zwangsläufig abstrakten Ebene auf der einen Seite und einer anschaulichen, die ggf. mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gänzlich übereinstimmt, sich aber dennoch als Sinnbild erhalten hat.

    Mir ist noch die Konsternierung einer Mutter in Erinnerung, die ihr Kind auf den Sonnenuntergang hinwies, der sich gerade ereignete. Die Antwort des Kindes: "Das stimmt doch garnicht, Mami, die Sonne geht doch garnicht unter, die Erde dreht sich doch um die Sonne!" "Ja, ... , Du hast ja Recht..."

    Keineswegs absurd: Schreiten wir künftig zu gedruckten und elektronischen Kalendern, in denen künftig nicht mehr der Sonnenaufgang und Sonnenuntergang verzeichnet ist, sondern Erdzudrehung und Erdabdrehung die überaus korrekten Begriffe wären?

  12. 25.

    Den Zustand, dass die Meinungen zunehmend polarisiert sind und dass es um einen unsäglichen Streit um Definitionshoheit geht, teile ich. Den Grund dafür sehe ich allerdings zumindest nicht NUR in den Berufsrollen. Das ist auch der Fall; für wesentlicher halte ich die Schnelligkeit und Überhastetheit der Internet-Kommunikation, verbunden mit gefallenen Hemmungen im Vergleich zu einer Von-Angesicht-zu-Angesicht-Kommunikation, selbst auch zum Briefeschreiben.

    Wer seine Beiträge überschaubar hält, ist gut dran. Wo sich eh schon alle munter bis zum Exzess streiten, ist die 51. oder die 103. Meinung dazu eh unwichtig.

  13. 24.

    Es geht in dem Artikel nicht um Rassismus, sondern um die generelle Debattenkultur. Ich habe in einer Antwort an einen Foristen Rassismus kurz als Beispiel angeführt, um dessen Behauptung zu widerlegen. Und "Soso" (#14) hat sich unreflektiert ausgejammert und dabei auch kurz bemängelt, dass Rassismus benannt und im Allgemeinen abgelehnt wird. Aber niemand außer Ihnen hat hier Rassismus zum Thema gemacht.

  14. 23.

    Haben Sie sich Ihr (abwertendes) Urteil über das Buch auf der Grundlage persönlicher Lektüre oder auf der Basis von Artikeln über das Buch gebildet? In letzterem Falle fehlte Ihren Kommentaren die Legitimation: nicht gelesen, aber eine "Meinung". Die Antort hierauf interessiert mich nur hinsichtlich der grundsätzlichen Relevanz Ihrer Beiträge für mich oder andere Leser. (Letztlich ist das Thema Debattenkultur im Kern doch eine Frage von DebattenQUALITÄT bzw. -NIVEAU.)

  15. 22.

    Kaum kommt ein Thema auf den Tisch, bei dem die Meinungen in berechtigter und dankenswerter Art und Weise auseinandergehen lese ich mind. einmal "Rassismus", selbst dann, wenn in den bisher veröffentlichten Kommentaren (15:28h) zu dem Artikel davon nichts lesen war. Dazu möchte ich mal eine Definition des französischen Soziologen und Schriftstellers Albert Memmi in den Raum stellen.
    „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“

  16. 20.

    Das stimmt garnicht was Sie da behaupten, es geht einzig um die Sache.

  17. 18.

    Ich auch, und zwar genau dieses. Und wenn ich es dann gelesen habe, kann ich es nämlich mit meinen eigenen Betrachtungen zur Debattenkultur vergleichen und auch darüber diskutieren, ob der zitierte Satz von Herrn Urban nun These, Quintessenz oder Fazit ist. ;-)

  18. 17.

    "Das Buch wolle ja nicht provozieren, die beiden Autoren auch nicht Stellung beziehen – eher darlegen, wie Kommunikationsverwerfungen entstehen, sagen sie."

    Bei dem Thema, mit den Klischees, dann noch Interview in der NZZ - Anliegen des Buches aka der Autoren ist gescheitert.

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